Theater der Zeit

Töne treffen

Die französische Dramatik übt sich in Stimmenvielfalt

von Barbara Engelhardt

Erschienen in: Scène 12: Scène 12 – Neue französische Theaterstücke (11/2009)

Assoziationen: Europa Dramatik

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Das französische Theater ist ein guter Nährboden für dramatische Texte. Weil Regisseure sich den Autoren dienstfertig verpflichtet fühlen? Weil sich auch große Schauspieler als Sprachrohr eines Autors verstehen? Dramatische Texte hartnäckig in ganzer Länge inszeniert werden? Weil beim französischen Publikum das Theater als ein Sprachereignis nicht verpönt ist? All das mag angesichts der französischen Inszenierungs- und Spielpraxis stimmen, hat zunächst einmal aber vor allem Einfluss auf den Ertrag:An Quantität,Stimmenvielfalt und Formenreichtum mangelt es der französischen Dramatik nicht. Freilich steht auch hier Herausragendes neben Nichtigem, Erfindungsreiches neben Konventionellem, literarisch Ambitioniertes neben gut geölter Konversation - wie in anderen Theaterländern auch.

Ein Teil der Erfolgsdramatik in Frankreich - Yasmina Reza, Eric-Emmanuel Schmitt zum Beispiel - wird auch in Deutschland häufig inszeniert. Eine wirkungsvolle, charmante Rhetorik, ein Touch Philosophie oder Psychologie und der Konservationsstil gutsituierten Bürgertums gehören hier zu den Rezepturen. So mancher zeitgenössischer Autor rüttelt nicht an den althergebrachten Eckpfeilern der Dramatik:

Klar umrissen sind Ort und Zeit,die Personnage bietet mehr oder weniger griffige Anhaltspunkte für psychologische Muster, dramatische Handlung versteht sich, selbst wenn auf der Stelle getreten wird, noch als Entwicklung und die Dialoge bieten oft einen witzigen, zumindest eloquenten Schlagabtausch. Solche Stücke sind wie dafür geschaffen, die Maschinen des Illusionstheaters anzukurbeln,und nicht ohne Grund lieben die Stars aus dem Film- und Fernsehgeschäft diese Stoffe für ihre Ausflüge auf die Bühne, die ihnen in den (Privat-)Theatern zu umjubelten Glanznummern verhelfen.

Nicht unbedingt die Inhalte sind das entscheidende Merkmal einer anderen,sich durchaus als Gegen-Strömung dazu verstehenden Dramatik heute.Vielmehr die Formen: Hier sind Einheit von Zeit und Ort nicht maßgeblich, Figuren nicht kohärente Identitäten. Vor allem wird seit fünfzig Jahren am Prinzip des dramatischen Dialogs gerüttelt:Die französische Dramatik entwickelt seither einen starken Hang dazu,die Trennung zwischen Dialog und Monolog, zwischen Regieanweisungen und Repliken oder den Rollen von Sprecher und Adressat vage zu halten. Statt schneller Schlagabtausche, in denen sich Konfrontationen klar und in der Gegenwart artikulieren, rücken so häufig Erinnerungen und Innenwelten in einer poetischen,dichten Sprache ins Zentrum.Die Sprache ist dann nicht mehr das Instrumentarium der Figur innerhalb eines dramatischen Konflikts.Vielmehr wird die Figur selbst zu deren Werkzeug. Die Figur ist - und damit auch der Schauspieler - ein Medium für das eigentliche dramatische Ereignis:In der Sprache nimmt eine poetische Gegenwelt Gestalt an.Was französische Autoren, für welche Formen, Sprache und Inhalte sie sich auch entscheiden,tunlichst zu vermeiden scheinen, ist sozialer Naturalismus.Die Kunstform Theater agiert dann oft mit den Mitteln der Übertreibung: ins Groteske,ins Absurde,ins lyrisch Verdichtete, ins Symbolische oder lakonisch Elliptische, ins barock Blütentreibende oder ausufernd Wortgewandte. Die Einflüsse des Romans und (Autoren-)Films liegen in französischen Theatertexten oft auf der Hand. Und so begegnet man in dieser Dramatik sehr unterschiedlichen Texten, die ihre Theatralität nicht wie selbstverständlich ausstellen.Von alledem zeugen auch die hier abgedruckten fünf Stücke, jedes auf seine ganz spezifische Weise.

