Theater der Zeit

Auftritt

Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin: Toxisch exzellent

„Nullerjahre“ von Hendrik Bolz (UA) –Regie Nina Gühlstorff, Bühne Nina Gühlstorff und Markus Dottermusch, Kostüme Silke von Patay, Musik Raphael Käding

von Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Neue Dramatik (03/2023)

Assoziationen: Theaterkritiken Mecklenburg-Vorpommern Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin

Oscar Hoppe, Emil Gutheil, Robert Höller und Aaron Finn Schultz in der Uraufführung von „Nullerjahre“ in der Regie von Nina Gühlstorff am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin. Foto Silke Winkler
Oscar Hoppe, Emil Gutheil, Robert Höller und Aaron Finn Schultz in der Uraufführung von „Nullerjahre“ in der Regie von Nina Gühlstorff am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin.Foto: Silke Winkler

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Am Anfang eine Trigger-Warnung: „Dieses Stück berichtet aus einer Welt, von der man schwer erzählen kann, ohne den Rassismus, den Antisemitismus, die Misogynie, die Homophobie und die Gewalt sprachlich zu reproduzieren, die in ihr zentrale Ordnungsprinzipien waren. Diese Ambivalenz sollte niemand aushalten müssen, der sich nicht bewusst dafür entschieden hat. Sie können noch gehen!“

Der Hinweis, der so auch Hendrik Bolz‘ autofiktionalen Bericht „Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften“ einleitet, hat seine Berechtigung, denn die verrohte Sprache, mit der sich die Jugendlichen im Stralsunder Neubauviertel Knieper West abgrenzen und gegenseitig hart machen, ist kaum zu ertragen. Bolz, Jahrgang 1988, wuchs in diesem Viertel auf, als es mit dem Plattenbaugefüge sozial abwärts ging und die rechte Subkultur darin Normalität wurde: Glatzen, Muskeltraining, Lonsdale-Shirts, Rechtsrock, Schlägereien, Saufen und Jagd auf alles, was von dieser Norm als „schwul“ abweicht. Erwachsene kommen praktisch nur als im Hintergrund davonhuschende „Rentner“ oder aus dem Fenster Gaffende vor, der Anpassungsdruck ist enorm. Im soziologischen Kontext ist der Junge Hendrik, von dessen Elternhaus man interessanterweise gar nichts erfährt, ein teilnehmender Beobachter, der nach schweren Drogeneskapaden immerhin das Abitur und den Absprung nach Berlin schafft. Von dort aus weiß er, inzwischen auch als Testo ein erfolgreicher Rapper, dem Erlebten in mehreren knapp eingestreuten Miniessays den sozialpolitischen Hintergrund hinzuzufügen: Was er in den „Nullerjahren“ beschreibt, ist zum Teil auch ein Ergebnis der verrohten Sozialpolitik der Schröder-Jahre und ihrer Hartz-Deklassierung, mit einer genau schilderten Ost-Spezifik.

Nun hat Schwerin und nicht das Theater am Handlungsort den Bestseller an die Angel gekriegt und zeigt dessen erste Bühnenversion in der neuen Spielstätte M*Halle. Diese befindet sich in der ehemaligen Druckerei der Schweriner Volkszeitung am Rande eines Knieper West ähnelnden Neubauviertels aus DDR-Zeiten, dem Großen Dreesch. Hier, fern der gemütlichen Altstadt am Schloss, erhofft sich das Theater einen neuen Wirkungskreis. Hausregisseurin Nina Gühlstorff hat innerhalb des neuen Theaterteams sogar einen Titel für „Öffnungsprojekte“ erhalten.

