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Theater ist kein Finanzamt
Die Kritikerin und ehemalige Festivalleiterin Renate Klett über den schmalen Grat zwischen Ausnahmezustand und Veränderungsdruck am Beispiel der Frauenbewegung im Theater
von Dorte Lena Eilers und Renate Klett
Erschienen in: Theater der Zeit: Das große Kegeln – Zur Machtdebatte am Theater (06/2021)
Renate Klett, Sie blicken auf eine lange Karriere als Dramaturgin, Festivalleiterin und Theaterkritikerin zurück und kennen somit den Theaterbetrieb in- und auswendig. Berühmt wurden Sie 1980, als Sie im Kölner Stollwerk, einer Nebenspielstätte des dortigen Schauspiels, das 1. Internationale Frauentheaterfestival veranstalteten – welches sogleich einen veritablen Skandal auslöste. Sie wurden vor den Stadtrat zitiert, weil Sie an drei von neun Tagen nur Frauen im Publikum zulassen wollten. Durchaus ein Angriff auf die damalige männlich dominierte Welt. Auch heute stehen ungleiche Machtverhältnisse wieder öffentlich zur Diskussion. Bedarf es solch radikaler Setzungen, um alte Strukturen zu verändern?
Männer im Publikum auszuschließen war tatsächlich keine Forderung von mir, sondern von drei Gruppen, die ich einladen wollte. In der damaligen Frauenbewegung waren derartige Setzungen absolut üblich. Eine weitverbreitete Ideologie. Ich fand das nie so richtig gut, weil ich immer dachte, so viele Männer werden da eh nicht kommen. Die können also keinen Schaden anrichten beziehungsweise wenn sie kommen, können sie noch was lernen. Da ich die Gruppen aber unbedingt dabeihaben wollte, setzte ich drei männerfreie Tage an.
Und der Skandal nahm seinen Lauf.
Ja, es gab einen riesigen Wirbel. Der damalige Kulturdezernent Peter Nestler zog seinen versprochenen Zuschuss sofort zurück. Er könne als kommunaler Förderer nichts unterstützen, das Menschen diskriminiere, hieß es. Ein riesiges Theater! Ich habe noch versucht, die Sommerakademien an der Freien Universität Berlin ins Feld zu führen, die auch nur für Frauen waren. Tausende von Frauen nahmen daran teil – und die FU ist ja ebenfalls staatlich finanziert. Hat aber niemanden in Köln interessiert. Irgendwann kam jemand auf die Idee, einfach einen anderen Veranstalter zu suchen. Und das war die Lösung! Ich fragte den Kölner Frauenbuchladen, der auch sofort einsprang.
Jürgen Flimm war damals Intendant am Schauspiel Köln. Wie hat er reagiert?
Sehr toll! Er hat immer gesagt: „Ich halte mich aus allem raus, mach du das.“ Dafür bin ich ihm sehr dankbar.
Also alle Probleme gelöst?
Denkste! Ich war zunächst ganz glücklich, dass ich auf höchster Ebene alles geklärt hatte, bis mir plötzlich einfiel: Um Gottes Willen, der Feuerwehrmann! Der muss ja aufgrund des Brandschutzes im Raum sein! Ich hab mir die Finger wund gewählt, in Köln, Düsseldorf und Bonn alle Feuerwehrwachen nach einer Feuerwehrfrau abgeklappert – gab’s einfach nicht. Ich hab gedacht: Es kann doch nicht wahr sein, dass alles gelöst ist, aber daran scheitert es jetzt!
Über einen Tipp kam ich zum Glück mit einem Feuerwehrmann in Kontakt, der sehr verständnisvoll war. Er willigte ein, auf der Bühne in einem Kabuff zu sitzen, das wir ihm gebaut hatten. Dort war er für die Künstlerinnen und das Publikum nicht sichtbar, hatte selbst aber alles im Blick. „Ich würde Sie nur bitten“, sagte ich ihm, „dass Sie, bevor der Einlass losgeht, schon drinnen sitzen, weil die Mädels Sie sonst zerreißen. Ich hole Sie nach der Vorstellung wieder ab und führe Sie unbeobachtet hinaus.“ Der Feuerwehrmann fand das alles ganz lustig. Er hat mich wirklich gerettet!
Was interessierte Sie künstlerisch daran, nur Frauengruppen einzuladen?
