Theater der Zeit

Neustart

Doppel-Intendanz im Container

Alexander Riemenschneider und Christina Schulz machen das Theater an der Parkaue Berlin zukunftssicher

von Tom Mustroph

Erschienen in: Theater der Zeit: Henry Hübchen (02/2022)

Assoziationen: Akteure Berlin Kinder- & Jugendtheater Dossier: Neubau & Sanierung Christina Schulz Alexander Riemenschneider Theater an der Parkaue

Weltraummusical für Kinder ab 8 Jahren: Der frühere Punk-Musiker Schorsch Kamerun verarbeitet Restbestände anarchischen Denkens in seiner Kinder- und Jugendproduktion „Was?“. Foto David Baltzer
Weltraummusical für Kinder ab 8 Jahren: Der frühere Punk-Musiker Schorsch Kamerun verarbeitet Restbestände anarchischen Denkens in seiner Kinder- und Jugendproduktion „Was?“Foto: David Baltzer

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„Berlin baut“, so prangt es in weißer Schrift auf rotem Grund auf einem Schild vor der Fassade des Theaters an der Parkaue. Berlinerinnen und Berlinern jagt so eine Ankündigung Schauer der Angst über den Rücken. Denn fungiert der Senat als Bauherr, wie hier bei der technisch notwendigen Sanierung des Theaters, sind Verzögerungen und Kostensteigerungen Alltag. Bis 2024 soll dieser Umbau dauern. Der ursprüngliche Bau, vor 111 Jahren als Schulgebäude errichtet und 1950 zum Kinder- und Jugendtheater umgebaut, hatte lediglich ein Jahr Bauzeit beansprucht. Alexander Riemenschneider und Christina Schulz sind allerdings zuversichtlich, dass zumindest der aktuelle Zeitplan nicht verändert werden muss. „Ein paar Sachen sind nicht im Zeitplan, was auch mit Pandemie-bedingten Materialengpässen zu tun hat. Aber dann wird in den sehr komplexen ­Abläufen versucht, ein paar Dinge vorzuziehen. Die Architekten sind optimistisch, dass der Zeitrahmen eingehalten werden kann, und wir sind das auch“, sagt Schulz Theater der Zeit.

In der Zwischenzeit finden die Vorstellungen in einem ­Ersatzbau statt, einem zweistöckigen Container, der immerhin 199 Zuschauerplätze fasst und auch noch Raum für Garderobe, Foyer und sogar eine Bar hat, die bislang noch nicht öffnen konnte. Aber die temporäre Bühne wurde von Publikum, Spielerinnen und Spielern und auch der künstlerischen Leitung angenommen. „Ich finde den Container mittlerweile super. Ich bin überrascht, wie gut die drei neuen Produktionen darin funktioniert haben, wie unterschiedlich sie auch in dem Raum wirken“, zeigt sich Riemenschneider vom Provisorium regelrecht begeistert. Es gäbe noch ein paar ‚Kinderkrankheiten‘, ergänzt er, vor allem bei der Elektronik. Auch die Heizung macht sich gelegentlich mit spukhaftem Knarzen in den großen Rohren bemerkbar. Aber die Ersatzspielstätte funktioniert. „Die Dimensionen des Raums sind groß genug, um ein richtiges Theatergefühl zu erzeugen“, meint Riemenschneider sogar. Bei so viel Zuneigung zum Provisorium bleibt es als Bühne 4 vielleicht auch über die Bauphase hinaus als Studiobühne erhalten.

Drei Premieren kamen in der ersten halben Spielzeit hier bereits heraus. Den Anfang machte im Oktober „Krummer Hund“, eine Bühnenadaption des preisgekrönten gleichnamigen Jugendromans von Juliane Pickel.

Co-Intendant Riemenschneider inszenierte es, obgleich es ursprünglich nicht als Eröffnungsstück der Spielzeit geplant war. Die Lotterie der Dispositionen und Pandemie-bedingten Planungs­turbulenzen führte dann aber dazu. Für den Neuanfang war „Krummer Hund“ allerdings eine gute Setzung. Das Thema, Mobbing unter Schülerinnen und Schülern, ist allgegenwärtig. Pickel erzählt das Ausmaß der Kränkungen der Seelen der Heranwachsenden und auch das Ausmaß der gewalttätigen Reaktionen darauf sehr sensibel. Riemenschneider konzentriert sich in seiner Bühnenfassung auf die Figuren von Daniel und Alina. Daniel, vom Weggang seines Vaters verletzt und von den regelmäßig wechselnden Liebhabern seiner Mutter schwer genervt, agiert seinen Zorn auf die Welt mit Vorliebe durch physische Gewaltexzesse aus. Mitschülerin Alina schwingt sich hingegen zur Eiskönigin auf, die dank ihrer intellektuellen Überlegenheit die anderen durch verbale Demütigungen klein hält. Einsam sind beide, Verzweiflung frisst sich mit Eiseskälte in beide Herzen.

