Theater der Zeit

Auftritt

Staatstheater Meiningen: Einem Stück gehen die Gäule durch

„Kleists ‚Kohlhaas‘ dargestellt durch das Liebhabertheater ‚Die freche Distel’“ von Björn SC Deigner (UA) – Regie Cornelius Benedikt Edlefsen, Bühne und Kostüme Jenny Schleif

von Michael Helbing

Assoziationen: Thüringen Theaterkritiken Amir Reza Koohestani Björn SC Deigner Meininger Staatstheater

Schauspieler spielen Schauspieler: Pauline Gloger und Thomas Büchel in „Kleists ,Kohlhaas’...“. Foto Christina Iberl / Staatstheater Meiningen
Schauspieler spielen Schauspieler: Pauline Gloger und Thomas Büchel in „Kleists ,Kohlhaas’...“Foto: Christina Iberl / Staatstheater Meiningen

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Man muss diesen mehr als 200 Jahre alten Text, der vor bald 500 Jahren speilt, nicht zwingend erst zu uns heranholen, ihn also „heutig“ machen, um seine gegenwärtige Sprengkraft zu erkennen. Dass sich aus Kleists Novelle vom Querulanten, Wutbürger und Gerechtigkeitsfanatiker Michael Kohlhaas ein Stück zur Stunde machen lässt, liegt geradezu auf der Hand und ist zuletzt ja auch vielfach versucht worden: in Görlitz-Zittau, Bregenz, Berlin, Saarbrücken, Darmstadt, … Insofern erübrigte sich im Grunde eine Frage der Dramaturgin im Meininger Programmheft: „Ist es wieder Zeit, sich mit ihm zu beschäftigen?“ Ja, bestätigt der Autor gleichwohl, es sei „bestimmt eine passende Zeit, den ,Kohlhaas‘ einer erneuten Lektüre zu unterziehen.“

Der Autor verweist, wie sein Stück, auf missbräuchliche Indienstnahmen des Titelhelden als Freiheits- oder Widerstandskämpfer durch Nationalsozialisten, DDR-Kommunisten oder westdeutsche 68er-Bewegte; wie junge Rechtsextreme heutzutage aus der Novelle die Rechtfertigungslehre für ihre Bewegung ableiten, die den ohnehin schwankenden demokratischen Staat zu beseitigen gedenkt, inszenierte bereits vor sieben Jahren Sebastian Martin in Weimar mit Entlarvungsstrategie.

Jener Autor indes heißt natürlich nicht Heinrich von Kleist, der seinen eigenen Freitod mit einem solchen verknüpfte, der ebenfalls Grenzen zum Missbrauch überschritt. Er heißt Björn SC Deigner, den in den vergangenen Jahren vor allem Bamberg schon dreimal mit Stücken beauftragte (dort folgen im Januar 2025 „Die Eingeborenen von Trizonesien“). Das ließ Meiningen aufhorchen, wo sie bei Deigner für ihre Kammerspiele zunächst das vor zwei Jahren uraufgeführte „Waldstück“ bestellten, woraus eine vergnügliche und vielschichtige zivilisationskritische Märchen- und Mythen-Komödie wurde, in der nichts und niemand ist oder bleibt, was oder wer er zu sein scheint, und worin einige der umherirrenden Menschen buchstäblich Wurzeln zu schlagen beginnen.

Darauf folgt jetzt an selber Stelle gleichsam die Entwurzelung im Unterholz des Rechtsstaates. Wiederum im Auftrag überschrieb Deigner den Text über einen Mann, dem nach eigenem Bekunden „der Schutz der Gesetze versagt ist“ und der deshalb zum Gesetzlosen wird: ein Pferdehändler, der um zwei seiner Rappen betrogen wird, da er sie als Schindmähren wiederfindet, weshalb mit ihm die Gäule durchgehen.

Die Dramaturgin berichtet in einer Einführung stolz vom Einfluss, den sie und der Regisseur, der sich mit dieser Inszenierung nach drei Spielzeiten ebenfalls als Dramaturg aus Meiningen verabschiedet, auf den Text demnach hatten nehmen können. Das Resultat ist ein Stück wie mit dem Zeigestock geschrieben, das seine Figuren stereotypisch und plattitüdenhaft ausstellt. Es fehlt ihm jegliche Verführungskraft: Mag sich eine Figur verrennen, so läuft doch kein Zuschauer Gefahr, ihr zu folgen.

