Essay
Der große Bogen
Der 17. Juni 1953, das Dramatische im Historischem und ein Kanzler-Wort
von Thomas Wieck
Erschienen in: Theater der Zeit: Theatermusik – Welttheater – Haus der Kulturen der Welt Berlin (06/2023)
Assoziationen: Theatergeschichte Debatte

Am 17. Juni 2023 wird landauf, landab in Deutschland der siebzigste. Jahrestag des sogenannten Volksaufstands 1953 in der DDR gewürdigt. Die Demonstrationen, Streiks und Randalen waren aber kein Volksaufstand, welches Volk stand hier auf? Das deutsche Volk stand nicht auf, war es doch geteilt und es teilte, getrennt in Ost und West, gewiss nicht Freud und Leid miteinander. Der Begriff „Volksaufstand“ ist die nachgeholte Überhöhung eines vielfarbig schillernden geschichtlichen Ereignisses, einer Arbeiterrevolte.
Alles begann in Berlin-Ost mittags am 16. Juni 1953. Bauarbeiter der Stalinallee zogen vor das Haus der Ministerien in der Leipziger Straße und verlangten nach Ulbricht und Grotewohl, um von ihnen die Rücknahme neuer Arbeitsnormen zu erzwingen. Hatten sie das ND vom Tage wohlweislich nicht gelesen, stand doch da geschrieben, dass die Normen zurückgezogen würden? Zielte ihr Marsch auf mehr und anderes?
Ein Schreibmaschinentisch wird aus dem Gebäude auf den Vorplatz getragen, Minister Selbmann tritt aus dem Gebäude, klettert auf den Tisch und erklärt nochmals die Rücknahme der Normen. Die Demonstration brüllt ihn nieder. Da besteigt ein etwa fünfzigjähriger Bauarbeiter die provisorische Tribüne „Kollegen! Es geht hier nicht mehr um Normen und Preise, es geht um mehr. Hier stehen nicht allein die Bauarbeiter der Stalinallee, hier steht Berlin...