Report
Warum sollen Israelis nicht über Fußball sprechen?
Das Festival Politik im Freien Theater trumpft in Leipzig mit starken Beiträgen
von Lara Wenzel
Erschienen in: Theater der Zeit: Tilda Swinton – Zwischen Bühne und Film (12/2025)
Assoziationen: Freie Szene

Kaum hat das Publikum Platz genommen, scheucht Michael Turinsky es wieder auf. Der Performer und Choreograf zieht mit einem Wagen durch den unbestuhlten Saal und sammelt seine Bühnenteile ein. Er kippt und knallt sie auf den Boden und nimmt sich Zeit, seine Arbeit zu verrichten. Die Plattform am einen Ende des Raumes zusammenzufügen und dabei die Zuschauer:innenmasse umzuwälzen, dauert. Um diese Zeiterfahrung geht es Turinsky, der in „Workbody“ entlang der Grenze arbeitender und behinderter Körper performt. Ohne Worte bricht er mit der normativen Zeit, an die gesellschaftliche Erwartungen an Leistungen und Meilensteine im Lebenslauf geknüpft sind. Dafür etabliert er crip time. Hinter dem Begriff aus den Disability Studies verbirgt sich die Forderung, die Zeitbedürfnisse von Menschen mit Behinderung, chronischer Krankheit oder Neurodivergenz anzuerkennen. Sie können und wollen ihr Leben nicht nach der engen Taktung des Kapitalismus richten und brauchen andere Strukturen, die ihrem Bedarf nach Erholung und Extra-Zeit entsprechen.
In seiner Crip Choreography gelingt Turinsky ein großes Stück politischen Theaters. Mit Latzhose und Schlagbohrer erkundet er Bilder des starken, gesunden Proleten und fragt, ob auch ein behinderter Körper ein ‚erfolgreicher‘ Arbeiter im Kapitalismus sein kann – und ob das überhaupt erstrebenswert ist. Zu dieser Frage serviert der Performer eiskaltes, alkoholfreies Dosenbier aus der Schubkarre, das für alle reicht – ein Vorschein auf die befreite Gesellschaft. Die intensive Performance durchzieht eine Meditation über „Gramscis Asche“, ein Gedicht von Pier Paolo Pasolini über den italienischen Kommunisten. Nur wenige wissen von Antonio Gramscis Behinderung, erzählt Turinsky. Ist es heute leichter, sich als behindert oder queer zu bezeichnen denn als Kommunist, fragt er weiter und entlässt uns mit einer Theatererfahrung, die nachwirkt.
Fanclub Freie Szene
Die zwölfte Ausgabe des Festivals Politik im Freien Theater widmet sich dem Thema „Grenzen“, das man wohl in allen Lebens- und Weltlagen entdecken kann, wenn man möchte (siehe TdZ 10/2025). Viel stärker ist es das Spiel mit Zeitlichkeiten, dass die überquellenden Tage in Leipzig voller Gastspiele, Workshops und Ausstellungen zusammenhält. Auf der Bühne und darüber hinaus wird Zeit verdichtet, ausgedehnt, wiederholt, unterbrochen und zusammengewürfelt. Als Ruhepol zwischen der Festival-FOMO („Fear of missing out“) lockt der Backstage, ein Ort, den die lokale Freie Szene gestaltet. Mit der kollektiven Tanzperformance, angeleitet von der Choreografin und Tänzerin Mandy Unger, tanzt die Szene und ihre Fans in einen leerstehenden Laden im Hauptbahnhof. Alle Gäste, die nach dem Auftakt zum gemeinsamen Essen und Kennenlernen in das Szene-Hauptquartier kommen, können mit einem bunten Schal Farbe bekennen. „Fanclub Freie Szene Leipzig“ schlingt sich als Erkennungszeichen um die Hälse und markiert die verstreuten Festivalbesucher:innen im Stadtbild.
