Theater der Zeit

Stück

Feinstoff

Vier Versuche mit Seide

von Lars Werner

Erschienen in: Theater der Zeit: Sterne über der Lausitz – Die Schauspielerinnen Lucie Luise Thiede und Susann Thiede (03/2022)

Assoziationen: Dramatik Brandenburg

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Zeit: 1943, 1776-1786, 1986, 2154
Orte: Cottbus, Preußischer Königshof in Berlin, Kirche in Laki (Island)

PERSONAL:

der Stadtplanerin allen Zeiten

1776–1786:
Charlotte – Waise und Autorin
Friedrich II – Herrscher von Preußen
Waisenhausleiterin
Chor der Waisen
1943:
Petr – sorbischer Lehrer
Maren – sorbische Schülerin
Direktor
Chor der Schüler / Soldaten
1986:
Pauline Schmitz
Benny Marek
Chor der inoffiziellen Mitarbeiter
2154:
Millie – junge Person
Tua – junge Person
Sal – junge Person
Chor der Seidenspinner

Personen im Stück im Stück „Morus Alba“:
Friedrich II
Kammerdiener Josef
Passagen des Stückes „Morus Alba“ sind z.T. entnommen u. abgewandelt aus „Die zwei Emilien“ von Charlotte von Stein, 1805

Danksagungen
Vorliegender Text wäre nicht möglich gewesen ohne die Gespräche, das Lesen und Feedback von und mit: Deborah Jeromin (freischaffende Künstlerin, Dokumentarfilmerin, Film Verwundene Fäden über den Nationalsozialistischen Seidenanbau), Steffen Krestin (Museumsleiter, Museum Cottbus), Dr. Peter Schurmann (Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Sorbisches Institut Cottbus), Winfried Werner (mein Großvater, ehemaliger Abteilungsleiter der Pentacon-Kamerawerke der DDR), Dr. Christian Halbrock (Dr. phil. Christian Halbrock, Bundesarchiv Stasi-Unterlagen-Archiv, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung, ehemaliges Mitglied der DDR-Umweltbewegung), Thu Hoài Tran (Regisseur:in, Institut für Affirmative Sabotage), Ana Edroso Stroebe (Dramaturgin), Rafael Ossami Saidy (Regisseur), Fabian Gerhardt (Regisseur), Mariann Yar (Schauspielerin), Dana Liu (Dramaturgin), Uta Bierbaum (Autorin), Daniela Janjic (Autorin), Anno Bechte (Lektor, Verleger)
Hinweis: 1. Teil in Garamond Antique (Vgl. Spectaculum, 1962, Suhrkamp Verlag Frankfurt / M), 2. Teil Documenta Regular (Standardfont Reclam), 3. Teil Maxima (von G. Wunderlich, meist verwendete Schriftart der DDR), 4.Teil Courier New (Standard Drehbuch), Helvetica ist bei Passagen verwendet, die keine eindeutige zeitliche Zuschreibung haben

STADTPLANER
Du hast das Stück zu lesen begonnen.
Oder: Du hast eine Eintrittskarte gekauft

STADTPLANER
Deine Hände haben die erste Seite umgeschlagen.
Oder: Du hast dich in den Saal gesetzt.

STADTPLANER
Fühl das Papier zwischen den Fingern.
Oder: Streiche das Stoffpolster des Sitzes entlang.

STADTPLANER
Fühle, wie weich es ist.

STADTPLANER
Es ist aus Seide.

STADTPLANER
Fühle ihre fließende Glätte.
Oder: Spüre die leichte Kühle des Stoffes.

STADTPLANER
Jetzt schlage noch eine Seide weiter
Oder: Jetzt schau auf die Bühne

STADTPLANER
Das ist Cottbus.

STADTPLANER
Es ist das Jahr 1776.

STADTPLANER
Halt. Mein Fehler.
Wir beginnen anders.

STADTPLANER
Es ist das Jahr
1943.

1.

Zweiter Versuch mit Seide
(1943)

1.1
Das Gymnasium im Cottbus nach Schulschluss.
Petr allein.

PETR
Was war das? Dieses Geräusch? Dieses Knirschen. Quietschen. Altes Haus? Schweres Metalltor, das sich schreiend öffnet? Atmen nachts die Dielen aus, oder betritt da ein schwerer Stiefel die Aula? Ist es so kalt, wegen des Winters, oder weil eisblaue Augen nach mir schauen? Soll ich schauen? Hinter meiner Wand hervorkommen?
Nur ein bisschen. Nur ein kleiner Blick in die leere Schule. Dass ich weiß, da ist nichts.
Aber was ist, wenn doch; schwerer Stiefel, kalter Blick mir begegnen, zuerst der Blick dann die Stiefel – Boden, Winter, langer Winter, bald zehn Jahre schon.
Beruhig dich, Petr. Wie beruhigst du dich sonst. Flüstere deine Worte in die Wände.

Flüstert: Lubosć
Flüstert: Pokoj
Flüstert: Spanje
Nochmal.
Er flüstert alles nochmal. Dann ertönt wieder ein Geräusch.
Nein, diesmal ist es echt! Tiefer in die Wand, Petr. Beeile dich.

1.2
STADTPLANER
Was bisher geschah? Nun
wenn wir hier auf diese Karte einmal schauen wollen, sind da
zuallererst keine Landesgrenzen
zwischen diesen ehemaligen Kleinstkönigreichen mehr.
Ein Einig Vaterland mit Preußisch als Staatsräson wurde
angetrieben von frisch entdecktem Druck
von Dampf aus der Kraft von Kohle
kaum aufzuhalten
und damit natürlich unabwendbar in den Wettbewerb, ach, was soll’s, in die Schützengräben mit allen anderen geschlittert. UND DANN
ist dieses Einige Land auf den gasverseuchten Schlachtenfeldern
weil Nationalismus eben ein recht einseitiges Reiseunternehmen ist. UND DANN wurde was an stolzem Hochmuth
durch mangelnde Landesgrenzen geboren ward aufs Derbste kleingemacht. UND DANN:
Kostete das Brot etwa, nun, grob geschätzt 100 Millionen Mark und Millionen sind arbeitslos. ABER DA kommen wir doch raus
etwas planlos aber
mit gerechten Wahlen und guten Reden
bauen wir neue Straßen in – nehmen wir zum Beispiel Cottbus
dass in die Stadt mehr Fabriken passen.
Mehr Arbeiter in die Häuser und Hinterhäuser und Hinterhinterhäuser daneben
so viele auf einem Zimmer, so viele in der Stadt, es ist so voll, nur für Probleme ist noch Platz. ALSO NUN als Folge
all dessen
als Folge der Einheit
als Folge der Größe
der Kriege als Folge
der verlorenen Schlachten der verlorenen Gelder und Länder
als Folge des teuren Brots
als Folge all der vertanen und dummen und herrschsüchtigen
und all der anderen Pläne
kommt eine Partei aus dem deutschen nicht sehr weit unter der Oberfläche liegenden Bewusstsein gekrochen
und zeigt mit den Fingern auf Juden, zeigt mit den Fingern auf Sorben,
Russen,
Engländer,
Schwule und Sozialisten
zeigt vor allem weit weg
von sich mit weit gestrecktem Arm in all die Länder –
mir soll’s recht sein, als Stadtplaner habe ich überall zu tun –
Und nun – will ich sehen, wie meine Planung in Handlung übergeht.
Schüler, was liegt an.

CHOR DER SCHÜLER
Wir wachsen, denn es sind Zeiten gekommen.
Sie kamen mit Dampf, dann kamen sie mit Gewehren, Kanonen, Bomben,
Einheit, Einheit, Einheit, Feuer, Giftgas, Schlachten – Ende. Ruhe.
Aufteilung.
Aber jetzt neues Wachsen.
Wir wachsen.
Das ewige, industrielle Diktat.
Was atmen will, muss größer werden.
Größer.
Unsere Schuhe sie sind bald zu klein.
Also rein
in die nächste Größe, in die Schuluniform und in der Schule überall ein Bild von einem Mann der genormt
wie ein Lineal in den Himmel schaut
und seine
oder eine
Stimme schnarrt durch die Gänge, dass wir auch in diesen Himmel schauen sollen,
denn von dort oben fallen
unsere Krieger deutsche Freiheit zu verteidigen,
fallen sie, wenn wir nicht helfen, ohne Schirm.
Und diese Schirme machen wir.
Für die deutsche Freiheit,
die wir an allen Fronten suchen,
sollen nun
Morus Alba – Maulbeerbäume
gepflanzt,
Seidenraupen mit den Blättern
gefüttert,
ihre Kokons
geerntet,
diese Kokons
gekocht
und dann die Fäden
sauber abgewickelt werden.
Viele Fäden
werden ein Schirm,
der Flügel
des deutschen Helden.

1.3
Maren betritt die leere Aula. Läuft die Wände entlang, suchend.

MAREN leise:
Herr Szczepański! Nicht erschrecken. Ich bin’s. Wo sind Sie?

PETR dumpf durch die Wände:
Hier wie immer. Tagsüber, wenn die Schüler lärmen, will ich, dass sie einstürzt, die schützende Wand, dass ich plötzlich, weiß vom Staub, vor meinen alten Schülern stehe, wie ein Gespenst und wie ein Gespenst werden sie mich respektieren und fürchten und dann kann der Unterricht beginnen. Aber nachts da will ich diese Wände um mich wickeln, dass sie mich wie viele Schichten umhüllen.

MAREN
Wie ein Kokon.

PETR
Wie ein Kokon, Maren. Wie ein Kokon.

MAREN
Ich bringe Ihnen Ihr Brot, Herr Szczepański. Mit Grüßen meiner Eltern.

PETR kommt langsam hinter der Wand hervor:
Gutes Kind. Warum tut ihr das alles für mich?

MAREN
Sie wissen warum.

PETR
Sag deinen Eltern, dass sie sich keine bessere Tochter wünschen konnten. Sag es besonders deinem Vater.

Pause.

PETR isst:
Lassen Sie euch noch die Seidenraupen züchten?

MAREN nickt:
Wir sammeln die Blätter von den Maulbeerbäumen und werfen sie auf die kleinen windenden Körper der Raupen. Aber –

PETR
Es reicht nicht.

MAREN
Es reicht nie. Und jeden Tag kommen sie in ihren Uniformen. Ein Mal am Tag da kommen sie und beugen sich in ihren Mänteln, die wie lange Schatten sind, über unsere Arbeit und sie müssen gar nichts sagen. Es reicht nicht. Das wissen wir. Die Bäume gedeihen nicht, die Raupen haben zu wenig zu fressen. Und je weniger sie fressen, umso mehr Deutsche Soldaten fallen ohne Schutz vom Himmel. Und mit ihnen fällt unsere Freiheit.

PETR
Glaub ihnen das nicht, Maren.

MAREN
Werde ich in Gefahr kommen für das hier?

Pause.

PETR
Ich weiß es nicht. Hat der Direktor einen Verdacht?

MAREN
Er fragt nur immer, ob jemand weiß, wohin sie „verreisen“ wollten. Herr Szczepański, warum mussten Sie ausgerechnet dieses Stück zur Lektüre in den Unterricht bringen? Sie hätten doch wissen müssen, dass es Sie in Schwierigkeiten bringt.

