Theater der Zeit

Festivals

Baseball, König und Konsumidol

Das diesjährige Festival Theaterformen in Braunschweig brachte zeitgenössisches südostasiatisches Theater auf die Bühne

von Theresa Schütz

Erschienen in: Theater der Zeit: Peter Kurth: Die Verwandlung (09/2016)

Assoziationen: Performance Sprechtheater Asien Niedersachsen Akteure

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Dringlichkeit. Das war ein zentrales Kriterium Martine Dennewalds für die Auswahl der insgesamt zwölf internationalen Produktionen des diesjährigen Festivals Theaterformen in Braunschweig, das mit einem Fokus auf zeitgenössisches Theater aus Japan (Toshiki Okada und Toco Nikaido/Miss Revolutionary Idol Berserker), Südkorea (Kyung Sung Lee), Singapur (Ho Tzu Nyen) und Thailand (Thanapol Virulhakul) begann und von einem Forschungsatelier zum Thema „Our Common Futures“, organisiert vom Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim in Kooperation mit dem Internationalen Forschungskolleg Interweaving Performance Cultures der Freien Universität Berlin, begleitet wurde. In Zeiten globaler Krisen ging es hier, emphatisch betrachtet, um nichts Geringeres als die Frage, ob und inwiefern Theatermacher mit und durch ihre Kunst als gesellschaftspolitische „change agents“ wirken können.

Sung Hee Wi, eine südkoreanische Schauspielerin, die eine Japanerin spielt, und Aoi Nozu, eine japanische Schauspielerin, die eine junge Frau aus Seoul spielt, betreten mit je einem Baseballhandschuh die leere Bühne der Inszenierung „God Bless Baseball“ von Toshiki Okada. Die beiden sind durch körperliche Gesten der Unbeholfenheit sowie Unkenntnis über Baseball verbunden. Der koreanische Schauspieler Yoon Jae Lee, der einen Japaner spielt, klärt die beiden Frauen auf. Er selbst hasst den Sport, kennt ihn aber, weil sein Vater ihn damals in die Nachwuchsmannschaft kommandierte. Anhand praktischer Übungen beginnen die beiden zu verstehen, was sich hinter den Begriffen Inning, Batter und Pitcher verbirgt. Pijin Neji vervollständigt das Quartett und repräsentiert mit einer eindrücklichen Körpertechnik ritualisierter Tanz-Gesten, die zwischen Butoh und Cosplay anzusiedeln sind, den japanischen Baseballspieler der amerikanischen Major League Ichirō Suzuki. Er (v-)erklärt Baseball als Allegorie auf das Leben: Auszug, Abenteuer, Homerun. Ein weiterer Mitspieler in Gestalt einer aufgezeichneten (englischsprachigen) Stimme schaltet sich ein. Sie hat ihren akustischen Ursprung in dem großen, bislang kaum beachteten weißen Lautsprecherschirm, der über der Szenerie schwebt; sie erklärt („1873 kam Baseball über einen Bürgerkriegsveteranen aus Maine nach Japan, 1904 dann nach Korea“), überwacht Übungen („Strike!“) und interveniert als Stimme des Gewissens („Denkst du wirklich so über deinen Vater?“). Dann bewirft Ichirō die drei anderen mit von Mehlstaub benetzten Bällen. Sie kommen unter einem Schirm zusammen, einem kleinen Abbild des großen über ihnen. „Bis hier war es Allegorie, was nun folgt, ist reine Vorstellung, keine Wirklichkeit“, sagt Sung Hee Wi, tritt heraus und bespritzt den Lautsprecher mit einem Schlauch. Das aufprallende Wasser lässt die weiße Farbe herabfließen. Yoon Jae Lee tut es ihr nach. Wir haben es hier mit einem metaphernstarken Theater der Körper zu tun, das Wege aufzeigen will, wie sich Südkorea und die ehemalige Kolonialmacht Japan durch Geschichtsaufarbeitung und Reflexion von gegenseitigen (Un-) Abhängigkeiten (hier am Beispiel des Kulturimports Baseball) neu begegnen könnten.