Es gab damals sehr viel Frauentheater. In Deutschland überwiegend Laiengruppen, die meisten kennt man heute nicht mehr, aber das Aachener Frauenkabarett beispielsweise war wirklich hervorragend. Die berühmtesten Gruppen kamen aus dem Ausland, wie die Spiderwomen aus New York, eine Gruppe, gegründet von drei tollen First-Nation-Schwestern, die das Festival eröffnet haben. Ich wollte ein breites Spektrum zeigen. So lud ich zum Beispiel auch die bildende Künstlerin Ulrike Rosenbach ein, die zuvor bei der Documenta groß gefeiert worden war. Sie verhandelte in ihrer Performance „Narzissen scheiden weg“ das Thema Geburt. Michèle Foucher vom Théâtre National de Strasbourg war dabei mit ihrem Solostück „La Table“ über Frauen und ihre Beziehung zum Tisch – also den Ort, an dem sie Essen auftragen, Babys wickeln und so weiter, eine sehr witzige und tolle Arbeit –, sowie die verrückten Frauen von Beryl and the Perils aus London. Vom Schauspiel Frankfurt kamen „Die Zofen“ in der Regie von Lore Stefanek und Gabriele Jakobi, es gab das Lesbentheater Wuppertal, das Aachener Frauenkabarett und die Witwen aus Berlin. Und natürlich Franca Rame. Die Stücke ihres Manns Dario Fo wurden damals überall gespielt, aber Franca Rame, die ja auch eigene Stücke schrieb, war zu dem Zeitpunkt noch nie in Deutschland aufgetreten.
In den USA gibt es hin und wieder Theaterabende, die ausschließlich oder zumindest in einzelnen Szenen nur vor einem Publikum of Color gezeigt werden. Im Zuge der Rassismusdebatte am Schauspielhaus Düsseldorf forderten jüngst 22 Theatermacher of Color in einer Petition eine „unabhängige, selbstorganisierte Freie Bühne“, um „dem institutionellen Rassismus“ zu entkommen. Haben Sie vor dem Hintergrund Ihrer Erfahrungen dafür Verständnis?
Nein, wie gesagt: Ich war auch damals mit der Trennung nicht glücklich. Es durften noch nicht einmal männliche Journalisten in den Raum.
Diesem Trend begegnet man heute allerdings wieder: Es gibt Stimmen, die fordern, dass etwa das aktuelle Stück von She She Pop, „Hexploitation“ über Frauen ab fünfzig, nur von Frauen rezensiert werden soll.
Das finde ich Quatsch. Vielleicht würden Frauen es besser verstehen. Aber warum sollten nicht auch Männer das Stück rezensieren? Die Frauenbewegung war damals sehr radikal. Die Spiderwomen haben ihre Keine-Männer-Politik auf der ganzen Welt durchgesetzt, selbst in Ländern wie Chile, wo alles noch viel schwieriger war.
Die Burning-Issues-Konferenzen schlossen anfangs ebenfalls Männer aus.
Harmlos gegenüber der Frauenbewegung in den achtziger Jahren! Ich habe auf der zweiten Konferenz, die im Rahmen des Berliner Theatertreffens stattfand, einen kleinen Vortrag gehalten. Da stand irgendwo am Eingang ganz lässig „Women only“. Damals hätte so was nie genügt. Man hätte den Eingang bewacht. Es war wirklich manifeste Politik. Paragraf eins: Kein Mann darf rein. Punkt. (Lacht) Wahnsinn! Aber klar: Eine Kampfbewegung muss am Anfang immer besonders streng sein, weil sie ja den richtigen Weg noch nicht gefunden hat.
Und weil man mitunter das Gefühl hat, dass sich nur durch sehr starke Setzung Strukturen verändern lassen. Nehmen wir die Frauenquote beim Theatertreffen: Fünfzig Prozent der eingeladenen Inszenierungen müssen von Frauen stammen.
Ich bin völlig gegen diese Quote.
Ja, aus künstlerischer Sicht ist sie extrem ambivalent: Kunst sollte keiner Quote unterliegen. Gleichzeitig berichten aber Regisseurinnen, dass Intendantinnen und Intendanten ihnen seit Einführung der Quote die große Bühne anbieten, um für das Theatertreffen konkurrenzfähig zu sein.
Man kann Quoten im Aufsichtsrat einführen oder beim Wasserwerk, das finde ich richtig. Aber im Theater sind sie kontraproduktiv, sogar diffamierend. Frauen sind stark! Aber mit Quote gelten sie immer nur als Quotenfrauen. Ich war nie Quotenfrau. Ich hab einfach meine Sachen gemacht, und ich hab sie gut gemacht. Das Interessante ist ja, dass es bereits vor dreißig Jahren schon einmal ein Frauennetzwerk im Theater gegeben hat, einen Verein namens FiT – Frauen im Theater, den ich mitbegründet habe. Auch wir organisierten eine Veranstaltung beim Theatertreffen – und zwar mit Männern im Publikum! Gerade die sollten da ja rein, die sollten da was lernen! Ein Fluch der Frauenbewegung ist leider, dass sie sich ihrer Geschichte nicht bewusst ist. Es hat alles schon gegeben, siehe Suffragetten und so weiter – nur haben die Frauen das vergessen.