PETR
Morus Alba? Es ist so unbekannt, es steht noch nicht einmal auf ihren Listen. Das ist nicht der Grund, dass ich in die Wand musste. Pause. Kannst du noch den Einstiegsmonolog?

MAREN
„Sehet Volk, mein Gewand, wie es fließt und fließt und glänzt. Es verhüllet mich gerade so, dass ich spüre, wie zwischen mir und der Welt eine Grenze wächst. Nicht anders ist mein Titel, ein feines Wort, mich doch aber ganz empor zu den Göttern führend.
Und beydes ist von euch gemacht – “

PETR
Und weißt du noch, was es bedeutet?

MAREN
Wenn die Beherrschten erkennen, dass die Mächtigen sie mehr brauchen als andersherum, dann ist das der erste Schritt heraus aus ihrer Unmündigkeit.

PETR
Und zu Charlotte Neubers Zeiten verfügte die Macht, dass man ihr Seide liefert. Heute will sie dasselbe.

MAREN
„Die ehrenwerten Waffenmeister Preußens übten sich manche Stund’ an den Webstühlen mit den feinsten Seiden. Doch egal, wie sorgsam sie die Seide webten, es kam immer Stahl dabei heraus.“

PETR
Das ist aus Akt 3! Hast du das Stück weitergelesen? Hast du etwa eine Exemplar zuhaus?

MAREN
Ich habe ein wenig abgeschrieben von dem Buch, das bei Ihnen auf dem Lehrerpult lag.

PETR
Du musst diese Aufzeichnung schnell vernichten.

MAREN
Aber –

PETR
Nichts aber, noch heute Nacht. Geh nach Hause und verbrenn die Blätter.

MAREN
Brauchen Sie noch etwas?

PETR
Ich komme zurecht. Bis morgen.

Sie geht. Petr verschwindet in der Wand.
Chor der Schüler tritt auf.

1.4

CHOR DER SCHÜLER
Wir wachsen.
Sagen Sie.
Wir wachsen.
Unter unseren Händen wachsen Maulbeerbäume.
Wir pflücken die Blätter.
Es ist ein Spiel. Wir spielen Ernte.
Wir bringen die Ernte unseren Raupen.
Kleine, knotige, agile Wesen.
Sie liefern die Seide, die unsere Helden am Himmel hält.
Zuerst machen wir die Seide, dann hält sie die Helden,
bis wir irgendwann die sind, die vom Himmel fallen.
Das ewige, industrielle Diktat.
Der Aufsatz,
den wir mit unseren Körpern schreiben sollen.
Bis man uns,
wie man eines Tages sagen wird,
von uns befreit.
Dann werden wir uns schlecht erinnern.
An die Arbeit unserer Hände
an das Ziel unseres Flugs.

1.5

In den Gängen des Gymnasiums. Der Direktor holt Maren ein.

DIREKTOR
Fräulein Menzel, auf ein Wort.

MAREN
Herr Direktor?

DIREKTOR
Wie machen sich die kleinen Biester?

MAREN
Gar nicht schlecht. Aber Mehr Blätter wären gut.

DIREKTOR
Unbedingt unbedingt. Und wie geht es Herrn Szczepański?

Pause.

MAREN
Verzeihung?

DIREKTOR
War er nicht auch ein guter Freund Ihres Vaters? Ich dachte Sie, als seine beste Schülerin und noch dazu Sorbin, wie er, wüssten vielleicht –

MAREN
Sie haben ihn doch „beurlaubt“? Ich dachte also, er – ist im „Urlaub“.

Pause.

DIREKTOR
Nun werden Sie mal nicht vorlaut, Fräulein.

MAREN
Bitte um Verzeihung, Herr Direktor.

DIREKTOR
Sie wollen sicher hier wohnen bleiben, oder?

Mit Ihrer Familie? Pause. Wenn Ihnen also noch etwas einfällt –

MAREN
Ich muss jetzt zu den Raupen, Herr Direktor.

DIREKTOR
Natürlich. Wie weit sind die Kokons?

MAREN
Morgen sollen sie gekocht werden, sonst schlüpfen die Raupen.

DIREKTOR
Dann spute dich.

Maren geht davon. Der Direktor wendet sich auch ab. Bleibt vor der Wand kurz irritiert stehen, lauscht eine Sekunde, dann schüttelt er den Kopf und geht.

1.6
Der Tag geht zu Ende, es wird dunkel in der Schule.

PETR
Jetzt wird es wieder still im Haus. Der letzte Mensch hat es verlassen, selbst die Ratten schlafen unter der Speisekammer. Und ich bin hier so allein, wie man es sein kann. Eingesperrt in einer Wand. Mit einem Kissen, einer Decke. Habe eine Kerze, etwas Brot. Habe vor mir erhellte fünfzig Zentimeter, dann wird es dunkler, wird es eng. Mein Kokon aus Beton und Putz, eine Welt so weit, wie Kerzenschein.

MAREN
Hallo, ich bin’s –

PETR stürzt aus der Mauer:

Maren! Danke, wie gut, dass du kommst. Ich hatte gerade den Eindruck, dass die Wand immer kälter würden, nicht nur die Temperatur. Sondern dass sie gewissermaßen auch meinem bisherigen Leben das Blut aus den Knochen zieht. Es verwirkt wirken lässt.
Pause.
Was ist? Du schaust so –

MAREN
Ich habe heute mit dem Direktor gesprochen.

PETR
Ich weiß, ich war zum Zeitpunkt in der Wand im Schulflur auf dem Weg zum – nun ja –

MAREN
Was meinte er mit, ob ich gern hier wohnen bleiben will?

Pause.

PETR
Die Gauleitung verteilt die übrigen Sorben überall im Reich. Damit sich unsere Kultur verläuft. Damit wir nicht paktieren.

MAREN
Was haben sie gegen uns? Zuerst haben sie doch noch – ich erinnere mich noch, dass sie uns in unseren Trachten auf Fotos wollten –

PETR
Ach Kind. Vor zwanzig Jahren noch hätte ich dir Sorbisch hier in diesem Gebäude beibringen können. Aber seit die Deutschen eine Einheit sind, ist alles doppelt schlimm, was anders ist.

MAREN
Ja, aber – ein paar unserer Lehrer waren doch sogar in der Partei.

PETR

Wir alle sind unrettbar mit der Zeit verwoben, in der wir leben.

Pause.

MAREN
Ah, fast hätte ich es vergessen. Hier, schauen Sie.

PETR
Was ist? Das ist Morus Alba! Und so – wie viel hast du abgeschrieben? Wie gut, dass du es nicht verbrannt hast. Willst du mit mir lesen? Die Stelle mit dem Feuer. Du liest den Josef und ich –

MAREN
Den Kammerdiener? Ich würde lieber den Friedrich lesen.

MAREN als Friedrich:
Gekrabbel, Flügelschlagen, wie ist mir, als würden Winde aus kleinem Flug mir sengend
heiß einen Draht um die Kehle legen, helft, helft eurem König, ein Traum erwürgt ihn!

PETR als Kammerdiener:
Exzellenz, Ihr riefet, was muss ich sehen, bleich liegt das sonst so lebendige Gesicht, tiefe Furchen, wo sonst Lachfalten sind.

MAREN als Friedrich:
Wie viel Tonnen, Josef, wie viel Tonnen Seide haben sie uns heut beschafft.

PETR als Kammerdiener:
6 Tonnen, Exzellenz.

MAREN als Friedrich:
Geschwind, ruf er die Kutscher, sie mögen uns drei, ach was, Millionen der stärksten Gäule vor die Räder spannen –

PETR als Kammerdiener:
Mir ist, als höre ich von der Ferne her Getöse, wie als würden Welten bersten.

MAREN als Friedrich:
Schneller, peitsch er die Pferde, dass sie fliegen.

PETR als Kammerdiener:
Wir treffen ein, Exzellenz, aber –

MAREN als Friedrich:
– wo das Lager ist – blecken Flammen. Die –

PETR als Kammerdiener:
Seide, sie brennt.

Pause.

PETR
Danke. Diese Stelle tröstet mich immer. Friedrichs Traum von der brennenden Seide, Sinnbild des Untergangs seiner Macht – was ist deine Lieblingsstelle?

Maren ist verlegen.

PETR
Nun sag.

MAREN
Es ist, als die erste Lieferung der Seide kommt, da –

PETR
Badet er nackt in den wallenden Stoffbahnen und fordert seinen Kammerdiener auf, es ihm gleichzutun. Ja, die Stelle ist gut. Der preußische Übervater, angetan von Männern. Eine verschwiegene Seite der Geschichte. Etwas, das nicht passt, wird verdrängt. Aber nichts wird je ganz vergessen.

MAREN
Und Sie glauben nicht, dass man Sie dafür der Schule verwiesen hat? Dass wir Sie deswegen verstecken? Das war doch abzusehen, wenn sie uns Schüler sowas lesen lassen.

PETR
Es ist nicht nur mein Unterricht gerade. 1935 hab ich deinem Vater noch den Dienst getan, und dir heimlich sorbisch beigebracht. Erinnerst du dich? Der Direktor tut es. Es ist ihm eine späte Rache jetzt.

MAREN
Direktor jo swinja.

PETR
Haha. Sehr richtig. Pause. Warte. Das ist es.

MAREN
Was?

PETR
Komm, wir müssen in den Seidenkeller.

Sie rennen ab.

1.7

Es wird Tag. Der Direktor tritt auf.

DIREKTOR schreit auf
Wo sind sie! Oh, wenn ich das rausfinde, es wird ein schlimmer Sturm. Maren!

MAREN tritt auf:
Herr Direktor?

DIREKTOR
Wie oft habe ich dir gesagt, dass du den Führer heilen musst.

MAREN
Sie schienen mir gerade in schlimmerer Not.

DIREKTOR
Du vorlaute Göre. Du steckst dahinter.

MAREN
Hinter was?

DIREKTOR
Wo sind sie?

MAREN
Wovon sprechen Sie, Herr Direktor.

DIREKTOR
Hm hm. Du verneinst es? Ich schicke dir einen Stoßtrupp SS nach Hause, dass deine Eltern vor Schreck Deutsch lernen, Sorbenkind. Ein letztes Mal: Wo sind die Kokons? Heute ist Kochtag, also müssen sie ins Kochbad, sonst ist es zu spät.

MAREN
Aber ich weiß doch nix, Herr Direktor.

DIREKTOR
Wir werden sehen.
Er eilt davon.

1.8
PETR in der Wand:
Nun bin ich wieder vom Geist zum Lehrer zurückverwandelt. Und halte meine schützende Hand, über Tausende Kokons, hier in meiner Wand. Ein lebendiger Dämmstoff, weiche, weiße Knäuel. Im Kerzenlicht kann man darin die kleinen Körper sehen, wie sie sich bewegen, wachsen. Hier haben sie es genügend warm für die letzten Stunden. Höre ich da schon etwas? Höre ich schon, wie kleinste Zähne sich durch die Hülle beißen? Geduldet euch noch ein wenig. Ihr habt die ganze Nacht für eure Geburt. Ich spreche euch meine Worte zu, dass ihr statt Licht einen Laut habt, dem ihr ins Freie folgen könnt.
Flüstert: Lubosć
Flüstert: Pokoj
Flüstert: Spanje

1.9
Es klingelt zur Pause, der Schulflur füllt sich mit Jugendlichen. Sie rennen durcheinander, schwatzen, rufen. Es klingelt zum Unterricht und sie rennen wieder in ihre Klassenzimmer. Nur Maren, bis dahin ungesehen in der Menge, bleibt einzeln zurück.

