Theater der Zeit

Neustart

Arschlochfreie Zone

Der Neustart unter kollektiver Leitung am Theater Magdeburg

von Lara Wenzel

Erschienen in: Theater der Zeit: Barbara Mundel – Stürzende Gegenwart (12/2022)

Assoziationen: Sachsen-Anhalt Theater Magdeburg

Der Sturm nach vorn: Lorenz Krieger in „Gas“ von Georg Kaiser in der Regie von Florian Fischer
Der Sturm nach vorn: Lorenz Krieger in „Gas“ von Georg Kaiser in der Regie von Florian FischerFoto: Dorothea Tuch

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Glitzerfäden und ein Satyr mit leuchtendem Penis schmücken das Kasino. Noch ein paar Handgriffe an Ton und Licht, dann beginnt die „Legit Love Party“ im Magdeburger Theater mit Elektro Tunes und Queer-Hymne „Rise Like a Phoenix“. Zum elften Mal feiern hier LGBTIQ+-Community und Allies im Foyer, das protzige Architektur und gemütliche Wohnzimmerlampen vereint. Gern übernahm die neue Schauspieldirektion diese etablierte Party in ihren Spielplan. Dort ist sie in bester Gesellschaft mit anderen Angeboten jenseits der großen Bühne, den Sidekicks, wie Mонітор Ukraine, einer Plattform für ukrainische Künstler:innen, oder der Open Stage „Kerben“.

Es geht nicht nur um die große Premiere, weiß das seit dieser Spielzeit als Intendanz eingesetzte Trio aus Regisseurin Clara Weyde, Dramaturg Bastian Lomsché und Kostümbildner Clemens Leander. Das Leitungsteam, das schon vor dieser Position häufig zusammenarbeitete, richtet sich an ein breites Publikum: „Wenn man einmal diesen Gang gegangen ist, wird es ein zweites Mal einfacher“, betont Leander, der neben Arbeiten mit Ulrich Rasche und dem Performancekollektiv Showcase Beat Le Mot die Kostümabteilung am Theater an der Parkaue leitete. Gemeinsam gestalten sie ein Programm, in dem Formate, in denen sich die Stadt neu begegnen kann, und fantasievolle Inszenierungen neben­einanderstehen. Julien Chavaz, der neue Generalintendant am Theater Magdeburg, drängte nicht auf eine Dreierkonstellation für das Schauspiel, aber der Vorschlag des Trios überzeugte.

Die Künstler:innen übernehmen die Leitung gleichberechtigt ohne gesonderte Zuständigkeitsbereiche und Vetorecht. Beim Bewerbungsverfahren hat das für einige Fragezeichen gesorgt: „Wem soll der Kopf abgerissen werden, wenn es ein Problem gibt?“, wunderte man sich. Diese Sorge sage schon viel über den Ton an Theaterhäusern, meint das Team. Sie arbeiten mit viel Vertrauen und Kommunikation gegen metaphorische Enthauptungen und Machtmissbrauch an. Dabei helfen auch die manchmal langwierigen und nervenaufreibenden Diskussionen zu dritt: „Dieser ‚Nachteil‘, dass das Team eine Verlangsamung bedeutet im Entscheidungsprozess, das ist eigentlich ein fantastischer ­Mechanismus, weil genau verändert wird, wo Machtmissbrauch ohne Absicht anfängt. Weil ich einfach aus dem Bauch heraus eine Entscheidung fällen könnte, die sich dann schon am nächsten Tag als falsch herausstellt“, so beschreibt es Weyde, die als Regisseurin schon an der Schaubühne Berlin, am Schauspielhaus Graz und auf Kampnagel Premieren feierte.

