Theater der Zeit

Auftritt

Flensburg: Storno für ein Leben an Kasse 3

Theaterwerkstatt Pilkentafel: „Wo wir Lebensmittel liebten“ von Elisabeth Bohde, Torsten Schütte, Svenja Wolff, Lotta Bohde und Manuel Melzer

Erschienen in: Theater der Zeit: Angst und Widerstand – Thema Afghanistan (10/2021)

Assoziationen: Schleswig-Holstein Theaterkritiken

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Die Scheiben des schwarzen Mittelklasse-SUV zittern, als er auf den Sparkassenparkplatz rollt. Man hört die Beats deutlich, Deutschrap, vielleicht Fler oder Haftbefehl. Aus dem Auto steigen zwei junge Männer, freundliches Geflachse auf Arabisch. Auf der anderen Straßenseite ist ein Bauzaun errichtet, dort, an einer großen hellblauen Brandmauer, sieht man eine regenbogenbunte Wandmalerei, die einen vielsprachig in „einer bunten Stadt“ willkommen heißt.

Die bunte Stadt, die einen hier begrüßt, heißt Flensburg. Nicht jedoch die „hyggeligste Stadt im Norden Schleswig-Holsteins“ ist gemeint, sondern der Stadtteil Flensburg-Neustadt, durch den der Autoverkehr zum pittoresken Museumshafen rollt. Bis vor einigen Jahren war vor der hellblauen Mauer der Parkplatz eines großen Supermarktes, dessen nüchterner Flachdachbau nun ebenfalls hinter dem Bauzaun verborgen ist.

Über den Zaun lugt ein markantes gelb-blaues Schild, das an die Einzelhandelskette EDEKA erinnert, die seit 1965 auf diesen Farbkontrast setzt. Doch es ist nicht der ehemalige Supermarktpächter, der hier seinen Namen hinterlassen hat, vielmehr steht auf dem Schild, blau auf gelbem Grund, ein Slogan in der Vergangenheitsform: „Wo wir Lebensmittel liebten“. Als dann auf dem Gehweg ein elektrisch angetriebenes Seniorenmobil erscheint, das rasch auf das Areal abbiegt, am Steuer eine Gestalt, die einem gesichtslosen Crashtest-Dummy gleicht, ist endgültig klar: Hier wird Theater gemacht.

Die freie Theaterwerkstatt Pilkentafel, 2019 mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet, wollte in ihrem neuen Projekt diesen ehemaligen Supermarkt kurz vor seinem Abriss noch einmal für eine Woche beleben. 18 Künstlerinnen und Künstler aus dem ganzen deutschsprachigen Raum versammelten sich auf Einladung der Pilkentafel-Leiter ­Elisabeth Bohde und Torsten Schütte, um ihre Arbeiten diesem Areal und seiner Geschichte zu widmen.

Denn hier ging es nicht nur um den schnellen Einkauf, so erzählt es dann auch Jovana Gonnsen von der Geschichtswerkstatt Flensburg, dieser Laden war ein Treffpunkt für alle sozialen Schichten des Stadtteils. Sie hat ein hübsches Modell des alten Supermarktes aus Papier mitgebracht und stellt es im Koffer ihres Lastenrades auf dem ehemaligen Parkplatz aus. Von ihrem Angebot an die Anwohner, die Erinnerungen an diesen Ort vor einer Videokamera zu erzählen, wird hier ­gerne Gebrauch gemacht.

Ein paar Meter entfernt findet sich auch der elektrifizierte Crashtest-Dummy wieder, inzwischen hat er Gesellschaft bekommen. Die beiden kurven in einem abgetrennten Areal herum, hupen, gestikulieren und schmettern unvermittelt Zeilen aus Radiohits. Dazu sind O-Töne von Pendlern zu ­hören, einer Gruppe, die in der aktuellen Debatte um das Klima ja gerne mal unter die Räder gerät. Sie sprechen über das Für und Wider von Diesel sowie über die alltäglichen Notwendigkeiten, das Auto zu benutzen – eine Illustration über Lebens- und Arbeitswelten zwischen Groteske und Realismus von Charlotte Pfeifer und Pascal Fuhlbruegge.

Noch bevor man das Hauptgebäude betreten kann, wird bereits deutlich, welche Vielfalt die beiden Projektleiter, Elisabeth Bode und Torsten Schütte, unter das Konzeptdach bringen mussten. Sie haben für die Performer ein Stationensetting nach Art einer Kunstmesse kreiert: Auf den verschlissenen Terrazzofliesen des Supermarktes, zwischen all den Rostflecken defekter Kühltruhen, sind die jeweiligen Spielorte im Raum markiert.

Das Entrée in dieses Reich der Performer und Installationen erfolgt über beschürzte Betreuer (aufgedruckter Claim: „SuperKunstMarkt“), die jeden Zuschauer einzeln mit ­verbundenen Augen an die weit verteilten Stationen führen, danach bleibt man sehend und forschend sich selbst überlassen.

Das „Sortiment“ in diesem SuperKunst­Markt ist außerordentlich vielfältig: Man trifft auf eindrucksvolle Choreografien der Verzweiflung im beschränkten Raum (Pia Alena Wagner), einen einsamen Online-Shopper (Marten Flegel), der mit seinen Fehl- und Frustkäufen ringt, oder eine kraftvolle Performance zu Gesten und Posen, die durch den Konsum medialer Comicwelten (Superman, Supergirl etc.) in das allgemeine kulturelle Gedächtnis einge­sickert sind („Happy Birthday Superwoman“ von Irina Runge). Viele der Arbeiten haben einen deutlich konsumkritischen Ansatz, sind aber glücklicherweise weitgehend undidaktisch. So flaniert man von Station zu Station, vergisst die Zeit – aber nie den Raum. Irgendwann jedoch quäkt es undeutlich aus dem Nirgendwo, fast so wie man es aus seinem Stammsupermarkt kennt: „Storno für ein ­Leben an Kasse 3“. Und jetzt scheint wirklich der Zeitpunkt gekommen zu sein, nach Hause zu gehen. //

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