Berliner Theatertreffen
Die ersten fünfzig Jahre
von Yvonne Büdenhölzer und Thomas Oberender
Erschienen in: Fünfzig Theatertreffen – 1964 –2013 (04/2013)
Assoziationen: Theatergeschichte Berlin Berliner Festspiele
Vor fünfzig Jahren war das Flugzeug noch kein übliches Verkehrsmittel, man fuhr noch nicht Bahn, sondern Eisenbahn und man brauchte viel Proviant und viele Papiere für Reisen zwischen München, Zürich, Frankfurt, Wien, Ulm und Berlin – von Reisen zwischen Hamburg und Berlin (Hauptstadt der DDR), Stuttgart und Leipzig, Dresden und Düsseldorf ganz zu schweigen.
1964: Willy Brandt wird zum Parteivorsitzenden der SPD gewählt, Walter Ulbricht unterzeichnet den Freundschaftsvertrag mit der UdSSR, Martin Luther King erhält den Friedensnobelpreis, im Kino läuft „Mary Poppins“ an. Und im September startet der erste „Berliner Theaterwettbewerb“, ab 1966 bekannt als „Theatertreffen Berlin“.
Peter Zadek ist 38 und kürzlich mit Kurt Hübner nach Bremen gewechselt, der 27-jährige Peter Stein beendet gerade sein Studium und assistiert an den Münchner Kammerspielen, Claus Peymann, ebenfalls 27, probiert sich mit ersten Regiearbeiten am Hamburger Universitätstheater aus. Christoph Marthaler kommt in die Pubertät, Luc Bondy geht in Paris noch zur Schule, Jürgen Gosch ist im dritten Ausbildungsjahr an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Ost-Berlin.
49 Theatertreffen und somit über 500 Inszenierungen später gehören diese damals jungen Männer zu den großen Ikonen des europäischen Theaters des 20. Jahrhunderts. Zadek erhielt in seinem Leben 21 Einladungen zum Theatertreffen in Berlin, Stein und Peymann waren bisher 17-mal zu Gast, Marthaler 14-mal, Bondy und Gosch 13-mal. Hätten sie ohne das Theatertreffen überlebt? Aber sicher. Hätte das Theatertreffen ohne sie überlebt? Wohl kaum. Ein Festival besteht aus seinen Künstlern – und das Theatertreffen darüber hinaus aus seiner Jury von Theaterkritikern, die erste Regiearbeiten etwa eines jungen Studenten Peter Stein sehen, ernst nehmen, erkennen, verstehen, diskutieren, durchsetzen. Dieses Konzept macht das Theatertreffen seit seinen Anfängen aus, und es sichert bis heute seine Unverwechselbarkeit.
Was ist passiert bei diesen fünfzig Theatertreffen und was hat sich verändert in einem halben Jahrhundert Theatergeschichte? Welche Träume wurden geträumt, welche Pläne geschmiedet, welche Lasten abgeworfen? Wie erklärte man sich auf der Bühne die Welt im geteilten Deutschland der sechziger, siebziger, achtziger Jahre, wie in den vereinigten Neunzigern? Für welche Zukunft verausgabten sich die Schauspieler, gegen welche spielten, kämpften sie an? Eine Biografie besteht aus mehr als einem tabellarischen Lebenslauf, und so will auch dieses Jubiläumsbuch weit mehr sein als eine Chronik. In zahlreichen Originalbeiträgen skizziert es die Glücksmomente, die Höhepunkte, die historischen Augenblicke des Theaters ebenso, wie es die Geschichten und Anekdoten festhält und die kleinen Begebenheiten am Rande erzählt, die sich in diesem halben Jahrhundert, sozusagen unter den blühenden Kastanien an der Schaperstraße, zugetragen haben. So wird dieses Buch zu einer Art Familienalbum – voller Erinnerungen, Beobachtungen, Schnappschüsse. Ein Buch gegen die Flüchtigkeit des Theaters.
