Das Neue und der Genuss – Mahagonnygesänge
Erschienen in: Recherchen 123: Brecht lesen (06/2016)
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Ebenso wie die Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny haben die „Mahagonnygesänge“ der Hauspostille den Interpreten stets Schwierigkeiten bereitet – und dies wegen einer inneren Zwiespältigkeit: Sie formulieren zugleich ein Lebensideal und eine Kritik ebendieses Ideals, sofern es Teil der bürgerlichen Lebensverhältnisse ist, in untrennbarer Verschmelzung. Zerreißt man, auf der Suche nach der Aussage, die Ambivalenz dieser Texte, so erhält man zwar Thesen („Kritik des Kapitalismus“ oder „anarchische Verherrlichung primitiven und rücksichtslosen Genusses“), behält jedoch, zumal was die Oper angeht, stets soviel in der These nicht aufzurechnenden Rest, dass man zu Formulierungen wie Undeutlichkeit, Halbherzigkeit, Unentschiedenheit greifen muss, um die Lücke zu stopfen.1 Aber Mahagonny ist zwar in manchem ein Abbild der kapitalistischen Gesellschaft, ihres Kulturbetriebs vor allem, zugleich jedoch ein Anderswo: Name und Ort für die Illusion und Utopie der absoluten Freiheit, den Genuss in seiner radikalen Asozialität. Ein bestimmtes Abbildverhältnis, das Mahagonny als Signifikanten eines bestimmten Signifikats definierte, ist unmöglich zu konstruieren. Es würde die Anlage der Oper wie die Gesänge der Hauspostille vielmehr unbegreiflich machen. Verweist nicht Brecht selbst den Gedanken, nach einem Abbildverhältnis zu fahnden, lenkt er nicht selbst das Lesen auf das Spiel der Worte in der Signifikantenkette, wenn es am Ende...