Nach der Triggerwarnung tritt das sechsköpfige Ensemble zusammen, zwei halten Autobahnbegrenzungspfosten, als müsste man zeigen, dass die Autobahn leider allzu schnell an den Problemvierteln des Landes vorbeifliegt. Das eigentliche Thema, das die Regisseurin dann mit ihren Schauspieler:innen herausarbeitet, ist die „toxische Männlichkeit“ und wie sie schon im Kindesalter vorbereitet wird und sich dann hemmungslos in die Körper hineinarbeitet. Das wird eng am Buch mit markanten Szenen immer wieder bis ins Publikum gebracht, wenn ein Trainer seine kaum zeugungsfähigen Schützlinge fragt, ob sie mehr auf „Arsch oder Titten“ stehen, und die Ausfrage bis ins Publikum fortsetzt. Dieses darf mehrmals auch aus einer Namenstombola wählen, wer von den Schauspieler:innen in den „Stress-Kreis“ muss, wo der/die Betroffene sich in zwei Minuten bei wummernder Musik mit Powerliegestütze und Kampfsituationen mit den anderen zu bewähren hat. Wer das hinter sich hat, muss keuchend weiterspielen – es sind die ins Theater übersetzten Ertüchtigungsrituale, die zunächst vor einer einfachen weißen Wand wie in der Ecke einer Sporthalle stattfinden.

Bei allem Körperfuror überwiegt aber doch der diskursive Teil, der erstaunlich viel aus dem Buch in 100 Minuten Speed-Erzählung mitnimmt. Die Entscheidung der Regie, alle Figuren auf alle Schauspieler:innen wechselnd zu verteilen, geht auf ohne Orientierungsverluste und mit beachtlicher Dynamik der aus vier Studierenden der Hochschule für Musik und Theater Rostock und zwei Ensemblemitgliedern gemischten Besetzung: Robert Höller und Oscar Hoppe vom Haus zusammen mit Emil Gutheil, Annika Hauffe, Rosalba Thea Salomon und Aaron Finn Schultz in einer wohl für sie kaum altersgerecht günstigeren Spielanlage. Power und Rhythmus der Szenenwechsel sind stimmig auf Sog, ihr Spiel pausenlos aufs Publikum.

Hendrik ist hier also ein Kollektiv, samt seiner Bezugspersonen. Die Regie zeigt, es kann auch auch Humor und Ironie bei diesem Thema Männlichkeit geben. Bei einer Szene im Strandbad hoppeln die Männer nackt mit zwischen den Beinen weggeklemmtem Penis als Mädchen hervor, während die Frauen den starken Mann machen. Alle haben ungefähr die gleiche Kindheit im Kindergarten von Knieper West, und mit dieser Rückblende – genauso auch im Buch – gibt es die seltsamste Szene als ein Erklärungsansatz für dieses Sozialverhalten: die kleine Susanne (extrem berührend dargestellt von Rosalba Thea Salomon) soll endlich ihr ungeliebtes Mittagessen Leber mit Kartoffelbrei aufessen, damit die anderen Kinder ihre Ruhe haben. Die den Fraß in den Mund stopfende Erzieherin, das spielt schon nach der Wende, ist fast eine Folterfrau in der Manipulation von kindlichen Gefühlen der Gemeinsamkeit und Bestrafung. Hier hat Bolz den Finger auf einem kontroversen Taster, mit dem der westdeutsche Polizeipsychologe Christian Pfeiffer den gesamten Osten wiederholt stigmatisierte: Rechtssein würde angeblich bei der rigiden Kleinkinderziehung auf dem kollektiven Nachttopf anfangen. In Schwerin ist das eine Szene mit langer Nachdenkwirkung, die das Ganze in aller Pein nochmal anders aufgreifen lässt.

Solche Momente drehen bei dem Tempo schnell wieder woanders hin. Die Clique macht Radau, tanzt und trinkt, hasst und verbandelt sich, und trotz der Gewalt – meistens gegen sich selbst – haben sie doch etwas Einnehmendes wie überhaupt die dann auch mal auf der Rückwand gezeigten Ostseewellen. Da platzt noch ein anderes Einsprengsel von Bolz‘ soziologischen Befunden herein. Mecklenburg-Vorpommern hat, es sind schon die Merkel-Jahre und der ehemalige Wahlkreis 15 Stralsund – Nordvorpommern – Rügen war ja immer der Wahlkreis der Kanzlerin, rechtsextreme Gewalttaten abgeschafft, da die ja das Image des schönen Strandlands zerkratzen. Das kümmert Hendriks Bumm-Bumm-Clique wenig, unklar bleibt auch, ob deren vorurteilsgesteuerte Prügeleien der rechten Szene eindeutig zugeordnet werden können. Aber das ist eben die Wahrheit.

 

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