Theater der Zeit

Magazin

Die Zeit als Sinnverdichter

Das Heiner-Müller-Programm der slowenischen Band Laibach

von Tom Mustroph

Erschienen in: Theater der Zeit: Was soll das Theater jetzt tun? – Eine Umfrage (05/2022)

Assoziationen: Freie Szene Theaterkritiken Europa Hebbel am Ufer (HAU)

De- und Rekontextualisierungsstrategien. In „Wir sind das Volk“ kehrt das Heiner-Müller-Programm von Laibach ans HAU zurück, hier: Agnes Mann. Foto Sašo Podgoršek
De- und Rekontextualisierungsstrategien. In „Wir sind das Volk“ kehrt das Heiner-Müller-Programm von Laibach ans HAU zurück, hier: Agnes Mann.Foto: Sašo Podgoršek

Die in der beginnenden Pandemie halb vergessene Produktion „Wir sind das Volk“ von der Band Laibach mit Texten von Heiner Müller wird urplötzlich zum aktuellen Stück zur Lage. Gesagtes, Geschriebenes und auch Gesun­genes ändern sich, wenn die Kontexte sich ändern. Diese Erfahrung durfte man beim musikalisch-theatralen Industrial-Event „Wir sind das Volk“ machen, den die slowenische Konzept-Band Laibach mit sehr deutschen Texten von den Gebrüdern Grimm über Adolf Hitler bis Heiner Müller im Berliner HAU veranstaltete. Das war nicht ganz unerwartet, weil mit Laibach und Müller nicht nur De- und ­Rekontextualisierungsstrategen aufeinandertrafen. Auch die per Tondokument eingespielte nationalsozialistische Rhetorik ist mit seinen antikapitalistischen Momenten sehr schillernd. Und Grimm’sche Märchen sind per se deutungsoffen in ganz viele Richtungen.

Aber als Glanzstück der Rekontextualisierung erwies sich dann doch das Müller-­Zitat „Ich will ein Deutscher sein“. Es wurde von Cveto Kobal, unterstützt von einem Streicherquartett und den Perkussionsperformern von The Stroj, in der Manier eines Schlagerbarden vorgetragen. Bei der ersten Aufführungsserie im fernen Jahr 2020 löste der in Dauerschleife gesungene Satz beim Ironie-seligen und postdramatisch konditionierten HAU-Publikum noch hübsches Gelächter aus; in Unkenntnis des Müller’schen Kontextes mochte man sich da noch Zwerchfell bebend von jedem Deutschsein-Wollen distanzieren. Müller entnahm den Satz ursprünglich dem Tagebuch...

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