„All you need is love“, singen die Beatles vom Band, und ein Pärchen (sie in Rosa, er in Blau) strahlt mich an, als ich treppauf den schummrigen kleinen Zuschauersaal im Haus drei betrete. Harter Wechsel: laute Hymne, Licht. Sechs Performer, die bereits auf der Hinterbühne bereitstanden, bilden das Tableau vivant „Hipster the King“ von Thanapol Virulhakul und seinem Democrazy Theatre Studio aus Bangkok. Sprache gibt es hier nur als stumme Übertitelung: „Sie sind die Hipster-Führer. Sie sind vereint und tanzen regungslos. Sie werden es erdulden, für Sie, das Publikum, das sie lieben.“ Die Performerinnen und Performer tragen mehrere Schichten Kostüm übereinander und blicken uns konzentriert, aber freundlich-direkt an. „Möchten Sie nicht helfen? Sie können Liebe und Harmonie geben.“ Natürlich wollen wir und spenden tosenden Applaus. Ein prüfender Blick des burschikosen Einlass-Duos kontrolliert erst uns, dann das Tableau. Zeit, etwas umzudekorieren. Leichte Requisiten werden durch schwere ersetzt, dann folgt ein ritualisiertes Freudentänzchen, und die beiden ziehen schadenfroh von dannen. Immer häufiger stehlen sich Performer seitlich aus dem Bild, legen am Rand eine Schicht Kostüm ab, machen Lockerungsübungen, um dann wieder in die Ausgangshaltung zurückzufinden. „Sie tun gerade alles für Sie.“ Wir applaudieren wieder. „Sie können ihnen helfen und an ihre Stelle treten.“ Zu unserer aller Unterhaltung ersetzen drei junge Zuschauer kurzfristig Leerstellen im Bild. Wieder Applaus, Requisitenwechsel, Abtragen weiterer Kostümschichten. Ikonen wie Frida Kahlo, Aung San Suu Kyi, Che Guevara, Mao und Steve Jobs schälen sich heraus. Applaus. Die Situation ist klar: Mehr wird hier nicht passieren, es sei denn, man interveniert. Will man das? Nein, lieber sitzen bleiben, schauen und warten, das ist bequemer. Und genau hier liegt die reflexive Quintessenz: Indem wir nur Zuschauende bleiben wollen, wirken wir an der etablierten, machtvollen Repräsentationsstruktur aktiv mit. Thailand ist seit einem Putsch im Mai 2014 eine Militärdiktatur, die formell vom König Bhumibol Adulyadej gebilligt wird. Wer die Monarchie kritisiert, wird aufs Schärfste bestraft. „Keep calm and love me“, rät deshalb auch die letzte Texttafel dieser konsequenten, in Thailand als mutig-subversiv geltenden Arbeit.

In Regencape und mit Ohrstöpseln sitze ich im Lot-Theater. „Extreme Voices“ von Toco Nikaido alias Miss Revolutionary Idol Berserker wird nur knapp 40 Minuten dauern und doch maximal überfordern, eine Reizüberflutung: auf der visuellen Ebene durch Videoprojektionen auf drei Seiten und etliche ineinandermontierte Show-Nummern von rund 40 tanzenden, grinsenden, kreischenden, hüpfenden und mit Leuchtutensilien wedelnden Japanern, auf der akustischen Ebene durch ohrenbetäubende, synchron abgespielte Popmusik, auf der olfaktorischen und haptischen Ebene durch diverse Eimerladungen Wasser, schleimiges Seafood und Konfetti, das sich über einen ergießt. Absolut gaga. Bezug genommen wird hier auf das in der zeitgenössischen japanischen Popkultur weit verbreitete Phänomen der sogenannten Idorus. Das sind kostümierte Performer im Manga- oder Anime-Look, gleichsam menschliche Kopien virtueller Idole, die ganze Horden von Fans (Otaku) um sich bilden, die sie ihrerseits kopieren, ihnen nacheifern und auf Konzerten mit sogenannten Otagei-Choreografien huldigen. Selfies und Social Media bilden dabei die Bühnen für die Aneignung dieser künstlichen Identitätsmasken und wirken als affektive Katalysatoren dieser massenhaften Gleichschaltung von Kulturkonsumenten.

Sind das Arbeiten, die die Welt verändern? Vielleicht nicht im Großen, im Kleinen auf jeden Fall. Die eingeladenen Produktionen verfügen über ein besonderes Gespür für den Einsatz von Metaphern, um politisch Kompliziertes, wo es Not tut (z. B. vor der Zensur), zu chiffrieren, und für starke Körpersprache zur Thematisierung von Machtstrukturen. Es sind Positionen einer größtenteils global sozialisierten jungen Künstlergeneration, die überraschen, weil sie (formal) tatsächlich viel weniger fremd sind, als man vielleicht erwarten würde. Produktive Befremdung stellt sich lediglich ein, wenn man sich mit seinem eigenen Unwissen konfrontiert sieht und wenn man realisiert, dass einem die spezifische Vor-Ort-Rezeptionserfahrung in den südostasiatischen Koproduktionsländern hier leider nicht mitgeliefert werden kann. //

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