MAREN
Herr Szczepański!

PETR
Es ist bald so weit, Maren. Sie nagen sich schon durch die Kokons. Ich höre ganz leise das Rascheln von Flügeln, die sich in der Luft behaupten wollen.

MAREN
Ich wollte mich nur verabschieden. Wir werden umgesiedelt.
Man hat bei meinen Eltern ein Sorbisches Wörter­buch gefunden und mein Vater hat doch früher den Verein geleitet, da wollte der Leutnant kein Risiko eingehen. Man schickt uns nach Thüringen.

Pause.

PETR
Es tut mir leid, mein Kind. Pause. Ich kann es nicht gutmachen.

MAREN
Vielleicht ist es besser? Was eben noch Klassen­kamerad, steckt jetzt in Uniform und rennt mir in die Wohnung. Das ist doch kein Zuhause, wo in den Schatten alte Freunde auf dich lauern.

PETR
Ich – hoffe es wird gut für euch.

MAREN
Bitte. Seien Sie nicht traurig. Ich bin stolz, dass wir ihnen wenigstens ein bisschen die Flügel gekappt haben.

PETR

Ja – du hast Recht. Es ist wenig, aber es ist gut. Kurze Pause. Lebewohl.
Maren geht.
Die Schulklingel klingelt.

1.10
Der Chor der Schüler tritt auf.

CHOR DER SCHÜLER/SOLDATEN
Wir sind gewachsen,
gewachsen,
bis unsere Hände um Waffenläufe passen.
Wir haben gehorcht, unseren Lehrern und dem Führer,
unseren Leutnants und Offizieren
und wir salutieren und wir marschieren
und auf unseren Rücken falsche Flügel,
damit wir vom Himmel fallen können,
einfallen, einfallen
wollen wir mit falschem Flügel
vom armen Tier.
Das kleine Wesen
gewachsen für die große Sache doch –
Pause.
Herr Direktor!

DIREKTOR eilt auf:
Was ist? Alles durchsuchen Soldaten, irgendwo müssen sie sein.

CHOR DER SCHÜLER/SOLDATEN
Die Raupen. Sie sind alle geschlüpft.

2.
1. Versuch mit Seide
1776

2.1
CHOR DER WAISEN
Wir haben dir zugehört,
auf den Märkten, in den Gassen
dieser Stadt,
haben gehört,
du hast dir gewünscht,
du wärest nicht als du geboren worden.
Ein Kind anderer, bessrer Eltern.
Wärest lieber
reicher und schöner
woanders, oder nebenan
auf dem Mond oder im Meer.
Du hast dir einfach gewünscht,
dass dein Leben bisschen anders wäre.
Oder? Sag schon und schau
hier stehen unsere Maulbeerbäume.
Jede Waise hat
einen, auf den es aufpassen muss
dass ist schon mal mehr für den Baum
als für die Waisen, oder?
Jedenfalls
möchten wir dir etwas vorschlagen
Wir hätten gern deinen „Unglücksfall“
einer gestressten Mutterliebe
und ungeklärter, väterlicher Distanz.
Willst du mit uns tauschen?
Wir haben
das hat man uns gesagt
ein Vater Land
eine Mutter Sprache und
Sprache und Land
die unsere Hände brauchen.
Wir werden gebraucht –
das haben wir.
Das ist ein schönes Gefühl
Das könnten wir dir anbieten.

2.2
Waisenhaus. Zimmer von Charlotte. Im Zimmer steht ein Maulbeerbaum, dessen Äste an die Decke stoßen. Neben ihm ist gerade noch Platz für ein kleines Bett und ein Schränkchen sowie einen Bollerofen. Charlotte steht kreidebleich vor der Waisenhausleiterin, die sie streng mustert.

CHARLOTTE
Sie sind schon wieder abgehauen!

WAISENHAUSLEITERIN
Es sind lahme Kriechtiere, Charlotte.

CHARLOTTE
Ja, aber auch die können entweichen, wenn man länger nicht hinschaut.

WAISENHAUSLEITERIN
Du kennst die Vereinbarung. Jedes Waisenkind züchtet sich einen Maulbeerbaum in seinem Zimmer –

CHARLOTTE
– und lässt die Seidenraupen nicht aus dem Auge, bis sie sich verpuppen.

WAISENHAUSLEITERIN
Wenn du dein Pfund Seide nicht ablieferst, musst du dir was eigenes suchen. Es wird Zeit, wir brauchen den Platz. Ohnehin bist du schon zwei Jahre länger hier als üblich.

CHARLOTTE
Ist das meine Schuld? Die Hugenotten haben die letzten vom Krieg freien Häuser genommen, und die anderen sind bereits wieder baufällig. Dazu grassiert der Hunger und niemand will ein weiteres Maul noch stopfen.

WAISENHAUSLEITERIN
Die Dörfer? Die Wenden suchen immer fleiß‘ge Hilfe.

CHARLOTTE
Ich kann kein Sorbisch!

WAISENHAUSLEITERIN
Dann zieh zur Kayla Pinkus, sie braucht im Fachgeschäft eine Hand, hat man mir gesagt.

CHARLOTTE
Darf ich in einem jüdischen Geschäft arbeiten?! Eben. Ohne Eltern und Konfession geboren, keine Spur von nichts an mir, aber durch Verweilen in diesem Haus so eingepreußt, dass ich mich dem dummen Hass der Gesetze fügen muss.

WAISENHAUSLEITERIN
Lerne ein oder zwei Sprachen mehr. Das verbessert deine Möglichkeiten. Jetzt geh schon endlich die Raupen fangen. Bevor sie in den Dielen zertrampelt werden von den anderen Waisen.

Sie geht davon.

CHARLOTTE allein:
Geh dir selbst was fangen, du alter Bock. Wo seid ihr Kriechtiere, garstige weiße Stöcker, Gespensterwürmer, kusch kusch, wo – habt ihr euch in die Ritzen der alten staubigen Dielen verirrt, wollt ihr wie die Schaben leben? Na kommt, aha, tatsächlich, in den Rändern und Fugen eingekreucht habt ihr euch. Her in die Hand.
Und zurück mit euch ins Zimmer zum Morus Alba.
Du blöder, knechtender Baum.

Tritt dagegen, heult auf vor Schmerz.

WAISENHAUSLEITERIN
Trittst du etwa nach dem Baume? Du weißt doch, was dir da blüht.

CHARLOTTE
Es war die Bettkante! Pause.

2.3
Der Stadtplaner nähert sich auf einem Pferd der Stadt Cottbus.

STADTPLANER

Da ist sie schon, die Stadt mit ihren kleinen Giebeln
darüber Rauch, als wäre sie noch immer im Krieg!
Aber zum Glück ist ja nun Stille
außer in den Köpfen wo sich der Krieg
wiederholt und wiederholt
weil die Köpfe wie der verfluchte ertraglose Boden hier
nicht vergessen können
das Blut all die Pferde und das Stehen.
Vor allem kann der Boden nie das Stehen der Heere vergessen
und dann ihr Rennen Krachen Fallen. Es fielen alle und sie hinterließen
vier Generationen
Waisenkinder. Die, die dieses bisschen Stadt hier
spärlich neu besiedelten
bis sich ihnen ein neuer König angenommen hat,
unser wunderbarer Friedrich, Exzellenzdurchlauchtwohlgeboren,
der ihnen neue Leute schickte.
Aus Frankreich kamen welche, aus Italien, es kamen Hugenotten, Juden,
sie kamen zu den Sorben und Preußen und doch
bleiben manche als Spuren des Krieges
wie der karge Acker allein
denen wollen wir mit Arbeit helfen
dort steht es, weißgekalkt, braune Balken, ein hoher Giebel.
Das Waisenhaus, ehrlichstes Gebäude dieser entkernten Welt.

2.4
Waisenhaus. Zimmer von Charlotte. Voller Missmut betrachtet sie den Baum.

CHARLOTTE
Blöder, nutzloser Blätterapparat.
Die Wehranlagen haben sie für dich zurückgebaut, die Plätze für dich freigegeben. Nur damit der Friedrich den Italienern und Franzmännern das Geschäft mit Seide ruinieren kann. Hat dem Fritz mal wer vom Wetter in dieser seiner Welt berichtet? Es stürmt und windet, es graut in Preußen. Aber Sonne? Hier in Cottbus? Oh ja. Im Sommer berichten manche auf dem Markt, dass sie die Sonne draußen auf einem Feld bei einem Schwatz gesehen haben. Sie soll ja fließend alle Sprachen können, ist im Wendischen zuhause, wie im Jiddischen und Französischen. Sie könnte sich blendend durch die Straßen unseres kleinen Babels bewegen. Aber nein, Herr Friedrich, nein. Die Sonne ist an vornehmeren Orten und darum wächst dieser dummdämlichdepperte Baum auch kaum. Außer natürlich man wärmt ihn, als wäre das eigene Heizen Ersatz für das Klima. Scheit um Scheit in den Bollerofen, da hast du stumme Rinde, deine Raupen hast du wieder, jetzt gebt Ruhe, ich muss doch schreiben.
Das leere Blatt ein Tor ins Weite
die Tinte mein Schlüssel und –

Vom Marktplatz dringt plötzlich eine laute Stimme zu ihrem Fenster.

STADTPLANER auf dem Markt
Liebe Bewohner, Leute und Schaulustige.

CHARLOTTE
Was nun wieder?

STADTPLANER
Im Namen seiner Exzellenz, Friedrich II, König von Preußen, ergeht folgendes Edikt.

CHARLOTTE ruft aus dem Fenster:
Ein Edikt! Oh! Schon wieder! Manch einem ersetzen die Edikte bald die Butter auf dem Brot!

STADTPLANER
Ruhe, Göre! Es geht dich an!
Erlauchtheit Friedrich II, König von Preußen und Markgraf von Brandenburg, von Gottes Gnaden etcetera etcetera, verkündet, dass die im Seidenwerk gebildetsten Waisen am Hofe eine neue Heimat finden sollen.

CHARLOTTE zu den Raupen:
Habt ihr das gehört, garst’ge Gespenster?
Man kann an den Hofe, wenn man euch nur gut versteht.

Sie rennt zum Arbeitszimmer der Waisenhausleiterin. Diese sitzt an ihrem Schreibtisch und schaut sie an, als hätte sie Charlotte erwartet.

WAISENHAUSLEITERIN
Da bist du schon.

CHARLOTTE
Sie müssen mich dem Friedrich mit Brief und Siegel nur empfehlen und schon ist meine Stube frei!

WAISENHAUSLEITERIN
Da kommt gerade die, deren Baum am niedrigsten unter der Decke steht und deren Raupen sich in Spott ergehen.

CHARLOTTE
Ich bitte Sie, werte Leiterin. Nur eine Lüge, mehr verlang ich nicht! In Potsdam ist Kultur und Geist – nicht wie hier in unserem Cottbus – wo wir das allernötigste tagein tagaus nur denken und bestellen dürfen. Hier klammert sich der Geist ans Leben. Dort kann er wandern über jede Grenze hinweg.