Deigner verwendet ein probates Mittel der Überschreibung: das Theater-im-Theater-Spiel, worauf bereits der Titel hinweist, der kaum zufällig „Marat/Sade“ von Peter Weiss apostrophiert. Zuletzt formten etwa Amir Reza Koohestani und Mahin Sadri die Büchner-Überschreibung „Dantons Tod Reloaded“ in Weimar und Hamburg auf eine zwingende Art zur Theater-im-Theater-Erzählung, in Meiningen selbst schickte Andreas Kriegenburg seine „Hamlet“-Inszenierung auf die Probebühne.

Nun also spielt ein Staatstheater freie Truppe: eine, die schonmal bessere Tage gesehen und jedenfalls mehr Dringlichkeit und Leidenschaft verspürt hat. Ihrem Chef und alternden Hauptdarsteller mit dem sprechenden Namen Karl Max kam das Rebellentum abhanden, seine einstige Partnerin Edda, inzwischen als Souffleuse zur Randfigur degradiert, lebt das ihre zwischen Frust und Wut als sich schleichend radikalisierende Querdenkerin aus. Sie hat noch einen Blick für gutes und schlechtes Theater, doch der auf die Welt wirkt fanatisch ideologiegetrübt.

Wie deren jugendliche Abziehbilder wirken Chris und Clara in der Truppe, die gerade eine „Kohlhaas“-Vorstellung in der Mehrzweckhalle vorbereitet. Er liest Brecht und neomarxistische Theorie, will aber für eine Hauptrolle bei Netflix kündigen, sie ist von ihm schwanger, kriegt aus ihm kein „Ich liebe dich“ heraus und träumt zuversichtlich von Mutterschaft und Schauspielkarriere.

Es liegt in dieser Rahmung kein Gewinn außer der Erkenntnis, dass es auch im Theater solche und solche gibt. Das weitet den Abend nicht, sondern macht ihn nur kleiner. Wenn eine „Kohlhaas“-Szene unvermittelt abbricht und ins Private der Figuren kippt, wechseln sie damit gleichsam vom tiefen ins seichte Gewässer. Mit Kleists Text selbst aber gelingen vor allem Pauline Gloger (Clara) und Jan Wenglarz (Chris) starke Momente: Sie zum Beispiel als Kohlhaasens Lisbeth, er als dessen Knecht, der die Nachricht von Lisbeths Tod überbringen muss, beide zusammen an Seilen auf einer Schräge in Schieferoptik, die rechts neben einer Drehscheibe vor ungenutztem Greenscreen steht, in der Erzählung vom Rachegemetzel auf der Tronkenburg und vom Brandschatzen in Wittenberg.

Vor allem Gloger beglaubigt selbst, was ihrer Figur zugeschrieben wird: auf allerbesten Wegen zur großen Schauspielerin zu sein, mit einem ganz eigenen, immer sofort fesselnden Ton und unmittelbar wirkungsmächtiger Energie. Thomas Büchel muss als Karl hingegen einen schlechten respektive in der Routine schlecht gewordenen Schauspieler geben, was auf ihn selbst abfärbt. Er findet zu kaum zur Differenz zwischen absichtsvoll tönernen Kohlhaas-Auftritten und dem, der das spielt. Nur in der resignativen Furcht, vom in Edda kurzzeitig inkarnierten Sturm gegen die alte Welt hinweggefegt zu werden, gelangt er zur mehr Gestaltungskraft. Er steht politisch für die Mitte und müsste sie auch in der Inszenierung füllen, hinterlässt aber eine Leerstelle. Anja Lenßen hingegen befindet sich, anders als ihre Edda, selbst am Rand in ihrer Mitte und erzielt von dort aus einige spielerische Wirkungstreffer.

Als dritte Ebene hat Deigner von Hieronymus Boschs Triptychon „Der Garten der Lüste“ inspirierte surreale Traumsequenzen eingefügt, die diese Inszenierung in Vogelmasken zeigt („Alles, was hier geht und steht, bewegt sich federnd jetzt“) und die eine Welthaltigkeit zwischen Himmel und Hölle suggerieren, die andernorts besser zu finden wäre: indem man einfach Kleist spielte. Diesem neuen Stück aber gehen einfach nur die Gäule durch.

Erschienen am 4.6.2024

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