Auftritt
Frankfurt/M.: Leben, du wildes Gedicht!
Schauspiel Frankfurt: „Liberté oh no no no“ von Anja Hilling. Regie Sebastian Schug, Bühne Thea Hoffmann-Axthelm, Kostüme Nini von Selzam
von Björn Hayer
Erschienen in: Theater der Zeit: Henry Hübchen (02/2022)
Assoziationen: Theaterkritiken Sprechtheater Hessen Schauspiel Frankfurt

Was sie antreibt, ist die Verheißung: auf Liebe, auf die Rettung der Welt, auf die Freiheit. Dabei ist „R“, die Protagonistin in Anja Hillings neuem Stück „Liberté oh no no no“, längst kein geradliniger Weg durch das Leben beschieden. Sie ringt mit Ängsten und einer kaum zu überwindenden Einsamkeit, bis sie eines Tages auf „V“ trifft. Zwar geht aus deren Liaison d’amour ein Kind hervor, aber trautes Familienglück wird die Unstete auch hier nicht finden. Nachdem ihr Dasein einem juvenilen Anlaufen gegen den Sturm und alle Konventionen der Gesellschaft glich, kehrt sie spät als Geläuterte zurück in das allzu biedere Elternhaus, wo sie schließlich durch einen Hundebiss stirbt. Soweit zu einem Coming-of-Age-Plot voller Volten, Irrungen und Wirrungen und einem allzu tragischen Ausgang.
Obwohl dieses in zahlreiche Einzelszenen leporelloartig aufgeblätterte Stationendrama im Grunde nach der großen Bühne ruft, entfaltet Regisseur Sebastian Schug die furiose Geschichte im überschaubaren Kammertheater des Schauspiels Frankfurt. Statt auf bühnentechnisch aufwendige Kulissenwechsel zu setzen, sorgen zahlreiche Requisiten für Abwechslung: Topfpflanzen – wohl als Symbol für ein eingehegtes Spießerleben –, ein verschiebbares Wohnzimmerinterieur, eine Fahne mit einem mit Wolken versehenen Himmel, auf deren Rückseite sich ein roter Theatervorhang befindet, Erde, Eimer, Stühle, Lampen, ein Karton mit aufgedruckten Hochhausfassaden –, dass all dies nebeneinander steht und immer wieder rege herumgeräumt wird, hat seinen Grund: Denn im Hirn der bestechend von Lotte Schubert verkörperten Anti-Heldin herrscht blankes Chaos. Von Anfang an konfrontiert sie mit wildesten Textsuaden, die ungebremst auf uns niederstürzen. Hillings Heranwachsende spricht von innerer Dunkelheit, denkt über Rebellion und Körper nach, sinniert über Sinn und Unsinn von Glauben. Die Autorin eignet ihr dazu eine hochpoetische Sprache zu, weswegen die Aufführung streckenweise mehr Züge von einem Gedicht als von einem Bühnenwerk trägt.
Dementsprechend arbeitet auch Schug eher assoziativ. Mal trägt R einen lediglich mit einer leuchtenden Lampe versehenen, leeren Fernseher durch die Gegend – vielleicht mit der Hoffnung, daraus könnte doch noch so etwas wie ein göttliches, lenkendes Licht erscheinen, ein andermal tauchen auf der Rückseite einer Wand bunt blinkende Schilder mit Variationen von „Open“ auf.
Dass gerade diese grenzenlose Offenheit wiederum Orientierungslosigkeit erzeugt, lautet das Fazit dieses Werks. Ob in der Berufsberatung, auf der Arbeit oder in der U-Bahn, um nur einige wenige Stationen dieses Abends zu nennen – über allem liegt ein Schleier aus Unsicherheit und Unrat. Gleichzeitig erweist sich jede Wegmarke des Erwachsenwerdens als bekannt. Wohl auch daher begegnet die Hauptfigur vor allem Typen. Rasch wechseln Schuberts Mitspieler:innen Angelika Bartsch, Mark Tumba und Uwe Zerwer dazu graue Pullover mit Aufdrucken wie „Pa“, „Ma“ oder „V“. Die Botschaft: Die Ideale Freiheit und absolute Individualität gleichen einer Chimäre. Am Ende nimmt das Schicksal ohnehin seinen Lauf.
Als stimmiges Passepartout für diese melancholische Maxime erweisen sich die durchweg wunderschönen, durch die Live-Musik von Thorsten Drücker unterstützten Gesangseinlagen, deren Nachdenklichkeit wie eine Erfrischungsbrise inmitten der hochkomprimierten Ereignisabfolge anmutet. Man kann kaum bestreiten, dass Schugs Realisierung sehr berührende Augenblicke erzeugt und mithin existenzielle Grunderfahrungen der condition humaine atmosphärisch überzeugend auf die Bühne bringt. Zur Wahrheit dieses Abends gehört aber ebenso die Rasanz und die fehlende Akzentuierung, was die textliche Darbietung anbetrifft. Zu wenig semantische Substanz bleibt von den letzthin überkomplexen Sätzen der Protagonistin hängen. Poesie braucht eben Raum, auch und gerade im Theater. Mehr Schweigen, mehr Mut zur Leere hätte dieser Inszenierung vor allem zu einem verholfen, nämlich mehr Tiefe. //