Pause.

WAISENHAUSLEITERIN
Dein Glück ist, dass mir gerade eine reiche Familie für eine Einzelkammer ganze vier Taler im Jahr anbietet, damit ihr Sprössling an der guten Leistung unserer Waisen sich ein Vorbild nimmt.

CHARLOTTE
Heißt das –

WAISENHAUSLEITERIN
Du wirst mir keine Schande bringen? Wirst das Pamphlet zum Seidenbau wie deinen Namen auf den Lippen wissen? Wirst noch ein paar Stunden das Handwerk üben?

CHARLOTTE
Alles, was Sie wünschen, es ist gemacht! Nur raus hier, raus! Zur Sprache, zu den Büchern, den Festen!

Sie eilt zurück auf ihr Zimmer. Schaut zu den Seidenraupen.

CHARLOTTE
Endlich. Endlich, ihr Nagetierwürmchen, komm ich weg von euch. An einen Ort, an dem mit etwas Glück mein Geschlecht, meine Herkunft im Dunkel hinter der Bühne vergessen werden können, während vorn am Bühnenrand meine Worte auf lange Zeit als Erinnerung in die Köpfe der Menschen wirken. Geschwind. Die Sachen in den Beutel. Das Pamphlet zum Seidenbau, wo ist es? Hier – Jetzt heißt es studieren, dass die anderen Waisen bleich vor Neid, bleich wie die Raupen werden. Lies, Charlotte!

2.5
Marktplatz. Der Stadtplaner steht vor dem Waisenhaus und heißt Friedrich II willkommen.

STADTPLANER
Es hat Einfahrt Friedrich II, König von Preußen und etcetera Mark Brandenburg etcetera.

FRIEDRICH II kommt hoch zu Ross am Stadtplaner vorbeigeritten und mustert ihn mit einem langen Blick:
Hat er keine Zeit mehr für die Titel? Will er in Pommern Kartoffeln pflücken?

STADTPLANER
Pfui, diese Innovation Ihrer Majestät wird im preußischen Maul nie heimatlich werden.

FRIEDRICH
Er hat Glück, dass ich seine Spöttereien vergnüglich finde.

STADTPLANER
Und meinen Anblick ebenso.

FRIEDRICH
Nun führ mir die Waisen vor, du sagtest, in dieser Stadt sind sie besonders schlau?

STADTPLANER
Heran mit ihnen, nur die besten sind es. So dann, beweist, dass es sitzt.

Die Waisen treten auf.

CHOR DER WAISEN (Charlotte tritt mit ihm auf und versucht mitzukommen, verhaspelt sich mehrmals, murmelt mit oder setzt aus)
Seidenspinner
sind wir spinnen Seide
aus Bombyx Mori
domestiziert vor 4500 Jahren
Hochleistungstierchen
frisst nur noch Maulbeerbäumchenblätterchen
Morus Alba
muss gut behütet werden
wie auch wir
sonst geht er draußen ein
also

FRIEDRICH II
Stopp. Du da (zeigt auf Charlotte), was ist mit dir. Kannst du das nicht? Hat man mir dich nicht mit Brief und Siegel empfohlen. Los. Allein weiter.

CHARLOTTE
Ich – also die – Seidenspinner sie –

CHOR DER WAISEN (ganz leise, sagt ihr es vor)
Sie verpuppen sich
mit Drüsen

CHARLOTTE
Sie verpuppen sich mit diesen Drüsen im Maul die legen sich um sie herum – in nur drei nein vier Wochen

CHOR DER WAISEN
Etwa 300 000. Mal.
Vier Häutungen später.

FRIEDRICH
Alleine weiter, hab ich gesagt.

CHARLOTTE
Dann im Winter, wenn sie ganz verpuppt sind.

CHOR DER WAISEN
Schmeißen wir die Kokons ins kochende Wasser. Wir wissen zu berichten von den sehr leisen Schreien

CHARLOTTE
Sonst, also wenn man das nicht tut.
Kommen die schönsten Kreaturen daraus hervor.

FRIEDRICH
Wer hat die empfohlen, die ist ja auch kein Kind mehr. Schau die Hände – voller Tinte und leicht verkrümmt, als würd sie im Geist etwas zurückhalten –

CHARLOTTE
Bitte Exzellenz. Nehmen Sie mich mit!

STADTPLANER
Was wagst du seine Majestät direkt anzusprechen? Und warum sind die Knie nicht eingeknickt beim Anblick seiner Herrlichkeit?

FRIEDRICH
Ach, er soll sie lassen. Sag an. Warum sollten wir es mitnehmen? Was soll uns das unwissende Gör am Hofe?

CHARLOTTE
Ich muss doch schreiben. Es geht doch gar nicht anders, hören Sie.

FRIEDRICH
Und was will es da kritzeln?

CHARLOTTE
Tragödien, Exzellenz.

FRIEDRICH
Und wer kümmert sich um die Raupen?

CHARLOTTE
Ich werde des Tages Seide spinnen und des Nachts Verse.

Pause.

FRIEDRICH
Tragödien also. Ich sähe im Trauerspiel gern mehr Natürlichkeit. So sage mir, wirst du diese suchen? Ganz nach französischer Mode? Wenn du das versprichst, sollst du einen Platz an meinem Hofe haben.

STADTPLANER
Aber Exzellenz, es ist nicht vorgesehen, dass dieses Kind bei Ihnen –

FRIEDRICH
Was vorgesehen ist, das befehle ich.

STADTPLANER
Natürlich.

FRIEDRICH zu Charlotte:
Nun?

CHARLOTTE
Natürlichkeit, eure Exzellenz, ich verspreche es. Pause. Aber was, wenn es nicht gedeiht?

FRIEDRICH
Nun, eines von beiden sollte es. Die Raupen, oder die Verse.

Er wendet sich ab.

STADTPLANER
Eure Exzellenz beweist erneut, dass das Wesen der Aufklärung zu Herzensgüte führt. Nun zu euch anderen Waisen. Er begutachtet sie. Lässt sich die Hände zeigen. Gut. Du, und du – und du. Wir erwarten euch in Potsdam, wo es so manche Plantage besser schafft, als die verfluchte Cottbusser Zucht. Er und Friedrich gehen davon. Zwei Tonnen gerade mal. Dass sich der Bürgermeister nicht schämt.

FRIEDRICH
Vielleicht gelingen ihm als Lohnknecht Kartoffeln besser.

STADTPLANER
Eure Exzellenz ist heut’ zu köstlich.

2.6
Königssitz in Potsdam. Kleine Kammer im Schloss des Nachts. Charlotte kommt herein.

CHARLOTTE:
Sie lässt sich auf den Stuhl sinken. Das mühsame Tagewerk ist vollbracht. Nun soll mir das Kratzen der Feder Erholung davon schaffen. Sie beginnt zu schreiben.
Fritz sagt, das Versmaß meiner Strophen sitzt, nur die Sprache soll sich mehr an der Bühne orientieren. Aber es ist doch tot und alt, was er aus Frankreich spielen lässt. Warum soll ich mich nach diesen staubigen Meistern richten, wenn doch ihre Welt gar nicht mehr die Schnelligkeit und Vielfalt der meinen kennt? Und dann?
Wenn von mir was fertig ist? Kommt es nicht auf die Bühne, obwohl es so einfach wäre. Nein.
Das ist uns zu wenig französisch
Charlotte
Das ist zu verspielt
Charlotte
Interessiert Sie Schönheit nicht?
Fräulein Charlotte?
Wollen Sie nicht lieber eine Muse sein, für andere große Dramatiker?
Interesse?
Für diese Leidenschaft für Schwall und Echo meiner Weimarer Kollegen?
Wenn da nicht aller drei Minuten
ein Teufel durch die Hölle schreit
versteht der Deutsche nichts zu seiner Zeit
Nein, danke.
Schreibt.
Dann habe ich nichts für dich, Charlotte.
Sie seufzt.
Sei es drum. Wir alle sind unrettbar an den Traum verloren, den wir jagen.

2.7
Es klopft an ihre Zimmertür. Sogleich schwingt sie auf und der Stadtplaner kommt rückwärts in den Raum gelaufen und verbeugt sich zur Tür.

STADTPLANER
Seine Majestät, Friedrich der etcetera etcetera.

Friedrich tritt mit verärgertem Blick zum Stadtplaner ein. Dann schaut er mit Genugtuung zu Charlotte, die ihn vom Schreibtisch aus erstaunt mustert.

FRIEDRICH
Sehr gut! Bei der Arbeit. Hat sie schon neue Zeilen? Mir ist gerad recht danach zumute.

CHARLOTTE
Ist seiner Exzellenz nicht gut?

STADTPLANER
Wo ist die Verbeugung, steh auf, du –

Friedrich winkt verärgert. Der Stadtplaner hält ein.

FRIEDRICH
Ach, sie sieht wieder direkt durch mich durch. Er seufzt. Mein Bruder hat sich ganz ungünstig öffentlich verhalten. Und mein geliebter Kammerdiener –

CHARLOTTE
Der Josef?

FRIEDRICH
Ist zu ihm gerannt. Wie sie ja weiß, wollt ich ihm gerad doch das Zimmer neben mir verschaffen.

Pause.

CHARLOTTE
Mir ist heut nicht danach, Sie zu trösten, Exzellenz.

FRIEDRICH mit kurzem Blick zum Stadtplaner, der höflich lächelt:
Was wagt sie? Ich will lediglich lesen, was sie Neues verfasst hast.

Sie reicht ihm ihre Zeilen.

FRIEDRICH
Was ist es?

CHARLOTTE
Ich wollte die Geschichte der Maulbeerbäume beschreiben. Der Raupen und der Seide. Es soll alles darin vorkommen. Der vielsprachige Lärm meiner Stadt, die Schwierigkeiten der Menschen bei der Zucht. Schließlich hier der Hof, als eine Art frivoles Gegenüber der harten Qualen.

STADTPLANER
Nein, zeigen Sie mir das – Sie wird nicht diese Geschichte –

FRIEDRICH
Was erlaubt er sich? Hinfort jetzt. Es scheint, er ist mir ohnehin schon viel zu sehr ein ungeliebter Schatten.

STADTPLANER
Ich muss doch – das ist meine Aufgabe! Ich muss doch planen und beobachten!
Es gab eine Zeit, da wollten Sie es so.
Und jetzt wollen Euer Erlaucht lieber der Stimme Gehör schenken, die Eure Regierungskunst gar zu kritisch betrachtet.

FRIEDRICH
Er soll verschwinden.

Stadtplaner verlässt das Zimmer.

FRIEDRICH
Nun gut, lass mich sehen.

Er liest die Pergamente.

FRIEDRICH
Oh – das ist neu. Ein ganz neuer Stil. Ungewohnt und auch stürmisch. Ich möchte fast sagen, leidlich modern. Hier am Hofe wird das wohl keiner spielen.

CHARLOTTE
Weil Sie es nicht wollen. Ein Fingerzeig würde genügen.

FRIEDRICH
Ich fürchte, meine Hand ist bald zu schwach. Sie hat ihn doch gerad gesehen, ein Lakai soll er sein, aber er erscheint hinter jeder Wand, kurz davor einen Befehl zu flüstern.

