Essay
Das „andere Geschlecht“ im „anderen Theater“
Geschlecht und Figurentheater – Versuch einer Einführung
Am Anfang der Recherche für dieses Heft stand ein feministischer Zugriff auf das Thema, angeregt durch die #MeToo-Debatte, die in den letzten Jahren vehement auch im deutschen Film und Theater aufgenommen wurde. Während Frauen im „großen“ Theater noch immer das „andere Geschlecht“ jenseits des Normalfalls Mann zu sein scheinen, wirkt die Lage im Figurentheater, zumindest im Bereich der Theaterarbeit, mit all den Figurenspieler*innen und -bauer*innen, Regisseur*innen und Theaterleiter*innen ziemlich gleichberechtigt und ausgeglichen. Doch wie sieht es inhaltlich und ästhetisch aus? Wie gehen Figurentheatermacher*innen mit Geschlechterstereotypen um? Wie materialisiert sich Geschlecht im Figurentheater? Im Folgenden sollen einige Schlaglichter auf Aspekte des Themas geworfen werden.
von Mascha Erbelding
Erschienen in: double 41: Puppe* – Figurentheater und Geschlecht (04/2020)
Assoziationen: Puppen-, Figuren- & Objekttheater
Was ist eigentlich „Geschlecht“? In der Folge von Judith Butlers „Unbehagen der Geschlechter“ (1990) wurden die Postulate der früheren feministischen Bewegung erweitert. Nicht nur die Zuschreibungen des sozialen Geschlechts, also der „Gender“, sondern auch das biologische Geschlecht, der „Sex“, seien Konstrukte und die binäre Einteilung der Geschlechter müsse durch gezielte parodistische Praktiken gestört und unterlaufen werden, um die Macht dieser Einteilung zu brechen. Dass auch die Kategorien von Rasse und sozialem Status mit der Unterdrückung infolge des Geschlechtes verbunden sind, machten postkoloniale Aktivist*innen seit den 1970er Jahren mehr als deutlich. Die intersektionale Theorie versucht seit den 1980er Jahren, das Zusammenwirken verschiedener Faktoren für Ungleichheit in ihrer Verschränkung und Verbindung zu betrachten. Gegen die heterosexuelle Normativität wendet sich die Queer Theorie.
Die Auflösung der Kategorie Geschlecht und des Subjektbegriffs führt aber im politischen Kampf zu einem Problem: Wer ist Akteur*in des Protests, wenn Gruppenzusammengehörigkeit durch immer größere Diversität aufgehoben wird? Und wie umgehen mit dem Erlebnis von sexistischer Diskriminierung im Alltag? Für den vorliegenden Artikel lehne ich mich an die Definition von Andrea Maihofer an: Geschlecht ist eine sehr komplexe gesellschaftlich-kulturelle Praxis mit verschiedenen Denk-, Gefühls- und Existenzweisen sowie verschiedenem intellektuellen und körperlichen Habitus.
Blickt man auf Darstellung von Geschlecht auf der Figurentheaterbühne, erscheinen drei Bereiche von Bedeutung: Die Arbeit der Künstler*innen auf und hinter der Bühne, das Material, die Puppen und Stoffe, mit denen sie auf der Bühne umgehen, und schließlich die Zuschauer*innen, die das Wahrgenommene deuten und verarbeiten.
Die Macher*innen: Figurentheater als Selbstermächtigung
Figurentheater ist zunächst fast überall Männersache.1 Frauen spielen eine Nebenrolle oder sind sogar ausgeschlossen, insbesondere dann, wenn ein hoher sozialer Status und kultureller Rang mit dem Theater verbunden ist.2 Frauen sind aber z. B. im deutschen Wandermarionettentheater des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts als Puppenspielerinnen, Kostümschneiderinnen und auch Geschäftsführerinnen als Teil eines Familienbetriebs aktiv. Zeitgleich zum Einzug der Frauen in die Kunstakademien entdecken Frauen auch die Gestaltungsmöglichkeiten des Puppentheaters für sich. Der Freiraum der kleinen Form wurde zur Spielwiese für Künstlerinnen, die sich auf den großen Bühnen nicht beweisen durften. Oft als Kunstgewerblerinnen ausgebildet, arbeiteten sie häufig mit für das Figurentheater neuen, ungewohnten Materialien: Terrakotta-Figuren bei den neoromantischen Märchenstücken der Schwestern Janssen in München (Marie Janssen, 1876–1970), die im bürgerlichen Salon ihre eigenen Theaterarbeiten präsentierten, oder rein textile Figuren etwa von der Kunstgewerblerin Else Hecht (1888-1975), der bildenden Künstlerin Marion Kaulitz (geb. 1865, gest. unb.)
