Theater, Krieg und die Erschütterung des Kapitalismus
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Der Erste Weltkrieg war nicht nur ein für alle sozialen Schichten tief nachwirkendes katastrophisches Erlebnis. Er hatte die fundamentalen Widersprüche oder auch die „dunklen Seiten“ der modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft wahrnehmbar gemacht und an seinem Ende zu revolutionären Umwälzungen geführt. Die Oktoberrevolution und die Errichtung einer radikal anderen, nicht-kapitalistischen Ordnung sowie die revolutionären, antikolonialen Bewegungen an der Peripherie des bisher unangefochten operierenden imperialen kapitalistischen Systems schufen eine neue weltgeschichtliche Situation. Auseinandersetzungen zwischen Kapitalismus und sozialistischer Alternative, nach 1945 auch der „Kalte Krieg“ in der Konfrontation der zwei konträren Systeme, prägten als überspannender Kontext teilweise in entscheidendem Maße kulturelle Aktivitäten.
In westlichen Ländern erschien während der 1920er und 1930er Jahre ein neues künstlerisch-strukturell vielfältiges, höchst kreatives politisiertes Theater gleichsam als Antwort auf den Krieg, auf die ihm nachfolgenden Krisen und, nicht zuletzt, auf die Umwälzung der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung in der Sowjetunion. Als ein wesentlicher kultureller Faktor der neuen Realitäten in Russland und Deutschland entstand unmittelbar nach 1918 avancierte Theaterkunst, die, in der Weiterführung futuristischer Collagen-Experimente und im direkten Anschluss an die aus dem Krieg geborene internationale theatrale Dada-Avantgarde, wesentliche Formen eines neuen soziopolitisch engagierten Theaters des Jahrhunderts programmatisch vorzeichnete. Meyerholds biomechanischen und epischen, „kinofizierten“ Inszenierungen und Piscators politisches Theater der 1920er Jahre...