Auftritt
Wiesbaden: Der Schlächter von Big Cherry
Hessisches Staatstheater: „The Minutes – Die Schlacht am Mackie Creek“ von Tracy Letts. Regie/Bühne Daniela Kerck, Kostüme Hannah König
von Björn Hayer
Erschienen in: Theater der Zeit: Sterne über der Lausitz – Die Schauspielerinnen Lucie Luise Thiede und Susann Thiede (03/2022)
Assoziationen: Sprechtheater Theaterkritiken Hessen Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Aus einem nächtlichen Häuserblock heraus strahlt das Licht eines einzigen Fensters. Davor legt sich Regen wie ein Schleier über die Szenerie. Obgleich dieses Bild lediglich die Hintergrundkulisse in der deutschsprachigen Erstaufführung von Tracy Letts’ „The Minutes – Die Schlacht am Mackie Creek“ am Hessischen Staatstheater bildet, hat es eine nicht zu unterschätzende Symbolkraft: Es verdeutlicht den schweren Stand der Wahrheit inmitten einer Welt, in der man allzu vieles gern im Dunkeln versteckt hält.
So wäre es auch der Gemeindeversammlung der Kleinstadt „Big Cherry“ am liebsten, die zu Beginn der Aufführung, arrangiert von Daniela Kerck, zunächst noch durchaus heiter zusammentritt. Die Devise der in einem staatstragend anmutenden Plenum zusammentretenden Repräsentanten (u. a. Lena Hilsdorf, Christoph Kohlbacher, Tobias Lutze und Benjamin Krämer-Jenster): Business as usual – gäbe es da nicht das neue Mitglied Mr. Peel (Lukas Schrenk), der beharrlich ungemütliche Fragen stellt. Vornehmlich jene, warum das Protokoll der letzten Sitzung, an der er nicht teilnehmen konnte, verschwunden sei, treibt ihn an. Um ihn von seinem Insistieren abzulenken, verweist Bürgermeister Superba (Jürg Wisbach) auf die Agenda. Neben der Ausrichtung des Stadtfestes diskutieren die Räte mitunter auch den barrierefreien Neubau eines Springbrunnens mit dem Helden der Stadt, Sergeant Otto Pym. Während die offizielle Geschichtsschreibung ihn als Retter und Beschützer der Gemeinde gegenüber blutrünstigen Indigenen feiert, sieht die lange verschleierte Realität indessen anders aus. Nachdem Peels Nachdrücklichkeit doch noch einen Rückblick auf die vergangene Sitzung erwirkt, wird erkennbar, dass darin erstmals durch ein nunmehr marginalisiertes Gremiumsmitglied die Tatsachen über den vermeintlichen Helden zutage gefördert wurden. Demnach entlarvt sich der Verteidiger westlicher Werte als übler, rassistischer Schlächter. Fakten hin oder her – soll man sie nun, so der Streitpunkt, öffentlich machen und dadurch das wohlbehagliche Dasein der Ortsbewohner aus der Spur werfen?
Dass Kerck diese tragische Schmierenkomödie über eine korrumpierte und von Geschichtsklitterung geprägte Gesellschaft ohne nennenswerte Regiefinessen auf die Bühne bringt, mag wohl auf das Ansinnen zurückzuführen sein, insbesondere dem Text mit seinen gleichnishaften Zügen Raum zu geben, wirft er doch nicht zuletzt ein gleißendes Schlaglicht auf unseren in Teilen widersprüchlichen Umgang mit politischer Korrektheit und aufrichtiger Erinnerungskultur. Wie viel Ehrlichkeit verträgt eine Bevölkerung? Auf wie viel Verdrängung gründet sie ihr Selbstverständnis und ihre Moral? Lediglich kurze Stromausfälle, begleitet von einem elektrischen Flackergeräusch, die den mehrfachen Übergang zwischen der gegenwärtigen und vergangenen Sitzung einleiten, vermitteln auf Ebene der Inszenierung, dass es in diesem Gemeinwesen so manche Störung gibt. Anfangs als Idealist angetreten, wird Peel sie am Ende nicht der Öffentlichkeit aufzeigen. Zum Zynismus des Dramas gehört schlussendlich, dass niemand den Weg der Aufarbeitung einschlägt. Zurück bleibt daher eine verschworene Gemeinschaft, die – in Verkehrung des Postulats Adornos – das gute Leben im falschen hinnimmt.
Man mag diesem Abend seine Scharfzüngigkeit, seinen Witz, seine Ironie und allen voran seine Aktualität zugutehalten. Auch kann man gegenüber den stellenweisen Längen und den etwas zu klischierten Figuren Nachsicht üben. Enttäuschend mutet hingegen die fehlende Handschrift der Regie an, die sich zu sehr auf den Dialogen ausruht und kaum zündende, schlagkräftige Bilder findet. Nichtsdestotrotz lohnt der Besuch, da allein der Text jenes Phänomen anschaulich diskutiert, das Slavoj Žižek unter dem Begriff „Postdemokratie“ verhandelt, nämlich eine in ihrer diskursiven Müdigkeit vollends erlahmende, bräsige, dekadente Gesellschaft. Neben der Unterhaltung bezieht dieser Abend seine Legitimation deswegen vor allem aus der Mahnung – zur Wachsamkeit und zur Haltung. //