CHARLOTTE
Dann zeigen Sie Ihre Stärke mit lauter Stimme. Dann kann ich mein Flüstern an den Nagel hängen. Pause. Aber ich glaube, Ihre Exzellenz will nur die eigene Position nicht schwächen.

Pause.

CHARLOTTE
Warum die Seide, eure Exzellenz? Verzeihen Sie, aber es funktioniert doch nicht. Es wächst kaum der Baum, es ist zu wenig Stoff. Und was auch immer Preußen an Zartheit versucht, am Ende kommt doch immer Stahl heraus. Die ganze feine Seide nur für Orden und Fahnen.

Pause.

FRIEDRICH
Und für mich. Ich spüre mich am meisten, wenn mich dieser Kühle Schicht einhüllt. Eine Zartheit, die ich als Kind nicht kannte, vielleicht ist es das.

CHARLOTTE
Eine Zartheit, die ich an Ihnen bewundere. Aber – wenn Ihnen doch durch Männer so viel Schlechtes widerfahren ist, warum wollen sie dann die Frauen im Reich so unaufgeklärt belassen? Tauge ich nur als Haustier, das ein bisschen Verse wie ein gut eingeübtes Apportieren kann? Aber auf der Bühne darf nicht sein, was ich zu sagen habe.

Pause.

FRIEDRICH
Ich komme zum Lesen, um mich von der Politik zu erholen und nun holt sie mich ein. Wir haben doch in Frankreich bei Olympe de Gouges gesehen, wie die Masse wütet und tobt, wenn das Stück einer Frau gespielt wird.

CHARLOTTE
Ich glaube, es ging vor allem darum, dass sie Sklaverei angesprochen –

FRIEDRICH
Nein, wirklich. Ich will sie ja unterstützen. Nur sind noch nicht alle bereit. Aber – sonst, willst du nicht sehen, dass überall Fortschritt ist? Dass ich die Faust, mit der ich, wir alle!, erzogen wurden, landauf landab mit aller Macht geöffnet habe?

CHARLOTTE
Ich sehe vor allem Stillstand.
BRRRRRCH, KRCCCHHHH.
Die Tür kracht auf und der Stadtplaner kommt herein.

STADTPLANER
Exzellenz, kommen Sie!
BRCHHHH.
Der Boden zittert.

FRIEDRICH
Was ist? Donnert etwa ein Krieg da in der Ferne? Sollte ich nicht gewarnt sein, vor solchen Dingen?

STADTPLANER
Nein, es ist kein Krieg. Es ist – das hab ich nicht vorhergesehen. Der Himmel führt eine dunkle Farbe, der Boden bebt. Wir müssen Sie schützen.

ZWISCHENSPIEL

Vulkanausbruch
Laki, Island. 1783

FEUERPRIESTER JÓN STEINGRÍMSSON
Zuerst
schwillt der Boden an
ungeheures Heulen

EINE KIRCHENBESUCHERIN
Priester Steingrimsson, schnell die Türe, wir müssen sie schließen.

JÓN STEINGRÍMSSON
Nun warte, ich beschreib doch gerad:
Dann plötzlich
ein Schrei lässt ihn bersten
in viele Teile

EINE KIRCHENBESUCHERIN
Das war doch eher so ein Brrrrrch, Krccchhhh.

JÓN STEINGRÍMSSON
Ein Schrei!
Legt sie bloß
der Erde Eingeweide
wie ein Tier seine Beute zerreißend.

KIRCHENBESUCHERIN
Haben wir hier eigentlich was zu essen?

JÓN STEINGRÍMSSON
Erst die Predigt.

KIRCHENBESUCHERIN
Erst die Predigt, hat der Priester gesagt, Leute.
Na, wer murrt, kriegt später keine Suppe!

JÓN STEINGRÍMSSON
Äh, wo war ich.
Ja!
Von den kleinsten Löchern
brechen Flammen und Feuer aus.
Große Blöcke Gestein und Teile des Grases
werden geworfen hoch in die Luft
und in unbeschreibliche Höhen.

KIRCHENBESUCHERIN
Etwa so vier Meter.

JÓN STEINGRÍMSSON
Die Erde zittert ohne Unterlass
wie schrecklich ist es das zu sehen –
lso die Lava kommt auf die Kirche zu.

JÓN STEINGRÍMSSON
– so ein Zeichen
eines zürnenden Gottes
jetzt ist es Zeit ihm zu beichten!1*

KIRCHENBESUCHERIN
Ah! Oh. Es geht los, Leute!

JÓN STEINGRÍMSSON
Oh Gemeinde, sehet aus den Fenstern
das ist die Glut des Teufels
die ihr zu lange schon vor euren Türen geduldet habt!
Gott persönlich duldet heute diese Flammen, damit sie euch die Seelen waschen.

KIRCHENBESUCHERIN
Die Lavaströme haben eingehalten!

JÓN STEINGRÍMSSON
Faltet die Hände,
dass ihr eure Herzen IHM ganz entgegen halten und –
Was?

KIRCHENBESUCHERIN
Ja, seht doch.

JÓN STEINGRÍMSSON
Ja, genau vor der Tür versiegt der Strom und kalt wird er und das Spucken aus dem Boden es versiegt! Ein Zeichen der Liebe Gottes, Gemeinde.

KIRCHENBESUCHERIN
Hat der uns nicht eben noch voll gehasst?

3.
3. Versuch mit Seide
1983

3.1
BESCHLAGNAHMTES TAGEBUCH VON PAULINE SCHMITZ
23.03.1964: Heut haben wir auf dem Hof die Seidenraupen gesetzt. Mutti hat gesagt, das machen wir schon lange. Ich fand sie ganz süß, die kleinen Dinger.
Ich hoffe, auch so ein schönes Tuch machen zu können, wie es Mutti hat.
Am Abendbrottisch hat Vati wieder mehr gehustet als gegessen.

3.2
STADTPLANER
Was ist – wo bin ich – Exzellenz? Direktor?
Beide weg? Schon lange tot? Meine Versuche der Planung dahin?
Dieser Vulkanausbruch hat mich völlig aus der Bahn geworfen.
Seine Asche hat Europa ein Sommer lang jedes Licht geraubt
hat sich auf Ernten vernicht und sich auf Lungen
gelegt. Hat mir die Sicht geraubt,
mir die Zeiten durcheinander und mich durch die Zeiten gehauen.
Es ist schon so schwer genug Geschichte zu machen.
Und in den Zeiten das notwendige Übel zu erkennen,
gleichzeitig das Gute zu fördern.
Und beides zu hemmen, wo es nötig ist.
Es ist fast unmöglich unter dieser ganzen Asche die Fäden zu erkennen, an denen ich wieder anknüpfen kann.
Aber endlich sehe ich wieder!
Wie neue Städte entstehen.
Sie stellen Schlote in den Himmel
aus denen es schwersteigend qualmt.
In denen Menschen –
nein Genossen!
– das Licht des Landes an fließenden Bändernhochglutheißer Maschinen
befeuern.
Oh Cottbus
du Motor
lässt ein halbes Land und
ein ganzes großes Experiment
erleuchten –
Laugen mischen
zischen, Chemikalien,
Platinen, künstliche Seiden – ein Betrieb in nie endender Schicht –
Ich habe nun einmal beobachtet, und einmal gedient.
Nun will ich aktiver sein.
Und diesem Koloss von Industrie
ein Heer wachsamer Augen geben.
Es soll mir nicht noch mal passieren,
dass meine Erzählung so willkürlich gebrochen wird.

3.3
BERICHT DES CHORS DER INOFFIZIELLEN MITARBEITER
Frage: Wie viel?
Antwort: Wir sind 10 500
auf 120 900
Inoffizieller
pro
ein Dutzend
Einwohner dieser Stadt.
Frage: Wer
Antwort:
Wir
sind deine Freunde, vom Sportverein, vielleicht die eine, die in letzter Zeit etwas stiller ist. Deine Väter, die hilflos ins Telefon schweigen, während du schon lange nicht mehr abnimmst.
Deine Frau, wenn sie abends so lang wegbleibt, dein Geliebter, der sich immer entzieht und du weißt nicht, soll das ein Spiel sein, oder bist du sein Ziel.
Dein Kind, das plötzlich wieder zu Besuch kommt. Dein Lehrer, der so auf Kumpel macht. Deine Trainerinnen, die dir sagen, dass die Pillen gute Vitamine sind.
Deine Polizisten, die dich nachts freundlich an den Staat erinnern. Deine Lieblingsschauspieler, du glaubst, du guckst ihnen im TV zu, aber sie schauen heimlich zurück. Deine Trauzeugin, vielleicht wollte sie dein Leben und hat nur ihres. Dein Tagebuch, wenn du es verlierst, wir sind –
so viele, wir sind wie eine eigene
Gesellschaft, ein Spiegel der euren, ein Echo in den Akten
wir stehen hier so dicht an dicht
manchmal
stehen wir im Schatten
des Anderen.
Und nur die Akten können es wissen.
Die Akten, in die wir flüstern:
Bericht, Cottbus 10.12.1983
Gedächtnisprotokoll
Ankunft Pauline Schmitz in Cottbus mit Gefangenentransport.
Die Inhaftierte hat den Zug bei Verlassen Grotewohl-Express genannt. Satirischer Begriff häufig von staatskritischen Subjekten vertreten. Die Inhaftierte hat daraufhin wissen wollen, wo Station gemacht worden ist.

3.4
PAULINE SCHMITZ
Hallo? Wo bin ich? Hallo? Da sind vierzehn Frauen auf meiner Zelle. Wir sind vierzehn auf  20 Quadratmetern und keine weiß, wo wir sind. An Schlaf ist nicht zu denken. Wir wechseln uns ab mit Sitzen auf der Schüssel, der Pritsche, dem Lehnen an der Wand. Können wir Decken haben! Hallo?

3.5
STADTPLANER
11.12.1983
Beginn 06.00 Uhr
Vernehmungsprotokoll der Beschuldigten Pauline Schmitz.
Die Beschuldigte wurde vor Beginn der Vernehmung darüber in Kenntnis gesetzt, dass gemäß § 106 StPO über die Vernehmung zusätzlich eine Schallaufzeichnung angefertigt wird.

PAULINE SCHMITZ
Ich habe die Mitteilung zur Kenntnis genommen und das Magnetband vor Beginn der Vernehmung mit meiner Unterschrift und dem heutigen Datum abgezeichnet.

STADTPLANER
Haben Sie schon einmal das Magazin „Grenzfall“ gelesen?

PAULINE
Nein.

STADTPLANER
Es lag auf der Feier, wo wir sie verhaftet haben.

PAULINE
Ich habe auf der Feier gefeiert. Nicht gelesen.

STADTPLANER
Aber Sie lesen gerne, oder?

PAULINE
Sicher.

STADTPLANER
Das Buch, das wir bei Ihnen gefunden haben – Morus Alba von Charlotte Neuber.

PAULINE
Es ist nicht verboten.

STADTPLANER
Und der Titel? Nur ganz zufällig auch der Name der Umweltgruppe „Morus Alba“.
Deren bekanntesten Vertreter auf der Feier waren, auf der wir Sie festgenommen haben?

