Akteure
Im Möglichkeitsraum
Wie Alexander Kluge KI nutzt, um die Grenzen des linearen Erzählens zu überschreiten, und was sich daraus für das Theater ableiten lässt
von Alexander Kluge und Volker Gebhart
Erschienen in: Theater der Zeit: Die Kürzungskatastrophe – Wie Einsparungen Theater bedrohen (01/2025)
Assoziationen: Akteur:innen Dossier: Kunstinsert Dossier: Digitales Theater
Wie lassen sich Bilder und Geschichten auf neue Möglichkeiten hin untersuchen und damit weitererzählen? Der Schriftsteller, Filmemacher und Philosoph Alexander Kluge hat hierzu eine Arbeitsweise entwickelt. Er setzt KI zum Kommentieren ein und bringt dabei wertvolle Missverständnisse und verblüffende Konstellationen hervor. In seinem Buch „Der Konjunktiv der Bilder – Meine virtuelle Kamera (K. I.)“ (Spector Books, 2024) hat der 92-Jährige seine Experimente beschrieben und geht im Gespräch mit TdZ den Möglichkeiten des Mediums auf den Grund, auch für die Zukunft der performativen Künste.
Mit dem Schritt von der klassischen Kamera aus Film und Fernsehen hin zur virtuellen Kamera der KI hat Alexander Kluge neue Möglichkeiten entdeckt. Dabei geht es ihm um den Konjunktiv der Bilder: „Als virtuelle Kamera kann sie diesen aufnehmen, was meine klassische Filmkamera, an der ich natürlich hänge, nicht kann. Diese kann nur den Indikativ aufzeichnen, also das, was tatsächlich vor der Kameralinse zu sehen ist, fotografieren, und in Film verwandeln. Dann kann ich als Filmemacher mithilfe von Montage noch etwas bewirken. Aber ansonsten ist diese Arbeitsweise immer linear. Sie befindet sich in der Gegenwart. Nun besteht ein wirklicher Augenblick jedoch aus Gegenwart und dazu allen Möglichkeiten dieses Moments. Dass diese wahre Zeit, die Geschichte und sogar die Zukunft, aber auf jeden Fall die Möglichkeit, die Heterotopie, auf den Moment einwirkt, ist mit der klassischen Filmkamera nicht zu lösen. Da kann ich nur montieren, kommentieren, dazu Handlung entwickeln und Schauspieler verkleiden. Ich kann das nicht direkt aufnehmen. Unser Vorstellungsvermögen beruht ja aber auch auf den Möglichkeiten. Wir sehen jemanden einträchtig auf der Straße gehen, dabei könnten wir die Gefahr eines Unfalls erkennen und zur Vorsicht rufen.“
Die virtuelle Kamera
Die virtuelle Kamera, so erläutert es Kluge in seinem Buch, ist quasi so etwas wie unser menschliches Vorstellungsvermögen. Sie existiert in unseren Köpfen und ebenso im Ahnungsvermögen unserer Haut. Sie agiert auf ähnliche Weise wie Filmkameras. Kluge geht hierzu einleitend der Frage nach unseren Sinnen auf den Grund, die selbst wie eine Kamera funktionieren. Dabei spannt er einen weiten Bogen ausgehend von der Höhlenmalerei vor etwa 40 000 Jahren – einer Zeit, in der die Musik, die Bilder und der Tanz entstanden – über die Praxis der Filmmontage bis hin zum Experiment mit der KI in unsere Gegenwart. Aber wie wendet er Letztere durch Bildeingaben und Fragestellung mit dem KI-Modell Stable Diffusion an? „Ich benutze dieses wie ein Ikonoklast, also überhaupt nicht zum Illustrieren. Das heißt, das Erste, was ich tue, ist, ich störe und irritiere das Training meiner KI. Diese verwaltet wie ein guter Buchhalter der Einzelheiten acht Milliarden Daten. Das macht die KI sehr redlich, sehr eifrig und nicht intelligent, wohl aber so wie Jacob Grimm das Wörterbuch der deutschen Sprache schreibt. Ihre Genauigkeitsgrade machen aus ihr ein Werkzeug, das aufzeichnen kann und zwar anders als die Fotografie und die Kamera und das sich auch von der Arbeitsweise eines Malers unterscheidet. Künstlerisch ist sie gar nicht tätig. Wenn ich mit ihr umgehe, dann ist das so wie bei einer Filmkamera. Da bin ich ja auch nicht wirklich der Herr dessen, was sie aufnimmt. Nur dadurch, dass ich schneiden kann hinterher und den Kontext bestimmen kann, zum Beispiel den Bildausschnitt wähle. Ich kann also durch eine Reihe von Nebensachen das Ergebnis beeinflussen. Und je sachlicher ich bin, desto besser bin ich als Filmemacher. Je empathischer ich wäre, desto besser wäre ich als Maler, was ich nicht bin. Illustration ist dabei das Letzte, was Sie mit der KI gut machen können. Dafür eignet sie sich zum Kommentieren, Konstellieren und Variieren sowie zum Abklopfen auf Möglichkeiten hin. Mit ihr lassen sich Missverständnisse produzieren, die eine Wahrheit enthalten und einen Grund haben. Im ganzen Bereich der Dialektik der Aufmerksamkeit kann ich mit der KI auf für mich verblüffende Weise rangieren.“
