Theater der Zeit

Volksoper Wien: Die Passionsgeschichte der anderen Maria

„The Gospel according to the other Mary“ von John Adams – Regie Lisenka Heijboer Castañón, Musikalische Leitung Nicole Paiement, Bühne Sarah Nixon, Kostüme Carmen Schabracq

von Alexander Keuk

Assoziationen: Theaterkritiken Österreich Musiktheater Volksoper Wien

Biblische Charaktere und Ereignisse, mitsamt der Auferstehung des Lazarus und der Passion Christi, in ein stark politisches, zeitgenössisches Licht gerückt: „The Gospel According to the Other Mary“ an der Volksoper Wien im Rahmen der Wiener Festwochen.
Biblische Charaktere und Ereignisse, mitsamt der Auferstehung des Lazarus und der Passion Christi, in ein stark politisches, zeitgenössisches Licht gerückt: „The Gospel According to the Other Mary“ an der Volksoper Wien im Rahmen der Wiener Festwochen.Foto: Barbara Pálffy/Volksoper Wien

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Wenn man zu den Wiener Festwochen – im ersten Jahrgang des Intendanten Milo Rau – die Eröffnung mit revolutionär-visionärem Gedankengut und etliche „Verhandlungen“ theaterpolitischer Art überstanden hat, wird es Zeit sich zu fragen: Was glaubst Du denn? Denn auch für's Religiöse bieten die Festwochen einiges an Hilfestellung. Mit Adams Passionsoratorium stand eine traditionelle Werkform zur Verfügung, die man auch konzertant hätte geben können, wie etwa geschehen durch die Berliner Philharmoniker 2017. Doch schon im Kontext der Uraufführung 2012 in Los Angeles gab es in der Verbindung mit dem Regisseur Peter Sellars, der auch das Libretto zu diesem Stück verfasste, eine szenische Umsetzung der Passion, wie sie der „anderen Maria“, der Maria aus Bethanien zugeschrieben wird. Damit wird nicht nur der Bericht von Jesu letzten Tagen und Stunden aus einer weiblichen Sicht formuliert, es werden auch weitere Ereignisse damit verknüpft wie etwa die Erweckung des Lazarus, die sinnbildlich für die Auferstehung Jesu steht.

Das in zwei Teilen über zweieinviertel Stunden reichende Werk stellt die Volksoper vor immense Herausforderungen. Musikalisch ist der minimalistische Stil des US-amerikanischen Komponisten John Adams komplex und vor allem rhythmisch fordernd – sowohl für das Orchester als auch für den oratorisch natürlich stark präsenten Chor, der hier wie bei den Bachschen Passionen handlungstreibende Kraft im Sinne von gliedernden „turbae“ (Volkschören) ist. Neben biblischen Zitaten sind einige Fremdtexte in das Stück eingeflossen, die eine zeitgenössische Perspektive ermöglichen, so etwa den zentralen Aspekt der Randständigen behandelnd, der ja schon in der Beobachtungsposition durch Maria selbst besteht, aber auch den Verurteilten und im Wortsinn Betroffenen im Volk und unter den Aposteln Raum gibt. Ein weiterer Aspekt dieser ungewöhnlichen Passionsgeschichte ist das Gemeinsame Tun und (Mit-) Fühlen, das sowohl unter den einzelnen Handelnden als auch in der Masse des Volkes sichtbar wird.

Die Regisseurin Lisenka Heijboer Castañón versucht in ihrer Umsetzung den Spagat zwischen einer betrachtenden Distanz und einer bildlichen Verstärkung der dem Stück innewohnenden Aspekte zu erreichen, doch verharrt sie genau in diesem ungefähren Zwischenraum und bleibt in ihren Mitteln völlig konventionell, wenn im ersten Teil etwa in einer Wohn-Holzkiste, in dem ein Sozialprojekt wäscht, kocht und lebt, eben Alltagsnormalität gespielt wird. Diese wirkt dann zusätzlich beklemmend (sicher keine Absicht der Regisseurin), wenn die unablässig arbeitende Drehbühne das Haus als geschlossenen Schiebetürenkosmos zeigt – bloß warum?

Im zweiten Teil folgt Heijboer Castañón dem nun auch dramatischen Teil der biblischen Geschichte stärker, doch der Aktionismus auf der Bühne, der jetzt Demonstrationen (ein Gruß an Milo Rau?) und seltsame Maskenspiele mit Ohren und Tierköpfen beinhaltet, wirkt wiederum zu beliebig im Textkorpus herumtastend, der schon selbst in seiner Ungreifbarkeit kaum pointiert wirkt und mal Poetik in den Vordergrund stellt, dann wieder philosophische Anwandlungen hat. An wenigen Stellen nur wird auf Adams enorme Sogwirkung der Partitur und seine genial über viele Partiturseiten aufgebauten Höhepunkte szenisch eingegangen, seine Zwischenspiele verklingen szenisch ungenutzt. Insgesamt kann man in dieser bunten Golgatha-Mixtur, in der sich übrigens die Mitwirkenden ständig liebevoll umarmen müssen, keine Botschaft abringen, und nach den letzten Tönen, die von freundlichem Applaus einer nicht ausverkauften Premierenstätte gefolgt werden, bleibt unklar, warum das Stück überhaupt mit aller Kraft auf die Bühne gestemmt wurde.

Denn wirkliche Freude, abgesehen von einigen herausragenden Sängerleistungen, macht auch die musikalische Umsetzung nicht. Die Kanadierin Nicole Paiement am Dirigentenpult vermag zwar klar zu führen, doch das Orchester der Volksoper erreicht an diesem Abend klar seine Grenzen, auch wenn sich durch mutig auftrumpfende Bläser der zweite Teil immer besser zurechtruckelt. Über eine reine Irgendwie-Bewältigung der Partitur weist jedoch der Höreindruck selten hinaus. An die Verstärkung der Sänger und den Offstage-Chor (der klanglich erstaunlich homogen durch die Notenflut manövriert) muss man sich eine Weile gewöhnen,  staunt aber über den ganzen Abend hinweg über die völlig souverän agierende und singende Wallis Giunta in der Hauptrolle der Mary, die in tiefe interpretatorische Ebenen ihrer großen Mezzo-Partie vorzustoßen vermochte und eine bewegende Gestaltung zeigte.

Ähnliches gilt für die Altistin Jasmin White (Martha) aus dem Opernstudio der Volksoper, während Alok Kumars metallische Tenorstimme für den Lazarus keinerlei Zuhörvergnügen bot. Drei Counterpartien (eine hier von einer Sopranistin übernommen) sind im Sinne der Evangelistenberichte komponiert – Jaye Simmons, Christopher Ainslie und Edu Rojas wussten diese Parts mit kammermusikalischem Sinn fein auszugestalten und trugen so auch das Stück über manche Länge hinweg. Immer wieder setzte eine kleine Tänzer- und Schauspielergruppe Akzente im Ensemble, wobei die 91-jährige Aida Rodriguez in ihrer sanften Präsenz stellvertretend genannt werden soll. Was tatsächlich auch nach Tagen im Ohr verbleibt, ist der Eindruck der mächtigen Partitur von Adams, die aber weiterhin einer Entsprechung in einer phantasievollen und bildmächtigen Umsetzung harrt.

Erschienen am 20.6.2024

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