Zwei der Autoren sind Altbekannte,zwei unumstrittene Größen des französischen Theaters, auch wenn sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Valère Novarina beweist auch in Der unbekannte Akt wieder seine unerschöpfliche Sprachkreativität,deren überbordendes Vokabular schier schwindelig macht. Neologismen, die Wiederentdeckung von Wörtern,die weit hergeholt wirken,kleine Verschiebungen,die vertrauten Sprachgebrauch aus den Angeln heben,das Spiel mit Redewendungen und Namen ballen sich in einem Urknall vieler kleiner Sprach-Atome zusammen, der eine eigene Welt generiert. In dieser Welt ist die Logik nicht nur aristotelischer Prinzipien abgeschafft, sondern auch ein strikt rationeller Zugriff unmöglich gemacht. Zwar kann der Hörer und Zuschauer dieser Sprache folgen, wiederkehrende Themen, aktuelle Bezüge,subtile Komik neben auch mal kalauernder Parodie ausmachen.

Aber weder kristallisiert sich ein Dialog zwischen den Akteuren noch eine Botschaft an die Zuschauer heraus. Novarina verweigert sich als Autor einer Wahrheit oder konkreten Idee. Er modelliert einen szenischen Raum mit Worten und einem Rhythmus, der Bewegung in den durch Sprache und Töne geschaffenen Raum bringt.Und gerade die von Seiten des Autors verweigerte Inhaltlichkeit einer Aussage setzt auch die Gedankenwelt des Zuschauers in Schwung, der ihn mitreißt und manchmal auch aus komfortablen Sicherheiten herausreißt. Ob es um Sprachautomatismen des Alltags, der Politik und Medienwelt oder um den Bestand humanistischer Gewissheiten geht, Valère Novarina setzt sie außer Kraft, ohne je besserwisserisch aufzuklären. Seine Sprachwirbel saugen spielerisch alles auf - auch Gegenwart, Kunstdiskurs, sogar Politik - und machen seinen zunehmend musikalischen Theaterstil so eigenartig wie wirkungsvoll.

Antipodisch dazu,wenn man so will,verhält es sich mit den Stücken von Michel Vinaver,der sich als Erbe einer humanistischen Tradition seit Jahrzehnten über Moden zeitgenössischer Dramatik hinwegsetzt: Visionär haben seine Stücke, um die Alltagswelt von Angestellten und Arbeitern kreisend, wirtschaftliche Katastrophenszenarien samt den Auflösungserscheinungen der industriellen Arbeitsgesellschaft vorweggenommen.

So knüpfte er auch in seinem Stück Berg- und Talfahrt ein dramatisches Netz aus den Fallstricken von Reality-TV und Börsenkrach, noch bevor sich diese Phänomene im einundzwanzigsten Jahrhundert wieder neu deklinierten. In den 1970er Jahren war Michel Vinaver einer der Mitbegründer des »théâtre du quotidien« (Theater des Alltags), das sich in brechtscher Tradition mit den so genannten kleinen Leuten beschäftigte.Vinaver allerdings hat sich nie von einer Theaterströmung vereinnahmen lassen. In einer Art Doppelleben - er war in der Firmenleitung des internationalen Multikonzerns Gillette tätig, während er unter anderem Namen fürs Theater schrieb -, hat er seine konkreten beruflichen Erfahrungen verarbeitet. Sein Blick auf wirtschaftliche Prozesse ist ebenso fundiert wie das scharfe Beobachten zwischenmenschlicher Macht- und Hackordnungen im Mikrokosmos eines Unternehmens.Vor allem aber zeichnen sich Vinavers Stücke durch ihre spezielle Form aus: Dialoge, Repliken, Handlungsstränge und Situationen werden zunächst aufgebrochen.Erst im temporeichen, rhythmisch präzisen Sprechen konstituieren sich mosaikartig die verschiedenen dramatischen Steine zu einem Gesamtbild.Die Aktualität seiner Stoffe, die unpsychologische Herangehensweise an Figuren,die dennoch nach und nach sehr persönliche Züge annehmen, der durch die Struktur vorgegebene Rhythmus,der Schauspieler wie Zuschauer in einer Dauerspannung hält, machen Vinavers Dramatik bis heute für das Theater wichtig. Dass seine Stücke von Amateurtheatern bis hin zur prominenten, der Gegenwartsdramatik nur selten zugänglichen Comédie- Française inszeniert werden, macht ihn nicht nur zu einem der meistgespielten Autoren Frankreichs. Es beweist auch, dass er den richtigen Ton trifft,ob es um die »kleinen Leute« oder die »große Wirtschaft« geht. Mit Jacques Albert, Carine Lacroix und Frédéric Sonntag hält der zwölfte Band der Reihe Scène aber auch wieder »Entdeckungen« parat: Während die beiden ersten in ihren Stücken auf schnelle Dialoge und Lakonie, auf Ellipsen und Auslassungen setzen, steht Frédéric Sonntags Wir waren damals jung deutlich unter dem Einfluss von Prosa und Kino.

