Theater der Zeit

Auftritt

Tübingen: Ich heiße Scardanelli

Landestheater Tübingen: „Im Thurm“ von Markus Höring (UA). Musikalische Leitung Philipp Amelung. Regie Thorsten Weckherlin, Bühne Martin Fuchs, Kostüme Bernadette Weber

von Otto Paul Burkhardt

Erschienen in: Theater der Zeit: Thema Ukraine: Serhij Zhadan „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ (04/2022)

Assoziationen: Sprechtheater Theaterkritiken Baden-Württemberg Landestheater Tübingen (LTT)

Kammeroper im Theater: Johanna Pommranz und La Banda Mordern in der Inszenierung von „Im Thurm“ von Markus Höring, Musikalische Leitung Philipp Amelung in der Regie von Thorsten Weckherlin. Foto Martin Siegmund
Kammeroper im Theater: Johanna Pommranz und La Banda Mordern in der Inszenierung von „Im Thurm“ von Markus Höring, Musikalische Leitung Philipp Amelung in der Regie von Thorsten Weckherlin.Foto: Martin Siegmund

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Feuerkopf, Zweifler, Wanderer, Hymniker, Sprachschöpfer, sanfter Rebell – irgendwo dazwischen liegt das, was wir Friedrich Hölderlin nennen. Ganz groß sollte 2020 sein 250. Geburtstag gefeiert werden, mit allem Drum und Dran, mit „Pallaksch“-Nächten und Hölderlin-App, mit Schlagzeilen wie „Radikal, genial, geisteskrank“. Die Vita des Dichters, der mit Hegel und Schelling eine WG des wilden Denkens bildete und dann 36 Jahre „geistig umnachtet“, wie es damals hieß, in jenem Tübinger Turm am Neckar verbrachte, der heute Touristen-Hotspot ist – sie gilt noch immer als vermarktbares Faszinosum, garniert mit Best-of-Zitaten à la „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. Verlängert bis Juni 2021, fanden trotz Pandemie bundesweit rund 500 der geplanten 700 Veranstaltungen statt, vieles freilich musste ein-, zweimal verschoben werden.

Zum Beispiel die Kammeroper „Im Thurm“, die erst jetzt mit eineinhalb Jahren Verspätung am Landestheater Tübingen (LTT) zur Uraufführung kam. Hölderlin, der viel Vertonte – auf die fließende Grenze zwischen Sprache und Musik deutet auch sein Diktum „Bald sind wir aber Gesang“. Vor allem die Moderne ließ das Dunkle, das Fragmentarische seiner Texte Klang werden: Eisler, Henze, Zender oder Rihm. Das 90-Minuten-Opus „Im Thurm“, dessen Text und Musik der Münchner Tonsatzlehrer Markus Höring verfasst hat, verzichtet auf philosophisches Raunen, kommt eher lyrisch fein gesponnen daher. Die Life-Work-Balance Hölderlins wird lehrplantauglich entlang von Originaltexten, Zitaten und Dokumenten erzählt, als Bogen zwischen Aufbruch und Heimkehr, gegliedert in vier Lebensalter. Der regieführende LTT-Chef Thorsten Weckherlin mischt das zuweilen betuliche Setting von Anfang an kräftig auf. Während die Ouvertüre warnende Tritonus-Motive und freudige Beethoven-Anmutungen kunstvoll verwebt, sitzt die Hauptfigur noch im Publikum. Alsbald wird sie die papierübersäte Bühne entern, um – als Prolog im Turm, umgeben von Anstaltsinsassen – ihr verrätseltes Alter Ego „Ich heiße Scardanelli!“ in die Welt zu brüllen. „Verrückt“, so zeigt es die Regie, ist nicht der Dichter, sondern die Gesellschaft. Das erinnert an das früher am realen Tübinger Turm prangende Graffito „Der Hölderlin isch et verruckt gwä“, ein schwäbisches Echo auf Pierre Bertaux‘ einst sprengkräftige These vom „edlen Simulanten“. Am LTT trägt der Protagonist seinen Nicknamen „Höldi“ in Großlettern auf dem Rücken: Johannes Fritsche gibt ihn mit kraftvollem Bariton als glühenden Poeten, der hier, ganz im Sinne der freiheitlichen Streitschrift „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“, an der auch Hölderlin beteiligt gewesen sein soll, als Kraftzentrum agiert. Dabei geht die Regie keineswegs humorfrei zur Sache. Dichterfürst Goethe, Vorsicht Kalauer, tritt in alberner Pudelperücke auf und rät dem armen Hölderlin hochnäsig „Mach Er lieber Kleines“, um ihn dann mit „Faust“-Handschuhen in die Flucht zu boxen. Auch Klamauk darf sein, wenn Hölderlins Mutter ihrem „Fritzle“ die Weigerung, Pfarrer zu werden, wie eine Exorzistin mit erhobenem Kruzifix austreiben will. Splatterig wird es gar, wenn Jakobinerfreund Sinclair den Feingeist Höldi mit einem abgehackten Kopf aus der Guillotine schockiert. Später wird Hölderlin selbst als Psychiatrie-Fall für „Raserey“ und „Manie als Nachkrankheit der Krätze“ vorgeführt: geknebelt in der Hannibal-Lecter-haften Gesichtsmaske aus der Werkstatt des Dr. Autenrieth. Doch immer wieder beflügeln magische Momente, wenn Fritz mit Susette im terzenseligen Liebes­duett Papierschwalben steigen lässt: kleine Fluchten aus ständischen Zwängen.

Die Musik? Bleibt stets in der Komfortzone einer erweiterten Tonalität, bewegt sich stilpluralistisch zwischen Renaissance-Madrigal, flämischer Vokalpolyphonie, aparten Debussy-Mixturen und ostinaten Schostakowitsch-Grotesken. Mozarts KV 333 wird zitiert und gerät als Goethe-Soundtrack entlarvend in Schieflage. Ab und zu kräht die „Marseillaise“ dazwischen. Famos agieren unter Philipp Amelungs expressiver Leitung neben Fritsche das Ensemble La Banda Modern, ein starkes Vokalquartett, Johanna Pommranz als Susette mit zartesten Höhen sowie Patrik Hornák und Aline Quentin. Farbenreiche ­Musik, zupackende Regie. Der Geburtsjahr-Trubel ist verrauscht, Hölderlin bleibt – ein bewegliches Bild. Immer anders. //

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