PAULINE
Auch diese Gruppe ist nicht verboten. Sie trifft sich in der Kirche. Das dürfen wir.

STADTPLANER
Was bedeutet diese unterstrichene Stelle hier?
Liest:
Friedrich stöhnt vor Schmerz: Welche Mannigfaltigkeit, welche Schönheit liegt nicht in diesem Stoffe? Vielleicht sind diese fließenden Formen die letzten Kräfte des entfliehenden Lebens, die der hinaufsteigende Götterfunke nicht mehr braucht.

PAULINE spricht mit:
Charlotte: Ich will Sie heut nicht trösten, Exzellenz.

STADTPLANER
Friedrich: Ich fürchte, heute wirst du es sein,
die Trost braucht.

PAULINE
Und dann stirbt er.

STADTPLANER
Warum ist die Stelle unterstrichen?

PAULINE
Ich finde sie besonders schön.

STADTPLANER
Weil die Macht des Königs vergeht?

PAULINE
Weil er ganz zum Schluss einsieht, dass nur dann etwas von seiner Herrschaft bleibt, wenn alle Menschen mündig werden.

STADTPLANER
Es hat sich so nicht zugetragen!

PAULINE
Dann ist es nur eine Geschichte. Und Sie müssen keine Angst davor haben.

Pause.

STADTPLANER
Benny Marek. Was können Sie uns über ihn sagen. Sie kamen als seine Begleitung.

PAULINE
Ich will nicht weiter aussagen, bevor die Nachtbefragungen nicht abgebrochen wurden. Zudem verlange ich Decken auf unserer Zelle und die Möglichkeit zum Waschen.

Pause.

STADTPLANER
Mitarbeiter!

3.6

BERICHT DES CHORES DER INOFFIZIELLEN MITARBEITER
Frage: Warum?
Antwort: Der Spion liebt
die Information
aber hasst ihren Verräter
und darum sind wir
alle Mitarbeiter
denn wer mitarbeitet der ist doch
gleich irgendwie
auf Augenhöhe
Frage: Wie?
Antwort:
Reingepresst
oder
freiwillig
aus
Überzeugung
und Opportunismus
manchen ist es ein Abenteuer
andere wollen einfach
petzen.
Unsere Ziele sind Menschen
und darum sind wir genauso unterschiedlich.

3.7
BESCHLAGNAHMTES TAGEBUCH VON PAULINE SCHMITZ
10.05.1974
Ich muss raus aus diesem Dorf. Alle trinken zu viel. Das nennen sie dann Feste. Jeden Tag sind Feste. Vier Männer an einem Tisch sind ein Fest. Vor ihnen ein Füllhorn, zwei Zentiliter merkwürdig klare Freude.
Wenn es regnet, räumt Mutti die Wäsche rein – und uns.

3.8
STADTPLANER
Vernehmungsprotokoll. Pauline Schmitz
20.12.1983. Beginn 12 Uhr.
Wach bleiben!

PAULINE
Bitte, ich muss schlafen.

STADTPLANER
Wir sind Ihrem Wunsch nachgekommen. Keine Nachtvernehmungen mehr.
Nun müssen Sie uns entgegenkommen.

PAULINE
Aber Sie halten mich nachts doch wach. Alle halbe Stunde geht das Licht an, wenn Kontrolle ist. Es gibt im Tigerkäfig keine Pritsche. Nur den Boden.

STADTPLANER
Nochmal von vorn. Das Magazin „Grenzfall“, die Umweltgruppe „Morus Alba“. Die Feier.

PAULINE leiert:
Ich bin als Begleitung von Benny Marek gekommen. Wir haben die erfolgreiche letzte Fahrraddemo gegen den Ausbau des Kohlekraftwerks Cottbus gefeiert.

STADTPLANER
Wer hat das Magazin dabeigehabt?

PAULINE
Das Magazin wird in Berlin gedruckt und von einzelnen Leuten republikweit verteilt. „Morus Alba“ hat es immer bei sich liegen. Ich weiß gähnt nicht, wer es –

STADTPLANER
Wach bleiben! Was bedeutet die unterstrichene Zeile in „Morus Alba“? Wer plant die Aktionen der Gruppe?

PAULINE
Niemand plant irgendwas. Das begreift ihr nicht, nein? Dass Leute einfach Impulse haben, einfach machen. Wir leben doch einfach nur noch in den Tag hinein. Als würden wir hier irgendwas wollen. Ihr habt uns die Straßen senkrecht in den Himmel gepflastert. Die ganze Luft habt ihr uns zugepflastert. Wir warten doch nur.

Pause.

STADTPLANER
Frau Schmitz, ich will Ihnen helfen.
Was halten Sie davon? Keine Tigerzelle mehr, sondern eine richtige Zelle mit Fenster und Bett und Zellennachbarin. Ist das ein Angebot?

PAULINE
Was? Ja!

STADTPLANER
Dann müssen Sie mir entgegenkommen.

PAULINE
In welcher Stadt sind wir?

STADTPLANER
Was spielt das für eine Rolle?

PAULINE
Wenn Sie mir sagen können, wo wir sind, glaub ich Ihnen auch, dass Sie mir eine Zelle mit Fenster geben.

STADTPLANER
Wir sind in Cottbus.

Pause.

PAULINE
Ich will eine Zelle zum Hof. Dass ich ein bisschen Himmel sehe.

Pause.

STADTPLANER
Gut.Pause. Für was ist Ihr Freund Benny Marek verantwortlich?

Pause.

PAULINE
Es wird ihm nichts Schlimmes passieren, oder?

STADTPLANER
Die Zelle mit Fenster, Frau Schmitz.

Pause.

PAULINE
Benny hat die ganzen Kontakte nach Berlin und holt dort die Magazine. Wir anderen wissen nicht, mit wem er spricht.

Der Stadtplaner notiert.

STADTPLANER
Sehen Sie, wie einfach das war?

3.9

CHOR DER IM
Protokoll. Abgehörtes Gespräch zwischen Pauline Schmitz und Zellennachbarin Heike Lewandowski. Heike Lewandowski wollte von P.S. wissen, wie schlimm die Tigerzelle gewesen sei. P.S. wollte dazu keine Stellung nehmen. H.L. meinte, wenn sie nicht sprechen würde, mit niemanden, dann wäre sie doppelt eingesperrt.
Pauline Schmitz antwortete, man sei hier bereits schon immer doppelt eingesperrt.
Wenn sie schon nicht sprechen wolle, meinte H.L., dann wolle sie wenigsten zusammen mit ihr aus diesem Stück über Seide lesen. Das Reclam-Heft hatte P.S. nach Vernehmung zurückerhalten. Pauline Schmitz meinte daraufhin, sie wolle die Stelle lesen, wo die Seidenvorräte Friedrichs brennen. Heike Lewandowski fragte, warum nur immer diese. P.S. sagte: Wenn du das nicht weißt, warum bist du überhaupt hier?
Anmerkung:
Es ist davon auszugehen, das P.S. H.L. nicht gänzlich vertraut. Wir empfehlen einen Abzug von H.L., eine Verlegung von P.S. nach Hoheneck und dort gezieltere Beschattung durch angeworbene Mitglieder der Umweltbewegung.

3.10
BESCHLAGNAHMTES TAGEBUCH VON PAULINE SCHMITZ
10.05.1980
Die Straßen in Cottbus sind beinahe so eng wie der Himmel überm Dorf. Die Leute schauen sich misstrauisch an.
Gestern gab’s eine Feier an der Uni zu Ehren unserer aufrechten Arbeiter im Tagebau. Der Unidirektor hat einen der Arbeiter auf die Bühne geholt. Wir mussten lachen. Sie hatten ihn in seinen schmutzigen Arbeitsklamotten zum Fest befohlen.
Hab später dann endlich zum ersten Mal mit Benny gegammelt.

3.11
STADTPLANER liest Berichte:
Die Ausfuhr der Stoffe, der Kohle ist gut.
Es ist ein guter Motor diese Stadt.
Der Himmel ist meist dicht bewölkt, aber es sind – kontrollierte Wolken. Und die Leute, husten leicht, wenn sie sich begrüßen, aber es ist gewolltes Husten – Zeichen gesunder Wirtschaft. Die Methode der direkteren Einwirkung ist gut fürs stadtplanerische Geschäft.
Wie die Maschinen haben alle Menschen einen Hebel und ich weiß, wie man ihn Richtung Fortschritt stellt.

CHOR DER IMs tritt auf:
Kommen Bericht zu erstatten –

STADTPLANER
Das ist höchst ungewöhnlich. Folgen Sie bitte dem normalen Amtsweg.

CHOR DER IMs
Es eilt.

STADTPLANER
Dann stehen Sie hier nicht. Raus damit.

CHOR DER IMs
Wir haben Benny Holtsauer
in seiner Wohnung aufgegriffen,
verhaftet und das Haus durchsucht.

STADTPLANER
Er ist verhaftet, sehr gut.
Was soll nun die ganze Aufregung?
Das hätten Sie mir im Wochenbericht ganz einfach darlegen können.

CHOR DER IMs
Ja, das würden. Wäre da nicht
ein Tagebuch
dass wir bei ihm gefunden haben.
Von Pauline Schmitz.
Aus dem hervorgeht, dass sie –

STADTPLANER
Was?

CHOR DER IMs
die ganze Organisation der Gruppe –

STADTPLANER
Nein!

CHOR DER IMs
verantwortet.

STADTPLANER
Wie konnte euch das entgehen? Auf 12 Menschen habt ihr einen Mitarbeiter. Ihr sitzt in jeder Stube und seid überall zu Gast, aber eine Anführerin könnt ihr nicht erkennen?

CHOR DER IMs
Mit Verlaub.
Frauen sind keine Anführer,
sondern Begleitung der Männer,
auf die werden wir angesetzt –
so bringt man es uns bei.

STADTPLANER
Raus mit euch! Bringt mir Pauline Schmitz.

CHOR DER IMs

Nun – das ist der andere Grund
für unsere Eile.

STADTPLANER
Was steht ihr hier noch rum? Holt sie sofort her.

CHOR DER IMs
Das geht leider nicht.

3.12

BESCHLAGNAHMTES TAGEBUCH VON PAULINE SCHMITZ
Eintragung vom 14.03.1983
Hab Christian und die anderen letzte Woche in die alte Hugenotten-Kirche in Cottbus beordert. Ideen ausgetauscht. Wahlbeobachtung hat breiten Anklang gefunden. Haben heute das Baum­pflanzen im Stadtraum fortgesetzt.
Als Erinnerung an Petr Szczepański Seidenraupenraub habe ich an der Gefängnismauer einen Maulbeerbaum gepflanzt. Vielleicht ist er eines Tages hoch genug, dass jemand über seine Äste in die Freiheit steigen kann.

3.13
STADTPLANER
Cottbus, 03.03.1984
Vernehmungsprotokoll
mit Benny Marek.
Beginn: 08.00 Uhr

STADTPLANER
Name?

BENNY
Benny Marek.

STADTPLANER
Beruf.

BENNY
Gelegenheitsarbeiter.

STADTPLANER
Asozial.

BENNY
Kunde.

STADTPLANER
Nicht mal der Kopf Ihrer Bewegung sind Sie.

BENNY
Bist du doch auch nicht.

Pause.

