Theater der Zeit

Sprechen aus der Körpermitte

Wie wir zu einem guten Stand kommen

von Viola Schmidt

Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)

Assoziationen: Schauspiel

Abb. 6 Aufrichten 2
Abb. 6 Aufrichten 2Foto: Philipp Kronenberg

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Das Gewicht unseres Körpers bildet sich auf einer relativ kleinen Auflagefläche ab. Unsere Füße tragen die Last des Körpers, und die Art und Weise, wie sie das Körpergewicht tragen, hat Einfluss auf Stabilität und Zentrierung. Viele Menschen nutzen die Tragfähigkeit ihrer Füße nicht optimal aus, wodurch es zu Bewegungseinschränkungen in den Kniegelenken, im Becken und in der Wirbelsäule kommen kann. Gutes Positionieren im Raum erfordert einen flexiblen Stand. Unsere Füße sind kleine Wunderwerke bestehend aus 26 Knochen (das ist etwa ein Viertel aller Knochen des menschlichen Körpers), zahlreichen Gelenken, Muskeln, Bändern und Sehnen. Der Fuß besteht aus der Fußwurzel, dem Mittelfuß (Ferse, Sohle, Ballen, Spann und Rist) und den Zehen. An den Füßen befinden sich viele Druckrezeptoren, die für die Positionierung und Orientierung des Körpers verantwortlich sind, sogenannte Propriozeptoren. Mit unseren Füßen gehen, laufen, tanzen und springen wir durchs Leben. Barfuß laufen auf unebenem oder steinigem Grund verändert unsere Bewegungen. Gesunde Füße berühren den Boden im Bereich des Längsgewölbes nicht. Dadurch wirkt es wie ein Stoßdämpfer. Das Körpergewicht verteilt sich hauptsächlich auf der Ferse und dem Großzehenballen sowie auf dem Fußaußenrand, der großen Zehe und den übrigen Zehen und ihren Ballen. Platt- und Senkfüße lassen, meist durch eine zu schwach ausgebildete Fußmuskulatur, das Fußgewölbe einsinken. Der Fuß kippt nach innen, das heißt, der äußere Fußrand wird angehoben, und die Ferse bewegt sich nach außen. Um die Fußmuskulatur zu stärken und einen besseren Stand zu gewährleisten, gibt es eine Reihe von unterstützenden Maßnahmen. Auf Anregung einer befreundeten Osteopathin arbeite ich seit einigen Jahren auf der Grundlage der propriozeptiven sensomotorischen Fazilitation (Kurzfußtherapie) nach Vladimir Janda und Marie Vavrova.39 Bei hüftbreit und parallel aufgestellten Füßen und nach außen gerichtetem Blick werden im Sitzen oder Stehen die Zehen beider Füße zunächst angehoben, gestreckt und gespreizt und anschließend gestreckt und gespreizt zum Boden geführt und dort fest aufgelegt, als würden sie angesaugt. Der stärkste Auflagedruck wirkt am Großzehengrundgelenk. Gleichzeitig wird der Druck von Ferse und Großzehenspitze am Boden verstärkt. Dadurch entsteht bereits ein Gefühl von muskulärer Spannung im Fußgewölbe, so, als verkürze sich der Fuß zwischen fest aufliegendem Großzehenballen und fest aufliegender Ferse. Der kurze Fuß bewirkt muskuläre Spannung im eingefallenen Fußgewölbe, das sich dadurch nach oben in die Wölbung bewegt. Gleichzeitig wird die Innenschenkelmuskulatur aktiviert, die Knie rotieren nach außen, das Becken öffnet sich, die Wirbelsäule richtet sich auf. Wir fühlen uns größer und breiter aufgestellt und werden von anderen als offener und zugewandter wahrgenommen. Gleichzeitig geben wir das Gewicht unseres Körpers über die Füße an den Boden ab.

