Kunstinsert
Amphitheater und Jutesäcke
Die Kuratorin Solvej Helweg Ovesen über die Praxis von Space Making in Ghana im Gespräch mit Ute Müller-Tischler
von Solvej Helweg Ovesen und Ute Müller-Tischler
Erschienen in: Theater der Zeit: Sterne über der Lausitz – Die Schauspielerinnen Lucie Luise Thiede und Susann Thiede (03/2022)
Assoziationen: Performance Akteure Afrika

Solvej Oversen, Sie sind gerade zurück aus Ghana, wo Sie mit Ibrahim Mahama das Projekt „Existing Otherwise“ auf die Beine gestellt haben. Ibrahim Mahama ist ein Konzept- und Installationskünstler, der mit seinen grandiosen Verhüllungsaktionen aus gebrauchten Jutesäcken auch in Europa bekannt wurde. In Tamale hat er mit dem Red Clay Studio, SCCA und Nkrumah Voli-ni ein eigenes Kunstzentrum aufgebaut. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit den XO-Curatorial Projects?
Ich hatte den Wunsch, mit ihm als Künstler zu arbeiten und war froh, als Bonaventure Soh Bejeng Ndikung und ich ihn 2015/2016 im Rahmen von „An Age of Our Own Making“ wegen seinen spektakulären Arbeiten auf der Documenta 14 in Athen und Kassel für mehrere Installationen gewinnen konnten. Seitdem stehen wir im engen Austausch, und er hat mich damals gleich zu Beginn in das Red Clay Studio in Tamale eingeladen. Als dann die Pandemie in Berlin alles lahmlegte, hat er vorgeschlagen, dass wir uns weniger mit Politikern rumschlagen sollten, als einfach mit der Kunst weiterzumachen. Wir haben dann während des weltweiten Sabbaticals der Künste unser gemeinsames Projekt „Existing Otherwise“ im Frühling 2020 entwickelt.
Das Movement Research Program in Berlin Wedding war das Ergebnis und eine Reaktion auf die Phase, als das Sozialamt die Ausstellungsräume der Galerie Wedding übernahm. Mit dem auf Performance und Raum fokussierten Kunstprogramm begann damals die Vorbereitung für „Existing Otherwise“ in Ghana. Was denken Sie, war dort anders?
Durch die Pandemie kamen wir aus einer sehr reglementierten Welt, die uns gezwungen hatte, neue Wege zu gehen. In Ghana hatten wir sehr viel Freiheit. Unser Gastgeber, Ibrahim Mahama, der Gründer von Savannah Contemporary Art Centre (SCCA), Red Clay Studios und Nkruma-Voli-ni, hat uns allen verfügbaren Raum angeboten – das sind mehr als 3000 Quadratmeter. Seine Red Clay Studios, in dem ein Teil der „Existing Otherwise – The Future of Coexistence“-Ausstellung (man kann sich die als eine Art Festival vorstellen) stattfand, war einfach ein Traum. Es liegt in einer wüstenähnlichen Landschaft in Nord Ghana. Den Ausstellungs- und Event-Ort hat er mit einem Amphitheater für Performanceart selbst konzipiert und mit seinem Vater, einem Bauingenieur, aufgebaut. Er hat es Parliament of Ghosts genannt. Was für ihn so viel bedeutet wie, Politik in die eigene Hand zu nehmen und demokratische, aber alternative Handlungsformate zu praktizieren. Seine Idee war, ein Parlament zu schaffen, in dem Kunst Visionen definieren und neue Diskurse auch zur kolonialen Geschichte entstehen können. Hier haben wir einen interdisziplinären Movement Research Workshop zum Thema Leitung und Gruppenbilder durchgeführt.
Wenn ich mir europäische Amphitheater vor Augen rufe, dann entsteht der Eindruck von Größe und Weite. In welchen Dimensionen muss man sich ein Amphitheater im afrikanischen Tamale vorstellen?
Man muss sich von den hiesigen Vorstellungen von Raum verabschieden. Wir hatten grundsätzlich viel mehr Platz, als wir bespielen konnten und viel war draußen und noch nicht überdacht.
Unsere drei Ausstellungsräume waren ungefähr zwischen zehn und dreißig Minuten voneinander entfernt, und ich würde sagen ungefähr jeweils ca. 500 bis 1500 Quadratmeter groß. Man kann sich Red Clay ein bisschen wie die Landschaft in „Out of Africa“ vorstellen. Wer den Film gesehen hat, kann sich bestimmt an dieses unendliche, warme Licht und die rote Erde mit ein paar Bäumen erinnern. Um eine Idee zu bekommen: Im Außenraum um die Red Clay Studios herum hat Ibrahim Mahama fünf Flugzeuge hingestellt. Die unendlichen räumlichen Möglichkeiten in diesem nördlichen Teil von Ghana sind haptisch einfach überwältigend, und dass die Kunstinstitutionen die Stadt und deren Bildungsangebote entwickeln, ist sehr entscheidend.