Ulrich Matthes etwa stößt im Bücherschrank auf das Theatertreffen- Magazin von 1977, sein erstes, und blättert sich durch die Erinnerungen. Hans Neuenfels denkt bei seinem ersten Mal „TT“ an „eine Niederlage, die Albträume übertraf“ – anders Matthias Lilienthal, der sich in jungen Jahren heimlich und vorfreudig am Einlasspersonal vorbeischummelte. Jürgen Flimm beschreibt dagegen Ulrich Wildgrubers Bauchschmerzen, wenn er zum wiederholten Male zum Theatertreffen „musste“: „Oh Gott. Wieder nach Berlin! Da buhen sie mich wieder aus!“
Die großen Bögen der Theater(treffen)geschichte spannen vier Kritiker und ein früherer Intendant, die ausdrücklich aufgefordert waren, „lückenhafte und willkürliche“, kurz subjektive Reminiszenzen zu liefern: Henning Rischbieter und Bernd Wilms lassen Fritz Kortner, Peter Stein, Peter Zadek und Ivan Nagel aufleben, Urs Jenny denkt über das Intendantenkarussell der 80er Jahre nach, über ost- und westdeutsches Theater, während Petra Kohse den Blick auf die Theatererneuerer Frank Castorf und Christoph Schlingensief richtet und Till Briegleb das Theater nach 2000 einordnet.
Fünf große Bühnenbildner der vergangenen fünfzig Jahre, Johannes Schütz, Anna Viebrock, Jürgen Rose, Erich Wonder und Volker Pfüller, führen in eigens kuratierten Bildstrecken noch einmal ihre Raumerfindungen und ihren Blick auf die jeweilige Epoche vor. Was wäre das Theater für ein nüchterner, poesie- und traumloser Ort ohne ihre wundersame Kunst.
Das Theatertreffen entzieht sich der Definition. Es ist kein Festival, aber es hat viele seiner Eigenschaften, es ist keine Olympiade und kein Wettbewerb, aber es gibt Punktrichter. Vor allem ist es keine Waffe im Kalten Krieg und keine im Kampf von Kulturen. Es ist auch kein Standortfaktor, kein Tourismusmagnet, keine Publikumsmesse, keine Fachtagung, und doch all das. Was ist es nur? Hundert Beteiligte würden darauf hundert verschiedene Antworten geben. Wir haben sie alle zu Wort kommen lassen: In „Zwischenrufen“ berichten Schauspieler, Regisseure, Dramaturgen, Autoren, Bühnenkünstler und Festivalmacher, Kritiker und Kulturpolitiker, was das Theatertreffen für sie bedeutet, was sie als Jurymitglied ändern würden, welchen Theaterkünstler sie für unterschätzt halten oder welches der wirkungsvollste Theaterskandal war. Lina Beckmanns liebster Zwischenruf, als sie auf der Bühne stand? „Nicht so laut!“ Elfriede Jelinek und André Jung verraten, sie hätten gern einmal in den Bühnenbildern von Anna Viebrock gewohnt. Und Moritz Rinke findet einfach „nichts“ am Theatertreffen vergleichbar mit anderen Festivals. „Nirgends gibt es so viele Irre.“
Bei diesem ambitionierten Vorhaben, das Theater und seine Künstler zum Jubiläum zu ehren, hat uns die Stiftung Preußische Seehandlung großzügig unterstützt, wofür wir uns herzlich bedanken. Das Theatertreffen und die Stiftung Preußische Seehandlung verbindet bereits eine lange Beziehung: Der von ihr vergebene „Theaterpreis Berlin“ wird in diesem Jahr zum 25. Mal beim Festival verliehen. Ebenso möchten wir der Axel Springer Stiftung danken und, ganz besonders, der Kulturstiftung des Bundes, die das Theatertreffen als eines ihrer Leuchtturmprojekte fördert und damit all das, was sich hier jährlich ereignet, trifft und formt, überhaupt erst möglich macht.
Die ersten fünfzig Jahre – der Titel des Buches stellt uns vor die Herausforderung, die Geschichte des Theatertreffens sorgsam und kritisch mitzuschreiben, damit es seine politische und vor allem künstlerische Bedeutung in den kommenden Dekaden bewahrt. Die ersten fünfzig Jahre – das klingt und schmeckt nach einer großen Verheißung für die Zukunft. Thomas Oberender Intendant der Berliner Festspiele Yvonne Büdenhölzer Leiterin des Theatertreffens