oder aber die Marionetten der Gewandmeisterin Eva Regina Hildenbrand (1909-1983), die 1925 in einer „Casino-Szene“ das Nachtleben in der Weimarer Republik parodierten, expressionistisch verzerrt und grotesk. Mit dieser neuen Verwendung von weiblich konnotierten Handwerkstechniken stehen sie ganz in der Linie der bildenden Künstlerin und Dadaistin Hannah Höch, die schon 1918 postulierte: „Ihr (…) Kunstgewerblerinnen, modernste Frauen, ihr, die ihr geistig zu arbeiten glaubt, die ihr Rechte zu erwerben trachtet (wirtschaftliche und geistige), also mit beiden Füßen in der Realität zu stehen vermeint, wenigstens i-h-r müsstet wissen, daß ihr mit Euren Stickereien eure Zeit dokumentiert!“3 Die Texte der Puppentheaterstücke der genannten Frauen verbleiben jedoch meist in den traditionellen Geschlechterstereotypen, von neuen Rollenzuschreibungen ist man hier weit entfernt. Explizit feministische Puppenspiele, wie etwa den Suffragetten-Punch4, gibt es wenige. Trotz der Arbeit dieser und anderer Pionierinnen wie Sophie Taeuber-Arp oder Georgette Tentori-Klein5 blieb der Beruf des Puppenspielers vorerst in männlicher Hand. Das änderte sich nicht zuletzt durch die Akademisierung des Puppenspielerberufs, die die Ausbildung von den traditionellen Lehrmeistern abkoppelte. Mit der Öffnung hin zu bildender Kunst, aber auch zu Musik und Performance, entstanden faszinierende neue Körperbilder, neue Stoffe. Genannt seien hier etwa die verschmelzenden Puppen-Körper von Ilka Schönbein in ihrer ganzen Fragilität und unglaublichen Kraft oder die androgynen Maskenwesen eines Hoichi Okamoto. Beispiele für ein queeres Figurentheater wie Tucké Royales Solo-Abend als „Pseudo-Hermaphrodit“ (2013), oder Timo Väntsis Lecture Performance über eine Cross-Gender Prostituierte in Shakespeares Zeit, „John-Eleanor“ (2011), ließen sich heute um viele weitere Beispiele ergänzen. Die „Meister des Puppenspiels“6 sind längst ebenso Frauen* wie Männer*. Aber sind die Proben- und Inszenierungsprozesse nicht, wie in Schauspiel und Musiktheater, immer noch von „männlichen“, familienfeindlichen Maximen der Arbeit bis zur Erschöpfung geleitet? Und müsste man hier etwas ändern?
Das Material: Puppe*
Das Wort „Puppe“, abgeleitet vom lateinischen pupa, das Mädchen, hat bis heute eine weibliche Konnotation – der Begriff „Figur“ ist hier neutraler. Im Begriff der Puppe schwingt auch deutlich eine klassische Subjekt-Objekt-Beziehung mit. Die „Puppe“, weiblich konnotiert, ist Objekt eines (männlichen?) Manipulators. Die erotische, groteske Ebene dieser Beziehung erkundete der Surrealist Hans Bellmer in seinen morbiden Fotografien und Zeichnungen „Die Puppe“ (1934) und „Die Spiele der Puppe“ (1949). 2006 konfrontierte Antje Töpfer in „Pandora Frequenz“ diese Kunst-Körper mit ihrem eigenen, weiblichen, und stellte in ihrer Weiterentwicklung das Objekthaft-Passive in Frage. Das Spiel mit dem Objekt, das durch die Animation zum Subjekt gemacht wird, und die Umkehrung dieses Spiels, bei dem der Puppenspieler Objekt dieses neuen Subjekts zu sein vorgibt, öffnen dem Spiel mit der Kategorie Geschlecht neue Möglichkeiten.
