Auftritt
Hessisches Landestheater Marburg: Spiel mir das Lied von der EU-Bürokratie
„Euromüll“ von Ivana Sokola (UA) – Regie Lea Marlen Balzer, Bühne und Kostüme Anton von Bredow, Mitarbeit Bühne Hannes Grätz
Assoziationen: Hessen Theaterkritiken Dossier: Neue Dramatik Ivana Sokola Hessisches Landestheater Marburg
Klagend tönt die Mundharmonika. Müde drehen die Ventilatoren ihre Runden durch die stickige Saloonluft. Stetsons werden mit dem Zeigefinger aus der Stirn geschoben, eine Geste so bedrohlich wie kaloriensparend. Wer sich doch mal bewegt, tut das so breitbeinig, dass sich bequem ein Pferd darunterschieben ließe. Keine Frage: Wir sind im Wilden Westen. Oder jedenfalls: im Western. Die Duelle allerdings werden hier mit Kaffeetassen ausgetragen. Und die gottverlassenen Nester, die nur B. und S. genannt werden, lassen sich leicht als Brüssel und Straßburg entschlüsseln. Willkommen in Europa.
Als „Kartoffelwestern“ hat die junge Berliner Theaterautorin und Journalistin Ivana Sokola, ausgezeichnet 2021 mit dem Kleist-Förderpreis und 2022 mit dem Autor*innenpreis des Heidelberger Stückemarkts, ihr jüngstes Werk kategorisiert. „Euromüll“ heißt es und ist eine Verbeugung vor den italienischen „Spaghettiwestern“ der sechziger Jahre, bei denen sich Sokola en gros die Klischees ausgeborgt hat. Vor allem aber ist es ein Stück über: die Europäische Union. Wie bitte? Die EU auf der Bühne und dann auch noch als Western? Ja, genau. Und das funktioniert ganz wunderbar. Spiel mir das Lied von der EU-Bürokratie.
Unter der Regie von Lea Marlen Balzer kam „Euromüll“ jetzt am Hessischen Landestheater in Marburg zur Uraufführung. Erzählt wird, wie aus der großen Vision, allen Abfall abzuschaffen oder wenigstens allen Plastikmüll oder ganz zumindest Einwegkunststoffgeschirr, zum Verbot von Plastikstrohhalmen schrumpft. Ein Verbot, das die EU vor fünf Jahren nach langem Ringen tatsächlich beschlossen hat, fast so, als hätte man die unvermeidliche Metapher kostenlos mitliefern wollen: Beim Kampf gegen die Vermüllung der Weltmeere klammert sich Europa an den letzten Strohhalm. Mit, wenig überraschend, mäßigem Erfolg.
Mercedes Schmidt, erfrischend unbekümmert gespielt von Lilian Heeb, kommt als „die Neue“ in die eingeschworene Gemeinschaft des Prärie- respektive Politikbetriebs. Sie trifft auf die desillusionierte Monika (Christian Simon), auf Ole, den Sheriff (AdeleEmil Behrenbeck), auf den Outlaw beziehungsweise Journalisten Joe (Georg Santner), auf die Kopfgeldjägerin beziehungsweise Lobbyistin Janine (Jorien Gradenwitz). Sie lernt nicht nur, dass der Europäische Rat und der Rat der Europäischen Union zweierlei sind und dass die runden Strohbüschel, die in jedem Western durch die Steppenlandschaft geweht werden, Tumbleweed heißen. Sondern muss auch erfahren, wie ihre hehren Ziele durch Formulare, Intrigen und Do-ut-des-Deals zerbröselt werden.
Gespielt wird ein doppeltes Spiel. Fingerschnipsend befördert sich das Quintett von der Westernwelt, in der Ennio Morricone & Co. den bombastischen Soundtrack liefern, in die Flure der EU-Verwaltung und wieder zurück. Munter geht das hin und her, die Rollen hüben und drüben verschwimmen, das Vergnügen, mit dem sich das Ensemble der Cowboy- und Cowgirlattitüde hingibt, ist ansteckend. Grimassierend werden unsichtbare Zigaretten geraucht, unsichtbare Pferde bis zur Erschöpfung geritten. Ein großer Spaß.
Aber kein bloßer Klamauk. „Euromüll“ erinnert in diesem Sinne an die großartige französisch-belgisch-deutsche Fernsehserie „Parlament“, die den Dreisprung fertigbringt, sich nach Kräften lustig zu machen über den EU-Zirkus, sich zugleich aber zu Europa zu bekennen und Wissen zu vermitteln über die Abläufe in Brüssel und Straßburg. Am 30. Oktober startet übrigens die dritte Staffel in der ARD-Mediathek.
Auch Ivana Sokola lässt keinen Zweifel am ernsten Hintergrund ihres Achtzigminüters. „Versuche über das Übrigbleiben“ steht im Untertitel des Stücks, und das meint nicht nur den Müll und nicht nur den spärlichen Rest, der von der großen Idee seiner Abschaffung übrigbleibt. Sondern auch uns. Was bleibt von einer Menschheit, die die Meeresspiegel ungebremst ansteigen lässt? Die sich anschickt, einen siebten Kontinent aus Plastik wachsen zu lassen? Die ihrem eigenen Untergang zuschaut? Sokola ist so freundlich, die Antwort durch poetische Worte etwas abzumildern, doch was unter dem Strich bleiben wird, ist klar: nicht viel.
Bühnenbildner Anton von Bredow hat neben dem Saloon mit seinen unaufhörlich rotierenden Ventilatoren und dem hölzernen Pferdegatter auch einen jener Jahrmarktsspielautomaten aufgestellt, bei denen man mit einem Kran nach Plüschtieren angeln kann – und nahezu immer scheitert, weil die Beute im letzten Moment wieder aus dem Greifarm flutscht. Schon im Normalbetrieb ein Symbol der Vergeblichkeit. Hier aber ist der Automat auch noch mit Sand gefüllt.
Erschienen am 17.10.2023