Arbeiten wir uns weiter durch den Körper nach oben, erfahren wir etwas darüber, wie wir gut zu dem stehen, was wir sagen. Stark durchgedrückte Knie führen ins Hohlkreuz und hindern eine freie Atmung, da die Brust- und Bauchmuskulatur überdehnt wird. Meist reicht die Vorstellung einer gelenkigen, das heißt flexiblen Verbindung im Kniegelenk, um die Muskulatur entsprechend zu lösen, den Atem zu befreien und eine Zentrierung im Becken wieder möglich zu machen. Wird das Becken vor dem Körper platziert, verlagert sich der Körperschwerpunkt nach vorn und der Oberkörper bewegt sich, um das Gleichgewicht zu halten, nach hinten. Zentrierung wird auf diese Weise erschwert. Wir richten die stimmliche Äußerung so entweder nach oben oder nach unten. In dieser Position sind wir weniger aufgerichtet und werden als geschlossen wahrgenommen. Ein im Stand vor dem Oberkörper platziertes Becken führt ins Hohlkreuz, was gerichtetes Bewegen und Sprechen erschwert. Wird das Becken hinter den Körper geschoben, kommt das einer Verbeugung gleich. Die stimmliche Äußerung wird nach unten gerichtet, wenn der Kopf der Abwärtsbewegung des Oberkörpers folgt. Oder der Kopf wird kompensierend in den Nacken gelegt, was zu unfreier Stimmgebung führt. Diese Körperposition führt auch zu einer Verkleinerung und wird als geschlossen beschrieben und auch selbst erlebt. Das Becken kann auch neben dem Körper seinen Platz finden. Dann verlagern wir den Körperschwerpunkt auf die eine oder andere Seite und stehen Standbein-Spielbein. Das kann Ausdruck von Langeweile, Unsicherheit, ein Flirt oder einfach eine Angewohnheit sein. Da das Becken über das Kreuzbein mit der Wirbelsäule verbunden ist, hat die Beckenstellung einen Einfluss auf die gesamte Körperhaltung. Idealerweise findet das Becken vertikal aufgestellt seinen Platz unter dem Oberkörper. Dafür wird es leicht nach hinten gekippt. Beim Kippen des Beckens nach hinten bewegen sich beide Beckenknochen nach vorn oben und die Wirbelsäule richtet sich auf. Wir organisieren uns auf diese Weise, wenn etwas in einer größeren Distanz unser Interesse weckt. Wenn wir die Aufmerksamkeit von jemandem, der uns noch nicht gesehen hat, erregen wollen, ihm zuwinken und ihm vielleicht auch noch ein HALLO zurufen, setzen wir diese Körpertechnik automatisch ein. Wir machen uns größer und versuchen, eine Distanz zu überwinden. Die Geste des Winkens und die Stimme sind an den Mittelkörper in Form des aufgestellten, das heißt nach hinten gekippten Beckens angeschlossen. Wir sind genauso versammelt wie in der liegenden Position kurz vor dem Aufrichten des Oberkörpers im Dracula-Spiel, in der wir auf dem Boden lagen, als würden wir stehen. Unsere Lendenwirbelsäule war im Kontakt mit der Auflagefläche, hatte sich also aus ihrer S-Kurve ein wenig gestreckt. Die in der liegenden, sitzenden und hockenden Position erlebte Flexibilität von Becken und Lendenwirbelsäule können wir in der aufrecht stehenden Position nutzen, um uns zu versammeln und körperlich zu konzentrieren. Wenn wir aufrecht stehend jemandem zuwinken, uns vielleicht dabei sogar auf die Zehenspitzen erheben und dann den Arm lösen und uns zurück auf die Fußfläche stellen, können wir die Aufrichtung des Beckens beibehalten, bewusst lösen, wieder herstellen, bis das Körpergedächtnis diese kleine Bewegung abgespeichert hat (vgl. Abb. 6). Je kleiner die Bewegung, desto besser. An der Kippbewegung des Beckens nach hinten sind Bauch- und Gesäßmuskeln beteiligt. Diese Muskeln sollen nicht überstrapaziert werden, da ihre Kontraktion freies Atmen erschweren kann. Der Anus sollte also möglichst gelöst bleiben und der Körperbereich zwischen Brustbein und Schambein so weit als möglich geöffnet sein. Wie wir aus den anderen Übungen wissen, ist eine flexible Verbindung zwischen Füßen und Becken über die Beine, deren Muskulatur gelöst, aber nicht entspannt sein sollte, für eine gute Zentrierung und Bereitschaftsspannung hilfreich (vgl. Abb. 7).

 

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