STADTPLANER
Warum „Morus Alba“? Warum dieses vergessene Stück? Was bringt euch das? Es ist doch nichts. Schlecht geschrieben, unbekannt. Was soll das?

Pause.

BENNY
Bin ich eigentlich festgenommen oder werde ich befragt?

STADTPLANER liest aus seinen Notizen:
„Benny hat die ganzen Kontakte nach Berlin und holt dort die Magazine. Wir anderen wissen nicht, mit wem er spricht.“
Das ist ihre Freundin Pauline Schmitz. Was sagen Sie dazu?

Pause.

BENNY
Sie lügen.

STADTPLANER
So, wie es gerade steht, bringt Sie diese Aussage nach Bautzen.
Ich könnte Ihnen helfen. Dafür müssen Sie mir nur beantworten, wo Frau Schmitz‘ Kontaktleute sind.

Pause.

BENNY
Ach so. Sie ist euch entwischt! Die kluge Pauline. Darum bin ich hier.
Er lacht.
Ihr seid solche Witzfiguren.

STADTPLANER
Hören Sie auf. Was glauben Sie, wer Sie – wo ist Pauline Schmitz.

Benny lacht weiter.

BENNY
Stehts nicht dort in deinen Akten, Stadtplaner?

Benny lacht weiterhin.

STADTPLANER
Was sagst du? Stadtpl –warten wir mal ab, wie Sie das nach ein paar Tagen in der Zelle sehen. Wachen!

Die Wachen transportieren Benny ab.
Er lacht noch immer.
In allen Gängen Gebäudes ist das Lachen hörbar.
Es bleibt im Raum hängen.

STADTPLANER
Was soll dieses Feixen – raus aus dem Zimmer.

Er schlägt die Tür zu, verrammelt das Fenster.
Schiebt Regale vor die Tür. Aber das Lachen bleibt.

STADTPLANER erschöpft:
Es muss werden, wie ich es will. Muss sich mir fügen.
Wenn nicht mit Akten, dann durch Erzählung.
Auf ein letzten Versuch!

4. Versuch mit Seide
Bombyx Sapien
2154

STADTPLANER
Ihr habt eure haptischen Ganzkörperanzüge angezogen.
Pause.
Fühlt wie weich ihr Material ist.
Wie die Motoren und Sensoren kühl auf eurer Haut liegen.
Pause.
Ihr habt eure Augmented-Lenses eingesetzt.
Die Surround-Implantate aktiviert.
Pause.
Ihr habt euch eingeloggt.
Und wartet auf die Show.
Lass mich sie euch zeigen.

STADTPLANER
Zuerst ist ein Black.
Dann blendet es langsam auf und

CUT TO:

EXT. TAG. COTTBUS LUFTRAUM.

STADTPLANER (CONT‘D)
Jetzt eine Totale. Breathtaking. Im wahrsten Sinne. Gelber Nebel über grünen Wäldern, Hügel im gleißenden Sonnenlicht des Morgens. Die Kamera fliegt in etwa 200 Metern Höhe über die Landschaft der Lausitz auf Cottbus zu. Schon kommen erste kleinere Steinhäuser in Sicht. Jetzt mehr und mehr hölzerne Hochhäuser, außen begrünt. Dazwischen große Turbinen und Solarabsorber. Die Kamera fliegt über das Cottbuser Staatstheater, passiert das blinkende Mobilitätszentrum der Bahn. Sie erreicht die äußeren Randbezirke von Tesla-City, dem stetig wachsenden Wohnbezirk des Autogiganten bei Berlin. Und endlich liegt er vor uns: Der gewaltige Ostsee-Sumpf. Ein kilometerweites Areal von üppig grünem Moos – und Grasland, das durchsetzt ist von einer Vielzahl kleinerer Tümpel. An ihren Rändern wachsen meterhohe Bäume, die ihre Kronen in das braungrüne Wasser hängen lassen. In der Luft darüber schwirren Vögel und Mücken und dazwischen kleine Aerosol-Messdrohnen.
Am Rand wird der Sumpf überragt von einem opulenten Gebäude aus Fichtenholz und Graswänden. Fast wie gewachsen fügt sich dieser Bau in die prachtvolle Landschaft ein. Die Kamera fliegt auf das Haus zu. Es ist das gerade eröffnete Friedrich-Der-ZWEITE-Museum für Stadt- und Naturgeschichte. Vor dem Bau ist ein Platz. Hunderte Menschen haben sich versammelt. Ihr seid mitten unter diesen Anwesenden. Schaut mit ihnen zu der Person auf einem Podium. Hinter ihr werden drei überlebensgroße Hologramme von drei Personen in die Luft gespiegelt.
CUT TO:
EXT. TAG. PLATZ VOR DEM MUSEUM.

STADTPLANER (CONT‘D)
Die Menge lauscht der Museumsdirektorin.
Die Kamera schweift durch die Menge, durch die vielen Gesichter.

MUSEUMSDIREKTORIN (OFF SCREEN)
So möchte ich mich mit einem Zitat aus Friedrichs Werk „Morus Alba“ schließen. So endigt sich dieser Tag glücklicher als der Anfang es versprach. In diesem Sinne ist es mir eine enorme Freude hier an diesem geschichtsträchtigen Platz das Friedrich-der-Zweite Museum zu eröffnen mit seinen drei – nun ja – Schutzgeistern –

STADTPLANER
Die Menge lacht höflich über diesen Scherz. Die Kamera dreht sich um nimmt die Hologramme ins Bild.

MUSEUMSDIREKTORIN (O.S.)
Da wären Friedrich der Zweite himself, der im Geheimen selbstkritische Theatertexte über die Seide schrieb. Dann der Direktor des Cottbusser Gymnasiums, der Petr Szczepański vor der SS versteckte. Und natürlich Umweltaktivist Benny Marek, der die Umweltgruppe in Cottbus anführte. Wie niemand sonst stehen diese drei
für unsere neue Stadtpolitik.

STADTPLANER
Die Kamera schweift von den Hologrammen ab und wendet sich wieder der Menge zu.

MUSEUMSDIREKTORIN (O.S.)
Auf der Suche nach Held:innen muss man in den Lücken der Geschichte suchen. Dann findet man Ideen für Morgen. Wo ist das wichtiger als hier am Beginn des Ostsee-Sumpf-Pfades. Dieses Museum wird von nun an die Stadtgeschichte
und Naturgeschichte der Lausitz auf ihre Strukturbrüche, ihre versteckten Held:innen und –

STADTPLANER
Die Kamera schweift jetzt suchend, beinahe chaotisch, wie einem richtig guten Arthouse-Film, also wie ein Betrunkener auf einer Hochzeit, durch die Menge. Bis sie vor Millie, Tua und Sal, drei Jugendlichen, stehen bleibt, die sichtlich gelangweilt sind von der Rede.
Sie unterhalten sich leise.

MILLIE ohne zu sprechen:
Hey.

TUA ebenfalls ohne zu sprechen:
Was?

MILLIE ohne zu sprechen:
Spürt ihr das?

SAL auch ohne zu sprechen:
Was ist?

TUA ohne zu sprechen:
Millie spürt was.

STADTPLANER
Die Teenager beginnen ein Gespräch! Sie wollen den Ablauf der Veranstaltung stören.

SAL ohne zu sprechen:
Was spürst du, Millie? Lass es uns spüren.

MILLIE ohne zu sprechen:
Kommt auf meine Frequenz.

SAL ohne zu sprechen:
Ich fühl es. Dieses ganz Setting. Irgendwas ist daran nicht richtig.

TUA ohne zu sprechen
Ich bin auf der Frequenz. Ja, das ist alles falsch hier. Und – etwas beobachtet, nein – erzählt uns. Was ist das?

SAL ohne zu sprechen
Es fühlt sich alt an.

STADTPLANER
Die Teenager setzen sich in Bewegung. Ihr Ziel sind die Hologramme. In ihrer jugendlichen Hast wollen sie ein Zeichen setzen gegen die sorgsame –

MILLIE zuckt zusammen:
Aber hört ihr das? Etwas anderes ruft uns.

MILLIE ohne zu sprechen
Der Sumpf, die Tiere, fluoreszierende Farben, Bänder formend, wie Codes scheinen sie mir und da ist diese – andere Stimme.

TUA ohne zu sprechen
Andere Stimmen! Noch unhörbarer aber viel wahrer als das hier.

SAL ohne zu sprechen
Jede Stimme ein Band.

STADTPLANER
Die Teenager gehen zum Podium, um die Hologramme zu sabotieren, sie –
Nein, sie – sind verschwunden.

BLACK.

STADTPLANER
Was – die Kameraübertragung ist abgebrochen. Nein, stopp, das Bild ist wieder da –

EXT. TAG. OSTSEE-SUMPF

STADTPLANER (CONT’D)
Die Szenerie wird verschlungen von rankenden Pflanzen. Der Museumsbau wird von gigantischen Pilzen überlagert. Auf ihnen landen Vögel in schimmernden Farben. Die drei Teenager stehen inmitten der Szenerie, ihre Körper umringt von einem Band aus gleißendem Nebel. Da sind sie, Kamera, behalte sie im Frame.

TUA
Ich sehe es, Millie! Ich seh es alles. Aber was bedeutet das.

MILLIE
Wir müssen fliehen. In den Sumpf.

TUA
Aber wir können doch nicht einfach hinterher. Wir müssen später mit der Klasse zurück.

MILLIE
Versteh doch. Es gibt keine Klasse mehr. Das war nur eine Geschichte.

STADTPLANER
Ich hab wieder die Kontrolle über die Kamera. Habe die drei lokalisiert.

DISSOLVE TO:
STADTPLANER (CONT’D)
Die drei gehen durch die Rankengewächse hinein ins dunkle Moor. Das Licht wird heller – nein – dunkler. Ok. Es setzt langsamer Drone-Sound ein. Zuerst unmerklich, dann immer lauter, dröhnender. Jetzt flirren die Farben des Moores mal greller und überblendet. Dann wieder verwirbeln sie. Und jetzt – jetzt gesellt sich zum Drone ein vielstimmiges Tuscheln, wie von einem Chor, der heimlich über den Regisseur lästert. Die Teenager sind schon wieder entkommen. Sie haben sich hinter den Farben wie in Luft aufgelöst.
Die Kamera sinkt herab. Sie durchstreift die Farn– und Rankengewächse. Da hinten sind sie. Jetzt vorsichtig nähern, dass sie die Kamera nicht bemerken.
CUT TO:
STADTPLANER (CONT’D)
Die drei Freund:innen schieben mehrere riesige Seerosengewächse beiseite.
Vor ihnen tut sich ein etwa hundert Meter breites Wasser auf.

MILLIE
Irgendwo hier muss ein Boot sein. Ich weiß es.

SAL
Sollten wir hier überhaupt – man muss den Weg doch in Begleitung machen.

