Das Beste an Twitter ist ja, dass man sich dort jederzeit gratis die Gewissheit abholen kann, auf der richtigen Seite zu stehen. Ein woker Tweet, eine pointierte 280-Zeichen-Attacke gegen irgendein zweifelsfreies Fehlverhalten – schon gibt es die Selbstbelohnung als Moralbonbon, während der geschmähten Person die Wucht des verdienten Shitstorms ins Gesicht schlägt. Ein anschauliches und zu Prominenz gelangtes Beispiel aus jüngerer Zeit: dieser antisemitische Mitarbeiter eines Leipziger Hotels (Ostdeutsche, wen wundert’s!), der den Musiker Gil Ofarim aufgefordert hat, seine Halskette mit Davidstern abzulegen, wenn er denn einchecken wolle. Klare Fronten im Skandal. Kleiner Wermutstropfen: dass bis heute fraglich ist, wer wirklich was gesagt hat, ob Ofarim die Kette überhaupt trug, für wen die Unschuldsvermutung gilt. Nichts stört das schöne Schwarz-Weiß mehr als nervtötende Uneindeutigkeit.
Am Berliner Maxim Gorki Theater hat die Regisseurin Yael Ronen jetzt ein Quasi-Musical zur Premiere gebracht, das die Ofarim-Debatte an Komplexität mehrfach locker überbietet und mit herrlich mitreißender Erschütterungslust am Gut-gegen-Böse-Gefüge der Twitter-Gemeinde und ihrer Geistesverwandten rüttelt. „Slippery Slope“ erzählt von dem Ethno-Schnulzen-Musiker Gustav (eine Wucht unter der blonden Langhaarperücke: Lindy Larsson), der nach vier Jahren in der Cancel-Culture-Verbannung seinen Comeback-Auftritt wagt. Gustav – zuvor ein geübter Anwanzer an Klezmer wie an haitianischen Voodoo – ist...