Theater der Zeit

Auftritt

Mühlheim an der Ruhr: Im großen Format

Theater an der Ruhr / Ringlok-Schuppen / Mühlheimer Theatertage: „Ein Mensch wie ihr“ nach „Fatzer“ von Bertolt Brecht. Regie Philipp Preuss und Christine Umpfenbach, Choreografie Rafaele Giovanola, Bühne Ramallah Sara Aubrecht

von Sarah Heppekausen

Erschienen in: Theater der Zeit: Barbara Mundel – Stürzende Gegenwart (12/2022)

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Ringlokschuppen Theater an der Ruhr

Weder Party noch Pathos: „Ein Mensch wie ihr“ nach „Fatzer“ von Bertolt Brecht in der Regie von Philip Preuss und Christine Umpfenbach.
Weder Party noch Pathos: „Ein Mensch wie ihr“ nach „Fatzer“ von Bertolt Brecht in der Regie von Philip Preuss und Christine Umpfenbach.Foto: Björn Stork

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Mülheim an der Ruhr war einst Garnisonsstadt. Hier, wie im gesamten Ruhrgebiet, wurden Waffen und Munition produziert, Kriegsgefangene und Frauen in Rüstungsbetrieben eingesetzt. Genau dorthin lässt Bertolt Brecht seinen Fatzer und die drei anderen Kriegsdeserteure ziehen, diese vier Soldaten, die dann hinter der Front warten, dass der Krieg endet und die Revolution beginnt.

Genau dort, in Mülheim, haben die drei Institutionen Theater an der Ruhr, Ringlokschuppen Ruhr und Mülheimer Theatertage (gemeinsam nennt sich die Theaterallianz vier.ruhr) ihr Großprojekt „Ein Mensch wie ihr“ inszeniert, ein – so heißt es in der Selbstbeschreibung – vielstimmiger Parcours nach Brechts „Fatzer“. Mehrere Hundert Seiten Archivmaterial als Grundlage, Skizzen und Notizen, die der Dramatiker zwischen 1926 und 1931 auf Zettel und Servietten geschrieben hat. Vollendet hat er das Jahrhundertwerk – wie Heiner Müller es nennt – nie.

In Mülheim legen sie nun ihre je eigenen Regie- bzw. Choreografie-Handschriften an den Text. Philipp Preuss gräbt sich mit seinem Ensemble vom Theater an der Ruhr durch Brechts Textfetzen, bricht das Lehrstückhafte auf zu einer bilderreichen Figurenbeschau. Christine Umpfenbach, die 2021 mit ihrem Stück „9/26 – Das Oktoberfestattentat“ zu den Mülheimer Stücken eingeladen war und stets dokumentarisch arbeitet, nimmt das „Fatzer“-Material als Anlass, um über Fragen des Krieges aus weiblicher Sicht zu reflektieren. Frauen, die aus Bosnien, aus Syrien, aus der Ukraine geflüchtet sind und die Tochter eines Kriegsdeserteurs stehen bei ihr auf der Bühne. Und auch ­CocoonDance-Choreografin Rafaële Giova­nola, die ihre Tanzstücke regelmäßig im ­Ringlokschuppen zeigt, arbeitet mit Per­for­mer:innen, die aus ihren Heimatländern geflohen sind. Im Foyer der Mülheimer Stadthalle durchschreiten sie Wege des Gegen-, des Auf-, des Für-, des Miteinanders. Bevor zum kritisch-kommentierenden Finale in Brecht-Manier alle im großen Chor zusammenkommen. Ein versöhnliches Bild.

Aber von vorn. Zu Beginn sitzt das Pub­likum im Saal der Stadthalle, der Eiserne ist geschlossen (und er wird sich in der nächsten Dreiviertelstunde noch häufiger öffnen und schließen), Explosionsgewummer knallt einem um die Ohren. Das und Brechts Sätze (Fatzer: „Ich mache keinen Krieg mehr, sondern ich gehe jetzt heim gradewegs, ich scheiße auf die Ordnung der Welt“) dröhnen noch schärfer in diesen unseren Zeiten. Aber auf dem Eisernen dreht sich eine Waschmaschinentrommel im Turboschleudergang, das Video saugt ein wie in einen Science-Fiction-Film. In Preuss’ „Fragment“ bleiben wir auf Distanz, schauen dem „Egoisten“ Fatzer zu, wie er seine Kameraden hintergeht, über Frauen herfällt, wie die Idee der Revolution zum ideologisch-individuellen Machtkampf verroht. Wir schauen vor allem durch die Kamera. Wie eine Drohne filmt sie die vier von oben, verfremdet sie zu Synchronschwimmern, zu orientierungslos tänzelnden Amöben unterm Mikroskop, zeigt sie auch mal in grüner Golfkrieg-TV-Aufnahme. Was hängen bleibt von dieser rauschhaften, nicht immer einfach zu verstehenden Wort-Bild-Maschinerie ist die Erkenntnis des Tierischen im Menschen, im Soldaten wie im Deserteur. In ihren weiß-schwarzen Camouflage-Winteruniformen wirken sie irgendwie lächerlich, diese Männer.

Aber „wo bleiben wir, wir Kinder, wir Frauen? Bei all den Fatzern, Vätern, Fickern?“, heißt es dann treffsicher im Kammermusiksaal in Umpfenbachs „Jemand ohne Uniform“. Die Autorin und Regisseurin lässt die Frauen sprechen: Diana, 52, Englischlehrerin, mit ihrem Sohn aus Syrien geflohen. Anya, 21, studierte in Odessa Klavier, hat wegen des Krieges die Ukraine verlassen. Ein zehnjähriges Mädchen. Und noch mehr. Sie alle leben in Mülheim, sie alle haben vom Krieg oder seinen Folgen zu berichten. Sie schleppen Papppanzer auf die Bühne, erläutern dokumentarisches Filmmaterial, singen als Brechts Seeräuber-Jenny, mal kämpferisch, mal berührend, mal wütend, mal fordernd.

Im Foyer kommen die Performenden dann mitten aus dem stehenden, laufenden, sich unterhaltenden Publikum. Pirschen sich heran, blicken stumm herausfordernd. Zum pulsierenden Sound, der in Sirenengeheul übergeht, werfen sie ihre Glieder aus, zucken, taumeln wie Verletzte, hadern, suchen sich einen anderen Weg, vehement, werfen sich voreinander, gehen sich und uns an. Menschen wie wir. Rafaële Giovanola bringt Profi- und Laientänzer:innen zusammen, und dieses Ensemble mit den Zuschauenden. Jede ihrer Bewegungen erzählt eine Geschichte, offenbart gerade in der Zurückhaltung, in der präzisen Andeutung eine Emotion. Und wenn sie zum Ende das Publikum an den Arm nehmen, um gemeinsam den Raum zu durchlaufen wie eine Woge, dann ist das weder Party noch Pathos, sondern ein Akt der Achtsamkeit. Wie gehen wir – auch im Angesicht des Krieges – miteinander um? Ja, doch, diese Frage ist großen Aufwand wert. //

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