STADTPLANER
Tua umfasst Sals Hand und dann umfasst Sal Millies Hand. Die Kamera geht von ihnen weg und schwebt über dem See. Umfasst alles in einer großen Totale. Die drei Teenager stehen am Rand des Sees umringt von dschungelhaftem Gewächs, die Geräusche der Tiere werden leise – nein, na gut, lauter. Über ihnen wird der Himmel ultraviolett. Und jetzt – was ist das. Da sind schwebende Bänder um die Körper der drei Teenager, sie verbinden sich durch ihre Berührung, formen eine Fessel aus Licht. Sie setzen sich – GLITCH

MILLIE (O.S.)
Wir setzen uns in Bewegung. Von allein. Im Museum hat man uns gesagt, dass wir am Rand der Geschichte geboren sind. Dass vor uns ein Abgrund liegt. Hinter uns alles und vor uns das Nichts. Die Pflanzen dringen wieder in unsere Behausungen ein, die Tiere sind wieder unser Feind, an zweihundert Tagen im Jahr brauchen wir eine Sauerstoffmaske und Schutz vor dem violetten Regen. Aber das ist nicht das Ende.
Die, die das erzählten, glauben das Zentrum gewesen zu sein. Das Zentrum der Geschichte, das Zentrum der Geschlechter, des Umganges mit der Welt. Aber ich bin hier mit den Menschen, die ich liebe – und etwas ruft zu einem neuen Zentrum. Eine fragile, bedrohliche, schöne Entdeckung liegt vor uns. Und die, die bisher den Faden der Erzählung in den Händen hielten werden daran keinen Anteil haben.

STADTPLANER
in Bewegung. Ah, ich höre mich wieder. Ich – ich – alles ist unter Kontrolle. Die Sequzenzen kommen jetzt in schneller Folge. Wir wechseln von der Totale zum Boot. Also cut to:
Die Drei in einem Boot auf dem Wasser. Die Kamera richtet sich zur sengenden, flirren, violetten Sonne.
CUT TO:
STADTPLANER (CONT’D)
Was!?
Petr Szczepanski steht in der Aula seiner Schule. Die Decke des Raumes ist über und über bedeckt mit Seidenfaltern, strahlendes, flügeschlagendes Weiß!
DISSOLVE TO:
STADTPLANER
Close-Up der drei Teenager im Boot. Sie ziehen GLITCH
TUA (O.S.)
Wir ziehen das Boot an den Rand des Sees. Im Museum haben sie berichtet vom ausgehenden 20. Jahrhundert. Der Salton Lake in den USA war ein beliebtes Reiseziel. In den 1980ern warnten Wissenschaftler:innen davor, dass er schrumpfen würde, seine reproduzierenden Kräfte verlieren würde.
In den 90ern schafften es die Fische gerade nur noch so lange zu leben, bis sie sich vermehren konnten, dann starben sie und wurden an Land gespült. Die ganze Küste des Sees eine aufgeblähte, stinkende Pflichterfüllung. Der See zu groß, um ganz zu verdunsten. Die ehemaligen Ferienressorts Crackküchen und Abstellhalden der Zivilisation.

MILLIE
Ein 3D-Raum hat uns gezeigt, wie 2022 die Japanische Atombehörde begann verstrahltes Wasser vom Fukushima-Ereignis ins Meer abzuleiten. Ein Diagramm zeigte uns die Mutation der Korallen.

TUA
Vor 200 Jahren, informierte uns die Museumsdirektorin, gefielen sich die Menschen des Alten Westens darin Katastrophenfilme zu drehen. In ihnen vereinigte sich die Menschheit angesichts immenser Bedrohungen wie eines nahenden Asteroiden oder Besucher:innen aus dem All. Als sich 2053 die Große Platte der Arktis löste, stritten sich die Nationen darüber, wer die neu entstehenden Strandabschnitte bekommen würde.
SAL
Auf einer Tafel im Museum wurde uns erklärt, dass die letzten Wasserreserven, die vom Ostsee bei Cottbus geblieben sind, die üppige Flora und Fauna, die dank der Jahresdurchschnittstemperatur von 30 Grad Celsius gedeiht, ernähren.
Sie haben Dörfer zerstört, Menschen umgesiedelt für die Kohle, noch in unserem Jahrtausend. Sie haben die alten Kohleabbaugebiete geflutet in einer Zeit, als die anderen Seen im Umland verdörrten. Dann haben sie dort, wo zerstörte Dörfer waren, neue Grundstücke verkauft. Die ersten Villen standen, als der See bereits zu verdunsten begann.

STADTPLANER
das Boot an Land. Was? Wo bin ich? Was sehe ich?
CUT TO:
STADTPLANER (CONT’D)
Luftaufnahme von Efeu überwachsener Ruinen. Zwischen ihnen nach oben stechende Flammen. Charlotte Neuber steht zwischen brennenden Seidenballen und liest ganz ruhig aus Friedrichs – GLITCH – Nein, na gut – aus ihrem eigenen Stück. CLOSE UP ihrer Hände, die Papier umfassen. Die Hände umspannt ein Band aus Seide.
CUT TO:
STADTPLANER (CONT’D)
Ha! Die drei Jugendlichen um ein Lagerfeuer! Hab ich euch.
Die Kamera nähert sich den Dreien. Das Getuschel der Stimmen wird lauter.

SAL
Hey Tua, hey Millie. Hört ihr das?

MILLIE und TUA
Wir hören es.

SAL
Dieses Tuscheln – es besteht aus all den Sprachen, die hier gesprochen wurden.

MILLIE flüstert:
Lubosć

TUA flüstert:
Ookoj

SAL flüstert:
Spanje.

MILLIE
Das andere ist wieder da.

STADTPLANER
Die drei Teenager drehen sich plötzlich zur Kamera um und schreien auf. Fluchtartig verlassen sie die Szene durch das kniehohe Sumpfgras. Aber die Kamera ist ihnen auf den Fersen. Sie hetzen und schreien, immer wieder drehen sie sich panisch um. Ihr Weg führt zurück zu – GLITCH

MILLIE
Das Getuschel wird erkennbar. Es sind sorbische Worte, überlagert von ihren jiddischen, deutschen und französischen Übersetzungen. Sie vermischen sich, ein Sprachwirrwarr entsteht. Die flirrende Luft scheint immer stärkere Bänder zwischen den drei Teenagern zu weben. Immer weiter führt ihr Weg durch die Schlingpflanzen, aus dem Dunkeln werden sie von glänzenden Augen beobachtet.

TUA
Wir haben es abgeschüttelt.

SAL
Ich glaube, wir haben uns verirrt.

MILLIE
Dann geht unsere Reise jetzt los.

STADTPLANER
Das ist nicht geplant. Sie müssen zurück zum Museum, sie müssen zu Ende erzählt werden. GLITCH

CUT TO:
STADTPLANER (CONT’D)
Ein Käfig, in den Kronen eines Maulbeerbaumes. Ein langer Seidenschal führt zum Boden. Pauline Schmitz steht am Fuß des Baumes. Sie schaut in die chaotische, lebendige, bedrohliche Natur. Neben ihr ein Tiger. GLITCH
CUT TO:
STADTPLANER (CONT’D)
Friedrich II auf dem Todesbett! Vergebt mir Exzellenz, vergebt mir – GLITCH
CUT TO:
STADTPLANER (CONT’D)
Die deutschen Soldaten stürzen wie Quallen vom Himmel auf Kreta. Sie bringen Seide zurück, die sie von derselben Insel stahlen. Die Frauen der gefallenen Partisanen nähen später Kleider aus der Seide der gefallenen Quallen.–
CUT TO:
STADTPLANER (CONT’D)
Die drei Teenager halten einander in den Armen, die leuchtenden Nebelbänder hüllen sie nun beinahe ein. Danke! Danke, dass ich euch sehen darf. Sie flüstern:
TUA
Wie kommen wir hier jemals wieder raus?

SAL
Man wird uns nie finden.

MILLIE
Ich will weiter.

STADTPLANER
CUT TO:
Die Kamera schwirrt über dem Sumpf. Sie ist im freien Fall. GLITCH Die Bilder wechseln in immer rascherer Folge. Schwirren.
CUT TO:
STADTPLANER (CONT’D)
Charlotte zerhackt den Baum in ihrem Zimmer.
CUT TO:
STADTPLANER (CONT’D)
Maren steht vor einem amerikanischen Seidenfallschirm.
CUT TO:
STADTPLANER (CONT’D)
Der Tiger wird von Pauline losgelassen, er springt auf mich zu –
CUT TO:

STADTPLANER (CONT’D)
Ich, der Stadtplaner, in verschiedenen Kostümen aus Seide, sie zerfallen, verwelken –
CUT TO:
STADTPLANER (CONT’D)
Die Kamera schlägt auf dem Boden ein und kippt auf die Seite. Durch ein paar Grashalme hindurch fokussiert sie die Teenager. Sie kommen auf eine Lichtung.
In der Mitte der Lichtung steht ein gigantischer Baum. Er wird umschwirrt von Tausenden Faltern. Das Tuscheln ist nun unendlich laut.
Richte dich auf, Kamera. Richte dich auf!

MILLIE
Was ist das?

STADTPLANER
Tua hält sein Display zum Baum und scannt ihn.

TUA
Es ist ein Maulbeerbaum.

SAL studiert ebenfalls sein Display:
Morus Alba.

MILLIE
Wie das Stück?
SAL
Genau.

MILLIE
Aber ich dachte, sie wachsen hier nicht. Nicht so gut.

STADTPLANER
Die Kamera nähert sich ihnen – mühsam. Die drei nähern sich dem Baum. Bleibt stehen! Ein paar der Seidenfalter kommen zu ihnen herangeschwirrt. Stopp. Millie fasst nach ihnen.

SAL
Hier steht, dass der Morus Alba besonders in feuchtwarmen Gegenden gut gedeiht. Also ich denke, das hier ist eine ganz gute Gegend.

STADTPLANER
Nicht! Die drei Jugendlichen gehen zu dem knotigen, großen Baum und berühren ihn. Die Kamera fängt sie jetzt wieder ein – GLITCH –

MILLIE
Nein. Die Kamera sieht dabei zu, wie auf Millies Finger ein Falter landet. Langsam versagt die Übertragung der Bilder in die Augmented Lense der Zuschauenden. Störsign– GLITCH tauchen auf euren Pupillen auf, sprunghaftes Flackern, einzelne Pixel löschen GLITCH. Andere verfärben, übersteuern –

SAL
Immer Seidenfalter. Das Flüstern scheint von ihnen auszugehen. Es überst GLITCH die Surround-Implantate. Feedback-Kreischen. Stock GLITCHende GLITCH Ein extrem – GLITCH die Zuschauer:innen wollen sich die GLITCH abreißen

TUA
Ein paar Seidenfäde GLITCH schwirren durch die Luft.

MILLIE
Der leuchtende Nebel hüllt uns nun gänzlich ein.

STADTPLANER
Ihr müsst zurück. Das Museum ist euer GLITCH

SAL
Der Nebel verdichtet sich.
Das Bild briGLITCH ab. Das Publikum kann nicht mehr GLITCH

MILLIE
GLITCH Nebel wird zu Kokons um GLITCH Körper. Die Kokons pulsieGLITCH . Die Seidenfalter GLITCH

TUA
GLITCH ist Februar 2154. Es sind 43 Grad.

MILLIE
Alles leuchtet. Wir werden GLITCH

1*Jón Steingrímsson, Bericht des Ausbruchs,
https://blogs.scientificamerican.com/history-of-geology/8-june-1783-how-the-laki-eruptions-changed-history/

© Hartmann und Stauffacher GmbH Verlag

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