Ibrahim ist gerade dabei, das Parliament of Ghosts zu überdachen und zusätzlich 12 Residency-Räume zu bauen, wo man dann übernachten kann. Das ist fantastisch. Er hat uns animiert, ganz anderes und größer zu denken. Das war das Spannende an seiner Co-Kuration mit mir. Wir haben die Konzepte mit den Künstlerinnen gemeinsam entwickelt und über die Zeit den Boden für eine starke Beziehung zwischen allen Projektbeteiligten geschaffen, damit die Zusammenarbeit bei der Umsetzung im Januar 2022 gut funktionieren konnte.
Was die kreative Raumentwicklung angeht, von der die Ausstellung sehr viel von Ibrahims Herangehensweise profitiert hat, möchte ich die Künstlerin Sandra Kyeraa erwähnen. Sie hat mit ihrer Installation „Cul de Sac“ (Sackgasse) ein überdimensioniertes Labyrinth aus Holz und Erde gebaut und mit Jutesäcken ausgekleidet, um Blumen wie den Christdorn zu pflanzen, der in langen Trockenphasen überleben kann. Die allgegenwärtige Aufregung, verloren zu sein, war in dieser Installation ein wichtiges Thema und gehörte auch zur Idee von Anders Existieren.
Klima und Ernährung waren in den Red Clay Studios auch wichtige Themen. Welche Rolle haben diese in den Kunstwerken gespielt?
Mit „Purple Flows“ widmete sich Tracy Na Koshie Thomson der Zukunft von Essen, der Essenverschwendung, Qualität, und den gleichzeitigen Bedarf.
Sie hat unterschiedliche Sorten von Mehl pink und grün eingefärbt und mit Sand gemixt. Ausgestreut in der großen Ausstellungshalle, hat es wie eine Mondlandschaft oder Wüste, fast virtuell, gewirkt. Den riesigen Vorhang im Raum hat sie aus einer essbaren Paste verklebt. Was man sieht, ist ein Stoff, der teilweise durchsichtig ist und wie eine ausgetrocknete Erdoberfläche oder trockene Haut aussieht. Diese organischen Materialien haben eine neue ökologische Formensprache für mich herausgebracht – im Sinne einer immersiven Landschaft, die aus Essen besteht, wobei wir das Material nicht als Nahrungsmittel erkennen, aber die unglaublich vielen, oft jungen Besucher:innen einbinden sollten.
Die postkolonialen Diskurse erleben gerade eine globale Aufmerksamkeit und sind auch sehr präsent in Europa. Ibrahim Mahama scheint eigene Wege des Empowerments zu finden. Mit den Red Clay Studios, Scca und Nkrumah Voli-ni kehrt er die kontinentalen Einflüsse um. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Das SCCA, zu dem drei Ausstellungsorte und auch die Red Clay Studios und Nkrumah Voli-ni gehören, ist ganz eindeutig ein sehr erfolgreiches kreatives Projekt des Empowerments und Raumbildung für andere Existenzformen. Ibrahim Mahama baut Infrastruktur, damit Leute andere Leben leben und andere Kunstpraxen und Wissen generieren können. Wir hatten dort auch die Möglichkeit, einige Reschooling-Programme umzusetzen. Täglich kommen ca. hundert Schüler in die „Existing Otherwise“-Ausstellung. Ibrahim wusste von Beginn an, dass er alles selber machen muss, dass er keinerlei staatliche Unterstützung von Ghana erhält, nur vom Westen, aber das ändert sich hoffentlich langsam. Und, er fürchtet sich nicht vor Raumdimensionen und den Massen von Menschen. Ich glaube, das ist fast das Wichtigste bei ihm und für unser Projekt. Ich muss sagen, dass nicht nur Ibrahim Mahama, sondern die gesamte Gesellschaft in Tamale offen gewesen ist und unserem Team nach den Beschränkungen der letzten Corona-Jahre eine Lebendigkeit zurückgegeben hat. Ich muss sagen, dass uns die ganze ökologische und ökonomische Arbeitsweise mega beeindruckt hat. Immer wurde überlegt, welche Arbeiten können für viele Leute lange da sein und wie schafft man mit Kunst einen Raum zum Überleben – mental und sozial. Diese Entrepreneur-Rolle von einem Künstler und von Kunstwerken empfinde ich als visionär. Gerade jetzt auch für uns in Deutschland. Wir befinden uns momentan in einer Situation, in der wir alles kontrollieren wollen.
Da war es spannend zu sehen, dass man in Tamale diese Kontrolle gar nicht erst versucht hat. Diese Offenheit, dieses accept von Kollaps, dass bestimmte Sachen nicht funktionieren und schnell immer neue Entscheidungen notwendig werden, hat uns erstaunt und begeistert. Dass andauernd geschaut wurde, wie sich die Community entwickeln kann und nicht austickt, weil man die Leute isoliert oder zurückhält, das war beeindruckend. Diesen Entrepreneur-Geist haben wir mitgenommen.
Dass es möglich ist, trotz der ständigen Verhinderungen, Wert darauf zu legen, mit Kunst weiterzuarbeiten, hat uns das Projekt in Ghana gezeigt. Das war wie eine Befreiung. //