Als kongeniales Bild für diesen Zustand kreiert Bühnen­bildnerin Johanna Pfau Eisskulpturen in Form von Buchstaben. Sie ergeben den Namen „Ozzy“; so heißt der Hund, den Daniel als einzig wahren Getreuen ansieht.

Geschickt lässt Riemenschneider die Worte der Protago­nisten kanonartig durch die Münder des gesamten Ensembles wandern. Individuelle Zustände werden so mehrstimmig, verschmelzen gelegentlich zu einem kollektiven Ich, um sich dann wieder zu vereinzeln.

Von den Schulen wird die Inszenierung lebhaft nach­gefragt. „Unser Besucherservice sagt, es gibt eine gut funktionierende Mund-zu-Mund-Propaganda. Und viele Lehrerinnen und Lehrer teilen mit, dass es gar nicht einfach ist, für diese Altersgruppe ab 14 Jahren etwas zu machen, das ernst genommen wird“, erzählt Riemenschneider.

Dass die Auftaktinszenierung so einschlug, lag sicherlich auch an den diversen Feedback-Schleifen. In der Probenphase war bereits eine Schulklasse anwesend. Von den Gesprächen mit den Schülerinnen und Schülern ließ sich das Ensemble dann auch ­beeinflussen. „Und schön war, dass die Klasse, als sie sich das Stück erneut angeguckt hat, einiges davon wiederentdeckt hat. Ich finde es wichtig, dass junge Menschen merken, dass sie nicht nur Empfänger sind, sondern bemerken, dass sie etwas bewirken ­können“, meint Riemenschneider.

Ähnliche Feedback-Situationen gab es auch bei „Was?“, der zweiten Premiere, herausgekommen im November. Es handelt sich um ein Weltraummusical für Kinder ab 8 Jahren vom früheren Punk-Musiker Schorsch Kamerun. Der Sänger der Goldenen Zitronen ist mittlerweile mehr ins Elektropop-Fach gewechselt. Restbestände anarchischen Denkens finden sich aber auch in ­dieser seiner allerersten Kinder- und Jugendproduktion. „Was?“ wurde noch von der Interimsintendanz unter Florian Stiehler, seit dieser Spielzeit Geschäftsführender Direktor des Staatstheaters Augsburg, initiiert. Das Projekt verzögerte sich aufgrund der P­andemie mehrfach. Schulz und Riemenschneider übernahmen es und sorgten so für Kontinuitäten. Auch „Pythonparfum und Pra­linen aus Pirgendwo“, ein pantomimisches Slapstick-Stück für Kinder ab 5 Jahren über seltsame Gäste eines ebenfalls seltsamen Hotels, stammt noch aus der Interimszeit. Es hatte im Dezember 2020 seine Online-Premiere und fast genau ein Jahr später endlich die Bühnenpremiere vor Livepublikum. Regie führte der ­belgische Regisseur Gregory Caers, der bereits 2013 vom Grips Theater für Berlin entdeckt wurde und später als Hausregisseur am Jungen Schauspiel Düsseldorf tätig war. Ins Repertoire übernommen wurden aus den letzten beiden Spielzeiten die Inszenierungen „Wutschweiger“ (ab 8 Jahren), „Der Zinnsoldat und die Papier­tänzerin“ (ab 7 Jahren, geschrieben und inszeniert von Roland Schimmelpfennig) sowie das Rechercheprojekt „Als die Mauer fiel“ (ab 11 Jahren). Einzige Inszenierung aus der Ära Kay Wuschek ist die mittlerweile ins Digitale transformierte Partizipationsshow „Unterscheidet euch“ der Berliner freien Gruppe Turbo Pascal.