Trotzdem fragt man sich immer wieder, warum wir nach wie vor über Genderungerechtigkeit debattieren müssen, wenn doch die Geschichte der Frauenbewegung bereits so lang ist.
Es ist ja nicht so, dass gar nichts passiert wäre. Ich erinnere mich noch heute an eine Situation am Schauspiel Frankfurt, wo ich in den siebziger Jahren in der Zeit des berühmten Mitbestimmungsmodells Regieassistentin war. Eine sehr anstrengende Zeit, alles musste im großen Gremium diskutiert werden, aber auch eine sehr tolle Zeit. Nach zwei Jahren wurden die Verträge der Regieassistenten neu verhandelt. Meine drei männlichen Kollegen bekamen alle ganz selbstverständlich die Zusage, eine Inszenierung erarbeiten zu dürfen – und ich bekam sie ebenso selbstverständlich nicht. Also sagte ich zu Peter Palitzsch, einem der Direktoren – damals wohlgemerkt die Ikone der Progressivität am deutschen Theater: „Ich will auch inszenieren.“ Seine Antwort weiß ich bis heute. Er bekam erst mal einen Hustenanfall, dann schaute er mich an und sagte ganz freundschaftlich: „Aber Renate, du als Frau? Das geht doch nicht!“ Ich schwöre es, wortwörtlich. Da war ich erst mal platt. Ich versuchte ihn noch mit Verweis auf Ruth Berghaus zu überzeugen, nannte Arianne Mnouchkine, Joan Littlewood – nichts zu machen. Am progressivsten Theater Deutschlands!
Wie haben Sie reagiert?
Palitzsch wollte mich überreden zu bleiben und sagte: „Da wir dich wertschätzen, bieten wir dir das gleiche Gehalt an wie deinen männlichen Kollegen.“ Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich weniger bekam. Ich aber habe geantwortet: „Nee, lieber Peter, ich krieg gar kein Gehalt mehr. Ich kündige hiermit.“ Und bin gegangen. Ich ging dann nach Paris, habe bei Ariane Mnouchkines Proben zu „L’Age d’or“ zugeschaut und bei Klaus Michael Grübers „Faust-Salpêtrière“ mitgearbeitet. Das war alles viel toller. Heute würde so etwas keiner mehr sagen. Also: Es hat sich schon etwas getan, aber natürlich noch nicht genug, das ist klar.
Interessant am Frankfurter Mitbestimmungsmodell ist aber auch die Doppelmoral: Alle sind gleich, aber einige sind gleicher. Äußeres Image und innere Strukturen divergieren mitunter drastisch. Darüber stolpern gerade eine Reihe an Intendantinnen und Intendanten wie Peter Spuhler am Staatstheater Karlsruhe, Klaus Dörr an der Volksbühne Berlin, Wilfried Schulz am Düsseldorfer Schauspielhaus und jüngst Shermin Langhoff am Maxim Gorki Theater Berlin. Sie signalisieren nach außen: Wir sind feministisch, antirassistisch, nicht hierarchisch – aber das, was real im Theater stattfindet, ist eher das Gegenteil. Was sagen Sie zu dieser Doppelmoral?
Ich kann das nur schwer beurteilen, weil ich nicht mehr im Theater arbeite. Aber provokativ gesagt: Ich verstehe all die Anklagen gegen Intendanten wegen sexueller Belästigung. Sie müssen laut und deutlich erhoben werden. Auch wenn es rassistisch wird, wie es wohl in Düsseldorf der Fall war. Über den Intendanten und die Regisseure aber, und da spreche ich aus meiner langjährigen Arbeit am Theater, wurde immer geschimpft – und wie! Das jedoch gehört in die Kantine – und nicht in die Zeitung. Man ist schließlich am Theater und nicht im Finanzamt. In der Hitze der Probe rutscht einem manchmal etwas raus. Was soll’s? Nichts, weswegen man beleidigt sein muss und gleich den nächsten Journalisten anruft.
Klar, Theater ist ein Kochtopf, wo die Emotionen auch mal überschießen. Man hört aber auch von Fällen, wo eine Mitarbeiterin von einer Person aus der Leitungsebene regelmäßig mit „Fotze“ tituliert wurde.
Was? Nein! Das kann doch nicht sein. Dem oder der hätte ich eine geknallt, wirklich.
Was man in der Beschreibung des Spezialfalls Theater mitunter auch vergisst, sind die Hierarchien. Die Person aus der Leitungsebene nimmt sich scheinbar das Recht heraus, eine in der Hierarchie niedriger stehende Person zu beschimpfen. Was würde passieren, wenn es umgekehrt wäre?
