Theater der Zeit

Nachruf

Der Weichensteller

Ein Nachruf auf den Dramaturgen, Hochschullehrer und Wedekind-Spezialisten Hans-Jochen Irmer

von Jens Neubert

Erschienen in: Theater der Zeit: Tarife & Theater – Warum wir das Theater brauchen (02/2023)

Assoziationen: Musiktheater Akteure Hans-Jochen Irmer

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„Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.“ (Uwe Johnson, Mutmaßungen über Jakob)

Prof. Dr. Hans-Jochen Irmer (2. Mai 1935 – 4. Dezember 2022) war Lehrer. Die Nachricht seines Todes machte die Runde unter den Schülern. In wenigen Jahren, ich studierte von 1991 bis 1995 Regie an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“, vermittelte er Grundlagen. Nicht nur in seinen Vorlesungen „Dramaturgie“, „Geschichte der Regie“, „Richard Wagners musikdramatisches Werk“, sondern durch sein Vorbild der Übergangszeit. Die DDR war friedlich abgeschafft und wir mussten eine neue Straßenverkehrsordnung erlernen. Irmer las mit uns Lessing, Hegel, Brecht. Nach der Kindheit im Krieg besuchte er die Dresdner Kreuzschule und studierte in Leipzig bei Hans Mayer und Ernst Bloch. Dort begegnete er dem ein Jahr älteren Uwe Johnson im Lesesaal.

Nach einer Dissertation über Frank Wedekind leitete er in den Jahren 1971 bis 1977 das Dramaturgie-Team der Intendanz von Ruth Berghaus am Berliner Ensemble. Dort setzte er sich für die Programmlinie früher Brecht („Im Dickicht der Städte“) und Wedekind ein („Frühlings Erwachen“, Regie: Einar Schleef und B.K. Tragelehn, 1974). Bereits 1972 erschien die Materialsammlung „Brecht und das musikalische Theater“. Für Joachim Herz betreute er als Dramaturg die Erstaufführung der vollständigen „Lulu“ von Alban Berg nach dem Text von Wedekind, an der Komischen Oper. Sein Buch „Joachim Herz – Regisseur im Musiktheater“ markierte 1977 den Versuch, zwei Jahre nach dem Tod Felsensteins dem musikalischen Theater der DDR eine neue Richtung zu geben.

Nach dem Rauswurf der Berghaus aus dem Berliner Ensemble 1977 begann ­deren Wirkung in der Oper. In den Entwicklungen der Oper im Geiste Brechts im produktiven Widerspruch zum realistischen Musiktheater war Irmer der Vor­denker.

Schon 1968 begann die Lehrtätigkeit am Studiengang Regie der Hochschule für Musik „Hanns-Eisler“. Dieser Regie-Studiengang, von Götz Friedrich zur Ver­stetigung der „Methode Felsenstein“ gegründet, wurde Dr. Irmers Lebensaufgabe. Von 1980 bis 1992 leitete er den Studiengang und ich erlebte 1992 seine Absetzung. Bereits 1988 zum außerordentlichen Professor berufen, wirkte er weiter gegen mediokre Widerstände bis 2000. Zu seinen Schülern zählen Sebastian Baumgarten, Thoraten Cölle, Michiel Dijekma, Dimiter W. Dimitrow, Jenny Erpenbeck, Brigitta Gillesen, Tatjana Gürbaca, Miron Hakenbeck, Julia Häbler, David Hermann, Miriam Hoyer, Ingolf Huhn, Steffen Kaiser, Jan-Richard Kehl, Susanne Knapp, Peter Konwitschny, Franziska Kronfroth, Sylvia Kurz, Katharina Lang, Sandra Leupold, Freo Majer, Johannes Müller, Petra Müller, Vera Nemirova, Jens Neubert, Steffen Piontek, Matthias Pohl, Wolfgang Schaller, Georg Schüttky, Henriette Sehmsdorf, Alexander Suckel, Elena Tzavara, Joern Weissbrodt, Kristina Wuss u.v.a.

Irmer war in den achziger und neunziger Jahren außerdem weiter als Dramaturg tätig, unter anderem für die 1991er „Lohengrin“-Inszenierung der Bayreuther Festspiele, für die Meisterkurse der Ruth Berghaus (1993–95) und an der Oper Graz (Ring- und Janacek-Zyklen, Intendanz Dr. Brunner). Als Mitherausgeber schloss er die kritische Studienaus­gabe der Werke Frank Wedekinds 2013 ab. Prof. Dr. Irmer schrieb mir im März 2012: „Stolz bin ich nicht, ich bin froh gestimmt, wenn ich meine Studenten auf den richtigen, ihnen gemäßen Geleisen sehe. Tatsächlich habe ich mich als ‚Weichensteller im Rangierbahnhof Hochschule‘ betrachtet.“

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