Er zeichnet wortreich Bilder, greift Filmrepliken auf, variiert gewissermaßen von Landschafts- zu Großaufnahmen - und dies in einem erzählenden Redefluss, der zwar auf Figuren verteilt wird, aber in ihnen eher anschwillt und ausbricht, als dass sie sich dabei ihrer Sprache bewusst wären. Drei junge Menschen sind auf der Flucht vor der Realität einer apokalyptischen Welterfahrung, in der Fiktionen und Traumata sie permanent einzuholen scheinen.In der Stadt lauern die Gefahren einer totalen Kontrollgesellschaft, die Bedrohungen von Observierung und Manipulation.Als die drei aufs Land ausbrechen,stellt sich ihr Exodus als eine Reise in die Erinnerung,zurück in die Kindheit dar.Sie wird zu einer Initiationsreise, auf der die drei jungen Menschen sich ihren Ängsten und Ausflüchten stellen müssen. Träume und Alpträume, Obsessionen und Sehnsüchte artikulieren sich in einer Art futuristischer Theater-Erzählung, in der die Figuren um eine eigene Sprache, eigene Gesten, Bilder, Erinnerungen kämpfen müssen. Frédéric Sonntag, der seine Stücke selbst inszeniert hat, verbindet Sprache mit Musik und Projektionen zu einem szenischen Gesamtbild.

Jacques Albert reflektiert bereits beim Schreiben seiner Stücke deren Entstehungsprozess und welche Gestalt sie auf der Bühne annehmen können: Seine Jagdszenen aus der französischen Provinz führen in SIG Sauer Pro direkt aufs Land hinaus, wo man sich kennt, weil man zusammen trinkt und sich nicht aus dem Weg gehen kann.Hier ist auch das Schweigen noch beredt und so verknappen sich die Sätze der Figuren auf ein Minimum. Alberts Sprache bricht immer schon ab, bevor sie etwas ausführt, und trotzdem kristallisieren sich jenseits von Typen auch Figuren und das, was sie umtreibt, heraus. Skurril wirken sie alle, die sich da in ganz »normalen« Katastrophen verheddern und sich mehr oder weniger durchtrieben, mehr oder weniger chancenlos in ihren durchaus übersichtlichen Wunschbildern vom Glück verstricken. Der im Theaterkollektiv arbeitende Jacques Albert setzt sich zunächst über strikte Theaterbedingungen hinweg: Fahrradrennen, Autoverfolgungsjagden, abrupte Szenen-, Orts- und Situationswechsel schreien geradezu nach den Mitteln anderer Medien, ob Film, ob Musik oder nach ungewöhnlichen Raumkonzepten.

Auch in Burn baby burn von Carine Lacroix treiben die Sehnsüchte der beiden Mädchen Erla und Violette an Grenzen. Jene Grenzen, die ihnen eine Gesellschaft aufzeigt, die Glück und Geld zwar immer verheißt, aber soziale Schranken und Normen setzt. »Normal« aber ist Erla nicht, die im Niemandsland in einer verlassenen Tankstelle von Violette aufgegabelt wird. Lebenshungrig-verträumt die eine, zornig und ein wenig hintertrieben die andere, so reiben sie sich aneinander, bis dabei auch freundschaftliche Gefühle entstehen. Fast hätten sie friedlich aus den bedrückenden Umständen ausbrechen können. Aber im falschen Moment bringt sich ein Pizzabote ins Spiel. Und mit ihm all das, was die Mädchen hinter sich lassen wollten. Carine Lacroix' Stück lebt von den temporeichen Dialogen und der Sympathie, die sie ihren beiden Figuren entgegenbringt, auch wenn diese nicht immer liebenswürdig sind.Und so finden alle hier abgedruckten Stücke zu ihrem ganz eigenen Ton, in dem die Wirklichkeiten unserer Zeit weder hyperrealistisch noch mimetisch naturalistisch rekonstruiert werden. Dies allerdings, den Umständen entsprechend, sehr facettenreich.

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