Das kontroverse Ende der Wuschek-Ära prägte den Anfang der ­neuen Intendanz. Wuschek trat wegen Kritik an mangelnder Auf­arbeitung eines Rassismusvorfalls im Ensemble zurück. Der Vorfall ereignete sich bereits 2018. Sichtbare Reaktionen gab es erst ein Jahr später – und dies trotz zwischenzeitlicher Installation einer ­Diversitätsagentin. Die Interimsintendanz mühte sich mit Workshops und Gesprächen um eine hausinterne Sensibilisierung. Sie führte 2020 auch verbindlich eine Antidiskriminierungsklausel ein. Die wurde, so erzählte Diversitätsagentin Sonja Baltruschat in einem Interview mit ZEIT ONLINE, auch drei Mal zum Einsatz gebracht. Ein offener Brief der Belegschaft des Theaters an der Park­aue ebenfalls im Jahr 2020 machte aber auch deutlich, dass sich die Angestellten in ihrem Bemühen um eine konstruktive Fortsetzung ihrer künstlerischen und organisatorischen Tätigkeit von der Politik im Stich gelassen fühlten. Sie forderten Kultursenator Lederer zu einer schnellen Entscheidung über die neue Leitung des Hauses auf.

Riemenschneider und Schulz, die sich von den Bundeswettbewerben für Jugendliche der Berliner Festspiele kennen, bekamen den Zuschlag. Ihre Einarbeitungszeit war kurz. Die Arbeits­teilung, die eine Doppelintendanz mit sich bringt, war dabei durchaus hilfreich. Als wichtig sehen Schulz und Riemenschneider an, das Programm diverser und inklusiver zu gestalten und dabei auch über die Personen diversere Perspektiven einzubringen. Das spiegelt sich nicht nur im künstlerischen Personal, sondern auch bei der Besetzung von Positionen in Dramaturgie und Vermittlung wider. Diversitätsagentin Baltruschat gehört als Referentin für diversitätsorientierte Organisationsentwicklung jetzt zur Leitungsebene. Im Januar begannen am Haus Residenzen inklusiver Künstlerinnen und Künstler, unter anderem mit dem Theater Hora, dem Theater Thikwa und der Gruppe Meine Damen und Herren. „Es geht darum herauszufinden, wie inklusive Theater­arbeit für junges Publikum stattfinden kann. Das ist einerseits künstlerische Forschung. Zum anderen geht es aber auch darum, überhaupt mit einem Staatstheater in Kontakt zu treten und zu gucken, was braucht eine inklusiv gedachte Produktion, welche Erzählformen gibt es, welche unterschiedlichen Herangehens­weisen kann man entwickeln?“, erläutert Schulz.

Auch aus ihrer gemeinsamen Praxis bei den Jugendwettbewerben der Berliner Festspiele bringen die beiden Co-Intendanten Ideen und Netzwerk-Effekte ein. Die nächste Premiere „Funken“ (26. Feb­ruar, ab 12 Jahren) ist die Uraufführung des Siegertextes von Till Wiebel beim Retzhofer Dramapreis 2021. Die Preisträgertexte der nächsten Jahrgänge sollen ebenfalls an der Parkaue herausgebracht werden. „Der Wettbewerb verfolgt ein Konzept, das uns aus der Zusammenarbeit bei den Berliner Festspielen vertraut ist. Es geht nicht darum, dass jemand schreibt, dann gibt es einen Preis, und das war es. Sondern es sind kontinuierliche Förderprogramme, bei denen ­etwas mit mehreren Teilnehmerinnen und Teilnehmern entwickelt wird. Und gemeinsam mit den Partnern geht es darum zurück­zuspiegeln, wie man einen Text gemeinsam auf Bühnentauglichkeit untersuchen kann“, erzählt Riemenschneider. „Funken“ wird von der deutsch-iranischen Regisseurin Mina Salehpour herausgebracht. Im April folgt das Tanztheaterstück „Schattensprung“ (ab 5 Jahren) der in Brasilien geborenen Choreografin Regina Rossi. Von den ­Regie- und Choreografie-Positionen aus gesehen ist das Programm definitiv international und multiperspektivisch. Der unter Vorgängerintendant Wuschek begonnene Weg, freie darstellende Künstlerinnen und Künstler einzubeziehen, wird ebenfalls fortgesetzt, nur eben mit anderen Personen. Dem Haus in Berlin-Lichtenberg bleibt nur zu wünschen, dass es in Pandemiezeiten weiterspielen kann und Schülerinnen und Schülern der Besuch erlaubt bleibt. Bei den Vorstellungen war jedenfalls zu spüren, dass auch dem jungen Publikum ein Theaterbesuch (wieder) etwas bedeutet. //

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