Theater der Zeit

Thema

Die Resonanz zwischen dem dunklen Text und dem lebendigen Material

Lehm – Erde – Asche als theatrale Allegorien

Der Figurentheaterkünstler Simon Wauters berichtet davon, wie er mit dem Material Lehm für sich eine angemessene Ausdrucksform für ein Stück über den Holocaust gefunden hat. In der Auseinandersetzung mit dem Lehm begann ein künstlerischer Lernprozess über die empfindliche und auch produktive Beziehung zwischen Form und Inhalt.

von Simon Wauters

Erschienen in: double 45: An die Substanz – Material im Figurentheater (04/2022)

Assoziationen: Akteure Europa Puppen-, Figuren- & Objekttheater Dossier: Material im Figurentheater

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Wie kann man sich künstlerisch mit der unfassbaren Gewalt auseinandersetzen, zu der Menschen fähig sind? Wie kann man vermeiden, eine der größten Tragödien der Menschheitsgeschichte auf redundante Bilder zu reduzieren? Wie kann man etwas, das der Hölle so nah ist, mit poetischen Mitteln angehen? Wie soll man den Realismus eines aus der Erde geborgenen Augenzeugenberichts aus dem Zentrum der Krematorien in Objekttheater übersetzen?

Angesichts dieser schwierigen und empfindlichen Fragen erschien der Gebrauch von Lehm wie eine Befreiung. Der Lehm und seine weltlichen Symboliken antworteten auf eine ganze Reihe unserer dramaturgischen und philosophischen Zweifel. In vielen Gründungsmythen ist der Mensch aus Erde geschaffen. In der hebräischen Mystik ist der von Menschen erschaffene Golem ein Lehmgeschöpf, das Seele und Sprache entbehrt. Die Manipulation des Lehms verlangt vollen Körpereinsatz. Und schließlich wurden die Manuskripte von Zalmen Gradowski unter der Erde von Auschwitz gefunden.

Aus all diesen Gründen erschien der Lehm wie eine Selbstverständlichkeit.

Daraus ergaben sich nun neue Fragen für uns: Wie gelingt es, mit einem einfachen Stück Erde die Empathie der Zuschauer*in zu wecken? Wird sie/er sich in dieses Material hineinversetzen? Wie kann man dagegen eine Verdinglichung der Erde erreichen? Wie wird der Lehm auf die unangemessene und dauernde Manipulation im Objekttheater reagieren? Wie wird mein Körper auf die Beständigkeit des Lehms reagieren?

Um schließlich diesen Lehm zu vermenschlichen, habe ich mein Gewicht (60kg!) in braunem, feinem Töpferlehm gekauft. Davon überzeugt, dass diese Masse schnell trocknen und schwinden würde, habe ich in diesem Moment die unendliche Widerstandskraft dieses Materials vollkommen unterschätzt. Es genügte, sie mit einem feuchten Tuch zu bedecken und in Plastik einzuwickeln, um sie am nächsten Tag wieder vollkommen bereit und formbar zu finden. Sogar nach einer Pause von einem Jahr war sie immer noch einsatzfähig. Der Lehmblock ist also selbst nach vier Aufführungsjahren immer noch derselbe, immer noch 60kg!

Die Tatsache, dass wir in Zalmen Gradowskis Text immer wieder den Glauben an die untrennbare Einheit zwischen den Männern des Sonderkommandos finden, hat uns veranlasst, das Stück mit dem 60kg-Monolith zu beginnen. Durch den menschlichen Zynismus, die Angst, die Kerkerwelt und „[…] die Schwäche des Menschen – sich aus Todesangst keiner Gefahr aussetzen zu wollen […]“1 zerfällt diese Überzeugung und auch der homogene Lehmblock mit der Zeit zu Nichts. Zalmen, seine Kameraden und der Lehm werden zerteilt, zerschlagen, zerrissen, herausgerissen und abtransportiert … Im Verlaufe der Erzählung wird diese Lehmmasse zu kleinen, ihrem Schicksal überlassenen Lehmfiguren, zu einer Baracke, zu monumentalen und undurchdringlichen Türen, zu sich brüderlich umarmenden Statuen, zu Gaskammern und Krematoriumsöfen, und schließlich zu aufgestapelten Leichen.

Diese Allegorien bleiben jedoch Vorschläge. Der Lehm erlaubt den Zuschauer*innen je nach ihren eigenen Lebensgeschichten, ihren Wahrheiten und Empfindsamkeiten eigene, intime Interpretationen zu entwerfen.

Aus dem Französischen von Meike Wagner

www.chargedurhinoceros.be

1 Zalmen Gradowski. Au Coeur de l’Enfer. Übersetzung Batia Baum, Herausgeber Philippe Mesnard, Paris: édition Kimé, 2001.

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