Klar, dem Intendanten, der Intendantin kann im Zweifelsfall nichts passieren, anders als den Schauspielerinnen und Schauspielern.
Weil sie im Prinzip per NV-Bühne-Vertrag sehr leicht gekündigt werden können.
Ja, sie trauen sich nicht. Trotzdem finde ich es schlimm, wie Shermin Langhoff derzeit öffentlich angeklagt wird. Ich kenne sie recht gut. Sie kann ungeheuer rumbrüllen, andere Intendanten tun das auch – aber Intendantinnen dürfen das nicht?
Dann aber sollte gelten: gleiches Recht für alle. Auch die Schauspieler und Schauspielerinnen dürfen zurückbrüllen. Andernfalls sind wir fast schon beim Militär, wo die unteren Ränge zu kuschen haben.
Oder es brüllt eben keiner. Schwierig, aber auch nichts Neues. Vielleicht wird in der Presse gerade nur so viel darüber geschrieben, weil im Lockdown sonst nichts los ist.
Oder weil tatsächlich eine Art Kulturwandel in der Arbeitswelt einsetzt, der auch an den Theatern nicht vorbeigeht. Es heißt: Wir glauben nicht mehr daran, dass ein Schauspieler, eine Schauspielerin angebrüllt oder gebrochen werden muss, um gute Leistungen zu bringen.
Natürlich nicht! Das sind ja faschistoide Methoden. So kann’s nicht sein. Aber es gibt auch Theater, in denen es funktioniert, Herrgott noch mal. Es ist ja nicht jeder einer, der rumbrüllt und beleidigt. Es ist schwierig abzuwägen. Auch von außen.
Sie sagten vorhin in Bezug auf die Frauenbewegung, dass Aktionsbündnisse, die etwas verändern wollen, auch durchaus radikal sein müssen. Die Strukturen im Theater scheinen ja wirklich zäh. Entweder man arrangiert sich damit, oder man geht – das waren auch bei Ihnen in Frankfurt die Alternativen. Der Gang in die Presse scheint in diesem Zusammenhang ein Mittel, um durch einen gewissen Druck Veränderungsprozesse anzustoßen. Hatten Sie in Ihrer Karriere selbst schon einmal das Bedürfnis, an die Presse zu gehen?
Nein. Die Presse ist doch der Feind, da geht man doch nicht hin. (Lacht) Wenn ich Krach hatte – und ich hatte oft Krach mit Leuten – habe ich das mit denen selbst geklärt. Ich erinnere mich noch sehr genau an meine Zeit in München, als ich Programmdirektorin des Festivals Theater der Welt war. Die beiden Intendanten Dieter Dorn an den Münchner Kammerspielen und Günther Beelitz am Bayerischen Staatsschauspiel, mit denen ich zusammenarbeiten musste, konnten sich nicht ausstehen und haben mich dadurch manchmal zur Weißglut gebracht. Zum Glück gab es noch August Everding, der als Generalintendant der Bayerischen Staatstheater wie immer über allem schwebte. Wenn es gar nicht mehr weiterging, stürmte ich sein Büro, das riesig war, wie bei Hofe, nur ohne Dienerschaft. „Oh Frau Klett“, sagte er dann, „was gibt es denn jetzt schon wieder? Wen soll ich anrufen? Kohl? Stoiber? Zehetmair?“ (Lacht) Im Grunde ging es meist um ganz banale Sachen, etwa Terminabsprachen, bei denen sich Dorn und Beelitz nicht einigen konnten. Ich wäre damit aber nie an die Presse gegangen.
Weil Sie über Everding eine höhere Stelle einschalten konnten. Heute sind Kulturbehörden Anlaufstellen, die aber, etwa im Falle Peter Spuhlers in Karlsruhe, mitunter Jahre brauchen, um aktiv zu werden.
Ja, bei Everding hatte ich keine Skrupel. Er war schließlich der Präsident des Festivals – dafür, dachte ich, kann er auch mal was tun. Heute wäre die Bühnengenossenschaft eine Anlaufstelle. Ein leider etwas verschlafener Verein.
Oder das ensemble-netzwerk. Für Fälle sexueller Belästigung gibt es seit einiger Zeit die Vertrauensstelle Themis.
Genau. Aber ich will noch einmal betonen: Wenn ich zurückschaue, sind wir Frauen schon ein ganzes Stück weiter auf dem Weg nach oben. Die Situation wird sich auch weiterentwickeln. Ich war einfach zu früh dran. Außerdem verschwimmen die Grenzen zwischen Frau und Mann heutzutage sowieso. Die Genderdiskussion kommt mit ganz neuen Herausforderungen auf uns zu. Darauf freue ich mich schon! //