Theater der Zeit

Auftritt

Theaterhaus Jena: Theaterschlaf mit Erweckungserlebnis

„rhapsody“ von Azeret Koua (UA) – Regie Azeret Koua, Bühne und Video Nicole Marianna Wytyczak, Kostüme Elizaweta Veprinskaja, Choreographie Jasmin Avissar, Musik Lukas Pergande

von Michael Helbing

Assoziationen: Theaterkritiken Thüringen Azeret Koua Theaterhaus Jena

Albtraum mit drei unheiligen Königen: Saba Hosseini und Ioana Nițulescu sowie Jonathan Perleth, Iman Tekle und Florian Thongsap Welsch in Jena "rhapsody".
Albtraum mit drei unheiligen Königen: Saba Hosseini und Ioana Nițulescu sowie Jonathan Perleth, Iman Tekle und Florian Thongsap Welsch in Jena "rhapsody".Foto: Joachim Dette/Theaterhaus Jena

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Die neue Ära kündigt sich außergewöhnlich an: mit einem Theatervorhang! Blau und gewellt hängt er vor dem wie üblich um neunzig Grad gedrehten Guckkasten, zur Seitenbühne hin, die seit langer Zeit den Zuschauerraum beherbergt. Jenas Theater besteht nur aus einem Bühnenhaus. Und ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, in den vergangenen drei Jahrzehnten hier schonmal einen Vorhang gesehen zu haben. Er dürfte allerdings, so, wie er da jetzt hängt und bald hin und her schwankt, auch kaum zum neuen Standard erhoben worden sein von einem oder für ein Team, das soeben dieses Theaterhaus übernommen hat, zunächst für drei, maximal für sieben Jahre.

Dieser Vorhang gehört vielmehr zweifelsfrei zur Eröffnungsinszenierung von Azeret Koua als Autorin und Regisseurin. Die junge Frau aus Detroit mit familiären Wurzeln auch in der Elfenbeinküste, die neben Nordamerika in Deutschland und China aufwuchs, ist Mitglied der fünfköpfigen künstlerischen Leitung des Hauses. Für deren ersten Aufschlag, so kann man es nachlesen, fragte sie sich: „Wie sieht im Jahr 2024 eine Feier des Theaters aus?“ Die Gedanken- und Gefühlswelt dahinter wird mit zwei kulturellen Meilensteinen des Jahres 1924 abgesteckt: mit Gershwins Rhapsody in Blue und Bretons Surrealistischem Manifest. Beide spielen in der Aufführung allerdings keinerlei konkrete Rolle.

Koua feiert das Theater also zunächst mit einem mehr oder weniger klassischen Vorhang, der in dieser an Symbolen, Allegorien und Verweisen nicht eben armen Aufführung für das Geheimnisvolle und Rätselhafte in der darstellenden Kunst stehen könnte, das man hochleben lässt, bevor er überhaupt hochgeht. Da bleibt etwas verdeckt und verschleiert, eine gewisse Durchlässigkeit deutet sich membranhaft allerdings an. In diesem Vorhang: ein sich drehendes Tor. In diesem Tor: eine sich drehende Tür. Daran arbeiten sich Wesen mit zu sehr langen Krallen verlängerten Händen ab, in einer Eröffnungschoreografie zwischen drinnen und draußen, zwischen Traum und Wirklichkeit.

Azeret Koua und Nicole Marianna Wytyczak, ließe sich sagen, bauen Türen und Tore ins Theater ein, die in eine andere Welt führen. „Wenn sich ein Ort zum kollektiven Träumen eignet“, heißt es dazu in einer Stückbeschreibung, dann das Theater.“ Wozu mir einfällt: Lieber neunzig Minuten Theater als gar kein Schlaf. Versetzt uns diese Inszenierung doch gleichsam in aktiven Schlummer und liefert dazu, bevor sich musikalische Popwelten eröffnen, akustisches Mondlicht von Debussy: Clair de lune.