Die „arschlochfreie Zone“ als neue Normalität – daran arbeitet das Trio, um bessere Kunst zu machen. Ohne Regie-Egos und cholerische Genies. Sie sind überzeugt davon, dass erst in einem stabilen Miteinander eine Bandbreite ästhetischer Formen ausprobiert werden kann – ohne Angst und Druck. Um sich zum Perspektivwechsel zu zwingen, hebeln sie im Format „Kosmos“ den Dreh- und Angelpunkt der großen Bühnenkunst aus. Nicht von der Regie, sondern von einer anderen Theaterprofession soll eine Inszenierung ausgehen. In dieser Spielzeit bekommt Bühnen- und Kostümbildnerin Nina von Mechow eine Carte blanche, ihre Vision zu verwirklichen und sich Mitarbeiter:innen zu suchen. Das Trio klopft die eingefahrenen Hierarchien ab und nimmt Modifikationen im Stadttheater vor: Auch der Unterschied zwischen den Spielstätten in Wertung und Bezahlung soll eingeebnet werden. Für „Erwachsenen“-Theater und Theater für junges Publikum gilt das Gleiche.

Auf dieser wichtigen Basis vollzieht sich die doppelt widerständige Theaterarbeit, die sich sowohl gegen bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen wie das Erstarken rechter Kräfte als auch gegen Aktualitätszwang und aktivistische Reflexe im Kunstbetrieb wendet. Peter Rühmkorfs Gedichtzeile „Bleib erschütterbar – und widersteh“ war dem Team Erinnerung, in Zeiten der Krisenverdichtung durchlässig zu bleiben und sich zu dem, was in der Welt passiert, zu positionieren. Das heißt auch, scheinbar Unzeitgemäßes auf die Bühne zu bringen. Eine 400 Jahre alte Komödie erarbeiteten die Regisseurin, der Dramaturg und der Kostümbildner als Spielzeitauftakt und nähern sich den Umbrüchen der Vergangenheit aus der Jetztzeit. Der spanische Dramatiker Pedro Calderón de la Barca erzählt in „Das Leben ein Traum“ die Geschichte eines Königs, der seinen Sohn und Nachfolger in ein Verlies wirft, weil die Sterne ihn als schlechten Herrscher vorhersagen. Als es sich der Vater doch anders überlegt, ist es schon zu spät: Dem gekrönten Isolationshäftling fehlen die people skills und er entpuppt sich als Tyrann.

In der klamaukigen Inszenierung gebiert der sternenkundige König eine Maschine, die seine Aufgaben mit der geballten Macht der Statistik übernehmen soll. Anfangs noch gefangen in einem mythisch aufgeladenen Brunnen, der das Zentrum des kreisrund abgeschlossenen und zentrierten Bühnenbildes von Sina Manthey bildet, löst sich auch in dieser Fassung der unliebsame Sohn aus seinem Gefängnis. Pathos und Ritual der Hofgesellschaft werden vom Roboter sogleich wegrationalisiert. Darauf folgen allzu pragmatische Lösungen, bei denen ganze Menschengruppen gestrichen werden sollen. Fortschrittskritisch fragt die Inszenierung, welche Möglichkeiten Technik bietet, wenn sie produziert wurde, um in eine kapitalistische Gesellschaft zu passen, und Diskriminierungen wiederholt. In dieser alternativen Realität, die mit ­albernem Zeremoniell, komplizierten Flötenkonzerten und höfischem Kostüm ausgestattet ist, zeigt sich komisch und tragisch überspitzt die Dialektik der Aufklärung. Aus der astrologischen Wissenschaft geboren, schlägt die weltentzaubernde und -verwaltende Maschine wieder um in den Mythos der Allmacht.

Deutlich treten die Grenzen der Naturbeherrschung zutage, doch eine linke Zukunftsvision fehle, meint Bastian Lomsché. „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster“, schrieb Antonio Gramsci in seinen ­Gefängnisheften. So fühle sich die gerade erfahrene Zeit der Veränderung, in der alte Gewissheiten bröckeln und niedergerissen werden, an. „Mit diesem Dazwischen, mit dieser Zeit der Monster, wollten wir spielen“, sagt Lomsché. Nicht nur die faschistischen Kinder der Zwischenzeit, auch erwachsende Schönheit, die es zu hofieren gilt, interessiert das künstlerische Team.