Auf ein besonders überraschendes Ergebnis und eine ungeahnte Verknüpfung von Zusammenhängen stieß Kluge, als er seiner KI verschiedene Varianten von Bildern der Freiheitsstatue in New York eingab, die ihn persönlich bewegen. Hintergrund: Diese Statue sahen schon die europäischen Einwanderer:innen in den Jahren nach 1848, als sie vor New York eintrafen. Denselben Anblick wiederum hatten auch die Flüchtlinge aus dem Dritten Reich in den Jahren nach 1938. „Diese Freiheitsstatue enthält ein Versprechen“, sagt Kluge und setzt fort: „Ich gebe jetzt aber meiner KI als Aufgabe, dieses Bild, das ich als Muster eingegeben habe, nach Fernost zu versetzen. Dort findet sie keine Freiheitsstatue, dort wird Freiheit anders ausgedrückt. Jedenfalls haben sie nicht dieses Symbol der Frau mit Krone und Fackel. Also kommt meine KI in Not. Sie versucht trotzdem zu antworten und mit ihrem Riesenarsenal prüft sie jetzt und sie kreiert das Bild einer Asiatin mit einer Fackel in der rechten Hand. Mit der linken feuert sie ebenfalls. Das ist wie bei dem Freiheitskämpfer Mucius Scaevola. Er kommt in einer römischen Wandergeschichte vor, die die KI gewiss nicht kennt, und ich habe ihr dazu auch nichts gesagt. Mucius Scaevola, später ein Held der Französischen Revolution, wollte den Tyrannen Porsenna ermorden, der Rom belagert. Der nimmt ihn fest. Mucius Scaevola entgegnet ihm, er könne seinen Willen nicht beugen. Er legt seine Hand ins Feuer. Diese verbrennt, aber sein Wille bleibt ungebrochen. Daher stammt die noch heute gebräuchliche Redewendung, seine Hand ins Feuer legen. Es ist eine leere Phrase geworden, aber sie geht auf diese alte Geschichte zurück. Auf diesen Zusammenhang also kommt die KI, ohne dass ich ihr Information dazu eingegeben habe. Das hat mich zum Beispiel überrascht. Diese Methode des Kommentierens oder der Suche nach Verbindungen zwischen Zufälligkeiten ist ihre Fähigkeit. Damit kann sie mich verblüffen und Unbekanntes hervortreten lassen, was ich vorher nicht wahrgenommen habe.“
Konjunktiv der Bilder
Alexander Kluge knüpft mit dem „Konjunktiv der Bilder“ kohärent und schlüssig an seinen Fokus auf die Form des Kommentars aus den Vorjahren an. Dabei hatte er in der Rolle des „Sammlers und Gärtners“ die Narration des Kommentars neu erprobt. Nun setzt er an genau dieser Stelle wiederum an und begibt sich mit den Möglichkeiten der KI auf eine weitere Suche mit offenem Ausgang. Dabei wird deutlich: Kluge sieht Materialien nicht als bloße Materie, er erkennt sie als lebendig an und versetzt sie in einen Dialog. Daraus entsteht die kommentierende Ebene, die er mit seiner Arbeitsweise erschafft, und die über das Lineare hinausweisen kann. „Das ist eine sehr wertvolle Meta-Ebene, eine konstellierende Schicht, die also nicht einfach immer weitererzählt und alle Nebensachen unterdrückt, sondern dann von einer Nebensache ausgehend gewissermaßen noch einmal Vielfalt erzeugt und vernetzt. Dieses Bild lässt sich anhand von Arachne der Weberin, einer Gestalt der griechischen Mythologie, verdeutlichen. Sie stickte als Künstlerin auf die Gewänder, die sie entwickelte, die ganze Geschichte von Troja. Ihre Nebenbuhlerin Athene, eifersüchtig auf diese Künstlerin, verwandelte sie daraufhin, weil sie die Rivalin nicht duldete, in eine Spinne. Und diese Spinne mit ihren Netzen, das ist ein Symbol auch der Kunst, nicht nur im Sinne des Chip-basierten Internets heute, sondern Vernetzung ist im Grunde ein Kernprinzip gründlicher Kunst.“
Doch was bedeuten die Möglichkeiten der KI in Bezug auf zukünftige Arbeitsweisen für Theater und Performance? Kluges Experimente zeigen, dass sich durch die Eingabe von Bildmaterialien und Fragestellungen mit der Absicht, den Kontext in einen anderen Raum oder eine andere Zeit zu befördern, Assoziationen und Verknüpfungen hervorbringen lassen, die unerwartet oder irrtümlich sind. Dieses kann beispielsweise bei der neuen Bearbeitung klassischer Stoffe von Interesse sein. Der geschaffene Konjunktiv kann in Form des Kommentars eine parallele Ebene erzeugen, die sich dann wiederum zur Montage einsetzen lässt, um die ursprüngliche Narration aufzusprengen, sie zu ergänzen oder zu kontrapunktieren. Die KI passt damit als Werkzeug zur nicht-linearen und fragmentarischen Erzählweise des Postdramatischen Theaters. Wenngleich sie sich sicher keinesfalls dazu eignet, Autor:innen oder gar die Regie zu ersetzen, so können ihre Fähigkeiten als ergänzendes Element für die Bühne wirken. Dann, wenn die Handlung als nicht abgeschlossen angesehen wird und es darum geht, in der Erarbeitung von und Auseinandersetzung mit Stoffen neue Reibung zu erzeugen. Die KI kann das Spiel mit den Möglichkeiten durch ihre digital erzeugten Bilder befeuern und zuvor ungesehene Aspekte zutage fördern. Sie verweist damit in andere Richtungen und gibt den Impuls, bekannte Erzählungen neu fortzusetzen.