Ein Erweckungserlebnis wird gewissermaßen dennoch daraus, dann jedenfalls, wenn einem, so wie mir, ein andernorts an seinen Texten klebendes Theater allmählich auf die Nerven zu gehen begann. Dagegengestellt, bedeutet dieser Abend in seiner Form zumindest doch ein großes Fest spielerischer Mittel: Er verfügt über einige starke Bilder jenseits der Worte, er spielt mit Elementen des Tanz- oder Bewegungstheaters, er parodiert auf allerdings witzlose Art und Weise Stand-up-Comedy.

Besonders viel zu lachen gibt’s in dem als surrealistische Tragikomödie klassifizierten Stück auch sonst nicht. Dort, wo er komisch werden sollte oder wenigstens könnte, bleibt der Abend zu bemüht. Der Grundton ist ohnehin ein anderer: „Aber vor dem, was in dir steckt, kannst du nicht weglaufen— Die Dunkelheit ist längst da, frisst sich in dich hinein…“ Oder: „Es tut mir leid. Ich verfalle immer wieder in das Düstere. Es bricht nur so aus mir heraus.“ Und: „Wenn das alles hier vorbei ist … Was kommt danach?“ Ganz zu Beginn heißt es, mit einem Text George Clintons für das Album „Maggot Brain“ der Band Funkadelic (1971): „Ich habe die Maden im Geist des Universums gekostet.“

Neun sehr verschiedene flüchtige Szenen, die sich kaum aufeinander beziehen, die aber doch alle irgendwie von existenziellen Lebens-, Sinn- und Systemkrisen handeln, hat Koua lose miteinander zu etwas einigermaßen Unverbindlichem verbunden. Folgerichtig nennt sie das Ganze „rhapsody“. Das beschreibt eine Form, die den sich hier abwechselnden Traumsequenzen angemessen erscheint. Dem Verstand indes entzöge sich das alles wohl selbst dann, wenn man eine Traumdeutung zur Hand hätte. Ich habe jedenfalls nichts davon verstanden, oder zumindest nicht besonders viel.

Da wetzen zunächst etwa drei gesichtslose, weil vermummte Geistliche wie drei unheilige Könige Messer und Gabel am Esstisch, der auf einem silbrigen Rundpodest steht; im Hintergrund eine Collage aus Videowänden. Final verspeist man in der bildmächtigen Szene eine Frau, die allegorisch wohl Demokratie und/oder Freiheit vorstellte. Später wird, in besagter Stand-Up-Nummer, ein Witz über drei Geistliche erzählt: Ein Rabbi, ein Priester und ein Imam kommen in eine Bar… Und siehe, Religion wird zum Albtraum.

Ein vermutlich schwules Pärchen hadert derweil mit Heimat und Zuhause. „Ich will gar nicht hier sein“, sagt der eine. „Was machen wir hier noch?“, fragt der andere. Sie haben den Zeitpunkt verpasst, zu gehen. Eine Familie macht Strandurlaub und wird vom Tsunami hinweggespült, eine Szene, die sich auch politisch verstehen lässt, da von einer blauen Welle die Rede ist und eine Hotelmanagerin Alice Weidel zitiert: „Die politische Korrektheit gehört auf den Müllhaufen der Geschichte.“ Und ein Mädchen erbettelt sich von der Mutter, die Teletubbies anschauen zu dürfen, die hier Space Babies heißen; es sehnt sich alsbald nach deren Zustand unendlichen Glücks.

Fünf der sieben neuen Theaterhaus-Schauspieler stellt uns diese Inszenierung vor, die hier professionell und souverän agieren, überraschend allerdings noch nicht. Ob sich hier auffällige Typen und Charaktere herausbilden werden, bleibt abzuwarten.

„Du kannst alldem nicht entkommen“, lautet des Abends letzter Satz. Aber er trifft nicht zu. Denn danach geht es mir so wie häufig nach dem Erwachen: Ich weiß, dass ich etwas geträumt habe. Was aber genau, ist schnell wieder vergessen.

Erschienen am 11.11.2024

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