Dieses Leitmotiv zieht sich durch die ganze Spielzeit. In „Im Menschen muss alles herrlich sein“, das Alice Buddeberg nach dem Roman von Sasha Mariana Salzmann inszeniert, ist es der Zerfall der Sowjetunion, der Generationen mit Phantomschmerzen zurücklässt. Der zum gesellschaftlichen Fortschritt verklärte Untergang ließ viele Menschen im Kehricht der Geschichte zurück. Ein Stoff, der uns derzeit besonders anzieht und abstößt, stellt uns in Georg Kaisers Drama „Gas“ an den Scheideweg. Einfach so weitermachen, den Energieträger produzieren und Explosionen in Kauf nehmen? Oder radikal umdenken zum Wohle des menschlichen Lebens? Florian Fischer inszeniert den expressionistischen Stoff von 1918 im Sinne seiner Zeit – mit starken Gesten und zerfallenden Wortschwällen, die den Sturm nach vorn beschreien. Eindrucksvoll zeigt sich dies im zuckenden ­Monolog des von Philipp Kronenberg gespielten Arbeiters, der weiß und schwarz beschmiert in zerstörter Sprache von der Explosion berichtet. Auf der von Sina Manthey nach Industriearchitektur des letzten Jahrhunderts gestalteten Bühne treffen die Interessen der Arbeiter auf die des Kapitalisten. Nachdem das in der Fabrik produzierte Gas explodiert ist, fordert die Belegschaft die Kündigung des Ingenieurs.

Dieser sieht sich an den Grenzen der menschlichen Erkenntnis, denn die Formel, nach der er produziert, lautet: „Stimmt – und stimmt nicht! Das rechnet sich selbst weiter und stülpt sich gegen uns.“ Erreicht ist die Grenze der Naturbeherrschung, Schuld kann dem Ingenieur nicht gegeben werden. Im klassenunbewussten Klassenkampf fordert die Belegschaft, die Arbeit wieder aufzunehmen. Der Kapitalist und Reformer, der sich als Teil der Proleten sehen will, hält dagegen. Sein philanthropischer Traum handelt von Allheit und Einheit der Menschen. Raus aus der Halle, zurück in die Natur. Lebensphilosophie und Vitalismus bieten sich hier als Ausweg aus der zweckrationalisierten Welt an. In dieser Strömung sah unter anderem Georg Lukács den Weg in den Faschismus, weil sie das Vernunftprinzip ablehne; die Inszenierung hingegen affirmiert die Vision des Kapitalisten und schließt mit einem naiven Bild: Aus einem leuchtenden Ei schlüpfen drei queere Menschen, die sich in einer paradiesischen Szene authentisch begegnen.

An diesem Abend gibt es wenig zu lachen, dabei ist Komik für Weyde, Leander und Lomsché zentraler Bestandteil einer gelungenen Inszenierung. Wer Theater als Lieblingsbeschäftigung und Beruf machen kann, solle an die Sache nicht mit Bierernst heran­gehen. Lomsché, der am Schauspielhaus Hamburg regelmäßig mit Studio Braun zusammenarbeitete, meint: „Ich tue mich wirklich schwer, das Theater ernst zu nehmen, wenn es keinen Humor hat.“ Das kollektive Lachen im Theater ist für sie immer Ventil, aber auch Distanznahme. Ihr Spielplan ist gespickt mit groteskem Humor, den sie in ihrer eigenen Produktion „Das Leben ein Traum“ beweisen. Vielversprechend liest sich auch die Premierenankündigung von „Odyssee: Buch von Homer“ von Regisseur und Körperkomik-Koryphäe Bastian Reiber. Wie Herbert Fritsch, mit dem er oft zusammenarbeitet, bringt auch er lieber „Möbel- oder Monsterdarsteller“ statt dieser lästigen Menschendarsteller auf die Bühne. Diese vielen ästhetischen Herangehensweisen, die das Magdeburger ­Theater mit dem neuen Leitungsteam versammelt, haben gemein, dass sie kein Abbild der Realität schaffen. Gemeinsame Imagina­tionen in der geteilten Erfahrung sind die Treiber ihrer Dazwischen-Spiele, in denen sich alternative Welten öffnen. //

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