Aber muss eine Puppe überhaupt ein Geschlecht haben? Natürlich nicht, möchte man antworten, aber in der Inszenierungspraxis ist man mit der Wirkung der Figur, des Materials, des Objekts auf die Zuschauer*innen konfrontiert, und deren gesellschaftlicher Prägung, die ihre Deutung der Theaterzeichen beeinflusst. Da kann eine aktive, welterforschende Lehmfigur ohne jedwede Geschlechts-attribute schnell als „männlich“ gedeutet werden, eine fürsorgliche, schüchterne vielleicht als „weiblich“ – und das sogar unabhängig vom wahrgenommenen Geschlecht der Spieler*in. Kann man diese Zweiteilung auflösen? Donna Haraway entwickelte in ihrem „Cyborg Manifesto“ bereits 1985 die Vision eines von binären Gender-Einteilungen befreiten Zukunftswesens, einem Hybrid zwischen Mensch und Maschine: „Die Cyborg Vision kann uns einen Weg weisen aus dem Irrgarten der Dualismen, mit denen wir bisher unsere Werkzeuge erklärt haben. Das ist ein anderer Traum einer gemeinsamen Sprache. Er enthält sowohl das Aufbauen als auch das Zerstören von Maschinen, Identitäten, Kategorien, Beziehungen, Räumen, Geschichten. Ich wäre lieber ein Kyborg als eine Göttin.“7
Das Publikum
Feministinnen wie Jill Dolan haben das Zuschauerlebnis von Frauen im „herkömmlichen“ Theater treffend beschrieben: Da die Handlung von männlichen Helden vorangetrieben wird und Frauen entweder in der Rolle des (jungfräulichen) Opfers oder der bösen Verführerin auftreten, sind sie gezwungen, sich entweder mit dem männlichen Helden zu identifizieren oder aber mit den Frauenfiguren mitzuleiden. Die Schriftstellerein Hélène Cixous ging sogar so weit, den Theaterbesuch mit dem Besuch der eigenen Beerdigung zu vergleichen, ist doch der Tod der weiblichen Figuren (wenn vorhanden) in der klassischen Theaterliteratur fast immer Motor der Handlung. Und etwas jenseits von Mann und Frau gibt es in den meisten Stücken erst recht nichts zu sehen. In Deutschland sind ca. 75 % der Theaterzuschauer*innen weiblich.8 Müsste der Kanon der Theater nicht erweitert und verändert werden? Nur wenige würden diese Frage heute verneinen. Aber wie sieht es mit den Klassikern im Puppentheater, den Märchen, die Kinder nach Bruno Bettelheim angeblich brauchen, und dem Kaspertheater aus? Wie umgehen mit einem Klassiker der Weltliteratur, den man fürs Figurentheater bearbeitet? Oder besser eigene Stoffe entwickeln? Die Zuschauer*innen haben an den Antworten auf diese Fragen einen großen Anteil. Denn sie sind es letztlich, die entscheiden: Welche Puppe* möchte ich sehen?
1 Der Blick des Artikels ist vornehmlich auf Europa fokussiert, die Entwicklung lässt sich aber auch in anderen Weltteilen ähnlich beschreiben – siehe Artikel von Yoko Yamaguchi in diesem Heft S. 9ff und „Women and Puppetry. Critical and Historical Investigations.“ Hg. von Alissa Mello, Claudia Orenstein und Cariad Astles, 2019. (Siehe Rezension in diesem Heft S. 46)
2 Ebd. S. 5.
3 Hanna Höch: „Vom Sticken“, zitiert nach: Johanna Függer-Vagts: Hanna(h) Höchs Ästhetik der Stickerei. In: FKW. Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur Nr. 57, Oktober 2014, S. 70.
4 Naomi Paxton: Suffragette Judy: Punch and Judy at suffrage fairs and exhibitions in Edwardian London. In: Women and Puppetry. Critical and Historical Investigations. Hg. von Alissa Mello, Claudia Orenstein und Cariad Astles, 2019, S. 126-140.
5 Ausführliche Einträge zu Janssen, Hildenbrand, Tentori-Klein und weiteren Künstlerinnen finden sich in Manfred Wegner (Hg.): Handbuch des künstlerischen Puppenspiels 1900-1945. München, 2019. (Siehe Rezension in diesem Heft S. 47)
6 Name einer vom Deutschen Institut für Puppenspiel in Bochum herausgegebenen Zeitschrift (1959-1980). Zwei der 37 Hefte stellten Frauen vor, bei wenigen weiteren sind Ehepaare beide namentlich im Titel genannt.
7 Donna Haraway: Monströse Versprechen. Coyote-Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaft. Hamburg, Berlin, 1995.
8 Gabriele Schulz, Carolin Ries, Olaf Zimmermann: Frauen in Kultur und Medien. Ein Überblick über aktuelle Tendenzen, Entwicklungen und Lösungsvorschläge. Studie des Deutschen Kulturrats, 2016.