Eine Freie Theatergruppe aus Leipzig hat es nicht in die Gastspielauswahl des Festivals der Bundeszentrale für politische Bildung geschafft, ihre Spielstätten lernt man vom 16. bis 25. Oktober dennoch kennen. Für „The Director’s Guide for Theater During Wartime“ öffnet der Westflügel seine Tore. Normalerweise beherbergt das Produktionszentrum internationales und lokales Figurentheater, an diesem Abend drehen zwei israelische Regisseure die Zeit zurück. Leider wird es keine Aufführung geben, erklären Hannan Ishay und Ido Shaked, die sich als Regisseure selbst auf der Bühne spielen. Ein französisches Theaterfestival hatte sie eingeladen, aber nach langem Ringen, ob sie ein Stück zum ‚KONFLIKT‘ oder doch einfach Fußball machen wollen, scheint der Angriff der Hamas und die militärische Reaktion der Netanjahu-Regierung Kunst unmöglich gemacht zu haben.
Auf der kargen Bühne mit offener Garderobe nehmen sie das Publikum mit auf eine Zeitreise. Am 7. Oktober 2022, ein Jahr vor dem Überfall auf Israel, erhalten sie den Anruf der Kuratorin. Unausgesprochen schwingt darin die Erwartung mit, dass sie als Israelis den Konflikt zwischen Israel und Palästina für das europäische Publikum in mundgerechte Happen zerkleinern. Sie gehören der radikalen Linken an und wollen weder zur Siedlerpolitik im Westjordanland noch zur Justizreform schweigen, gegen die Ishay in diesen Tagen auf die Straße geht. Gleichzeitig fragen sie sich: Warum immer wir? Können sie als Israelis nicht auch mal andere Themen behandeln? Fußball z. B. Wer will, könne das ja als Metapher verstehen. Sie überlegen, ob sie noch einen palästinensischen Schauspieler auf der Bühne brauchen und falls ja, wen. Aus Jordanien, Gaza oder der Westbank? Und kann das das europäische Publikum überhaupt unterscheiden oder sieht es nur zwei homogene Teams wie beim Fußball?
Während die Regisseure über die perfekte Inszenierung diskutieren, rücken sie langsam an das Datum heran, dass zur Zäsur in Israel wurde. Shaked beobachtet die Ereignisse aus Paris, wo er mit seiner Familie lebt, während Ishay Freiwilligenarbeit in Israel leistet. Was sie durch die Medien und vor Ort wahrnehmen, spaltet ihre Erfahrungen und an eine Theaterproduktion ist nicht mehr zu denken. Bis zur Waffenruhe in der Gegenwart führen die Theaterkünstler das Publikum, die Premiere rückt näher und Ausflüchte werden gesponnen, warum es kein Stück gibt. Doch dann klingelt das Telefon. Am Apparat ist die Festivalleiterin, die sich erst windet und dann den beiden absagt, weil es ein unpassender Zeitpunkt für ein israelisches Stück sei. Nicht wegen ihrer politischen Haltung, sondern wegen ihrer Herkunft werden sie ausgeladen. Auf dieser Zeitreise begleitet das Publikum die linken Regisseure bei ihren Positionierungen im komplexen israelischen Diskurs. Für die europäischen Zuschauer:innen fehlt jedoch der lokale Kontext, der bei diesem zynischen Ritt durch das Zeitgeschehen und die Debatten kaum einzuholen wäre.
Ob mit Zeitreisen vor den 7. Oktober, ins Jahr 1938, in das die Produktion „Land aller Kinder“ nach Irmgard Keun von andcompany&Co. einlädt, oder der Wiederholung von exotisierenden Schlager- und Tanzszenen in „Ich nehm dir alles weg – Ein Schlagerballett“ von Joana Tischkau, Politik im Freien Theater verbindet intensive Zeiterfahrungen mit politischen Konflikten. So jagen Momente der Wiederholung, Langsamkeit und des Rückblicks einander in rasenden Festivaltagen. Mit etwas Glück und günstigen Förderzusagen kehrt das Festival und die FOMO in drei Jahren wieder.
















