Theater der Zeit

Künstlerporträts

Installationen der Freiheit

von Jana Návratová

Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Tschechien (09/2018)

Assoziationen: Tanz Akteure Europa

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Lange gab es im tschechischen Theater keine so universale Regiepersönlichkeit mehr wie Jiří Havelka. Das Theater scheint für ihn ein Planetensystem zu sein, in dem er sich frei umherbewegt wie der Kleine Prinz – mit

Blick fürs Große und Ganze und Interesse an Entdeckungen. Schnell begreift er die Gesetzmäßigkeiten, die auf den einzelnen Genre-Planeten vorherrschen, eignet sich spielerisch Sprache und Instrumente vor Ort an und entwickelt ein Gefühl für ihre professionellen Bewohner: Schauspieler, Tänzer, Performer. Der Planet Tanz weckte das Interesse des Theaterreisenden Havelka durch Authentizität und Spontaneität.

Sein erstes in einer Tanzmatrix geschaffenes Werk war 2013 das ortsspezifische Projekt „Einstudierte Hilflosigkeit“ (Naučená bezmocnost). Im unterirdischen Teil des Prager Palais ORCO – eines famosen Gebäudes aus den 1930er Jahren im Stil der Neuen Sachlichkeit – inszenierte Havelka mit sieben Tänzern eine metaphorische Elegie über die Wirkung von Gewalt, die sich in das menschliche Unterbewusstsein einschreibt wie eine genetische oder karmische Information und die die nachfolgenden Generationen des Gefühls von Glück, Würde und innerer Freiheit beraubt. Die Inszenierung war durch den autobiografischen Prosatext „Wir waren auch dort“ (Byly jsme tam taky) von Dagmar Šimková inspiriert und beschrieb die Verhältnisse in kommunistischen Straflagern der 1950er Jahre. Havelka bespielte heruntergekommene Räume, die einst von der Kurbadeanstalt der Prager Verkehrsbetriebe genutzt worden waren, damals eine Annehmlichkeit für deren Bus- und Bahnfahrer. Schon allein dieser Umstand erzeugte gegenüber dem Thema eine ironische Spannung, denn die Regie nutzte die Interieurs des Badebetriebs nun als Räume für Verhöre und Folter, also genau entgegen ihrem ursprünglichen Zweck.

Zunächst konnten die Zuschauer in den einzelnen Kabinen Einblick in die wohnzimmerliche Privatsphäre junger verliebter Paare nehmen, alle voller Tatendrang angesichts der Möglichkeiten des Lebens. Auf einer Tanzveranstaltung in weiches Licht und bunte Kleider gehüllt, wurden sie schließlich zu eleganten jungen Damen in den Armen der ihnen treu ergebenen Ehemänner. Doch ihre ausgelassene Swingnummer wurde brutal von einer Sirene unterbrochen; als zitternde, halb nackte Tänzer standen sie nun wie Wracks vor einer gefliesten Wand, mit Glühbirnen angestrahlt. Über mehrere Geschosse stiegen die Zuschauer an den einzelnen Bildern entlang immer tiefer in die Abgründe der ehemaligen Badeanstalt hinab. Als wäre die Hölle bodenlos. Und nachdem die Zuschauer in den Tiefen der Keller Zeugen physisch erbarmungsloser Bilder geworden waren, führte Havelka sie zurück ans Licht, um erneut einen Blick in die kleinen Zimmer zu werfen. In grauen Interieurs erblickten sie kollabierte, erloschene, voneinander abgewandte Gestalten, deren Gesten und Silhouetten Depressionen, Traumata und Hoffnungslosigkeit widerspiegelten. Dagmar Šimkovás suggestiver Augenzeugenbericht hebt die Entwertung der menschlichen Würde und die Diskreditierung der Intimsphäre hervor, was Tanz und physisches Theater ganz ohne Worte und mit großer Intensität vermitteln können. Und Havelka hatte in diesem Stoff ein Thema gefunden, dem er sich auch in weiteren Kunstprojekten widmete: die tschechische Geschichte, ihr Heldentum und ihre Feigheit.

„Einstudierte Hilflosigkeit“ wurde nur wenige Male aufgeführt, aber es kam zu einer ausgesprochen erfolgreichen Inkarnation: Aus technischen Gründen war es nicht möglich, im ORCO noch weitere Aufführungen zu zeigen, und so wurde das Ensemble von den Organisatoren des Festivals Tschechische Tanzplattform (Česká taneční platforma) aufgefordert, aus dem ortsspezifischen Projekt einen raumgebundenen inszenatorischen Klon zu erstellen. So schuf Havelka in Zusammenarbeit mit den Tänzern 2014 die Choreografie „Korrektur“ (Korekce), die zu einem Zuschauermagneten und einer Toursensation des tschechischen zeitgenössischen Tanztheaters wurde.

Die Inszenierung „Korrektur“ entfernte sich wohl in allen Parametern von „Einstudierte Hilflosigkeit“ – außer in Sachen Besetzung. Das Thema Freiheit fasste Havelka als relevanten Wert auf, der auch in der größten Einschränkung gesucht werden müsse. Um dieses Paradox eindeutig zum Ausdruck zu bringen, fixierte er die Tänzer frontal den Zuschauern gegenüber in einer Reihe, ohne ihnen die geringste Möglichkeit zu geben, sich vom Fleck zu rühren. Die einstündige Performance war eine raffiniert aufgebaute Bewegungsstruktur, die eine Skala von Interaktionen und Situationen, von zarten wie nachdrücklicheren Kollisionen bot und allein durch Bewegung und Mimik Spannung aufbauen, sogar Charakterschattierungen zeichnen konnte. Ohne jegliche Geschichte, ohne Sujet, nur durch schlichte situative Modellierung, unterstützt von der Dynamik der musikalischen Begleitung durch den Klangkörper Clarinet Factory, ist Havelka und VerTeDance ein inszenatorisches Wunder gelungen: spannend, witzig, metaphernreich und universell verständlich.

In seinem dritten Tanzprojekt „Flow“ von 2017 widmete sich Havelka dem Moment des Innehaltens inmitten von allgemeinem Lärm und Chaos. Die Choreografie war ein meditatives Bild für fünf Tänzer mit Klavierbegleitung, zu einer Komposition, die live von der jungen tschechischen Komponistin Beata Hlavenková gespielt wurde. Die Bewegungen der Tänzer gingen hier vom Prinzip des Tai-Chi aus. Das zarte, endlose, weiche, perfekt synchronisierte Fließen führte zu einer ganz anderen Art der Wahrnehmung, als es im zeitgenössischen Theater gang und gäbe ist. Es gab hier keine Message, keine Idee, die vom Zuschauer begriffen und beurteilt werden sollte. Oder vielleicht doch – dann wäre es aber der Gedanke von der Notwendigkeit des Ruhigerwerdens gewesen, vom Teilen, von der Kraft und der Schönheit der Meditation, vom gegenwärtigen Augenblick und der Fähigkeit, ihn sich zur Gänze bewusst zu machen. In diesem Sinn ist Havelka vielleicht aus dem Bereich der Kunst in den der Spiritualität übergewechselt.

Das Schaffen von Jiří Havelka wird seitens der tschechischen Tanzszene mit großem Respekt wahrgenommen. Seine Inszenierungen lassen sich fraglos als die gelungensten Begegnungen von Theaterregie mit der fragilen Welt tänzerischer Gesten bezeichnen. Darüber sind sich Fachleute und Publikum einig. //

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