Theater der Zeit

Bericht

Rascheln, Reißen, Raumfahrt wagen

Das Festival Figure it Out an der Berliner Schaubude vom 2. bis 11. Juni 2023 stand ganz im Zeichen der Künstlerischen Forschung zur Betrachtung altbekannter Materialien mit frischem Blick – mit viel Raum für die Präsentation von Projekten, die im Rahmen der Corona-Neustartprogramme beweisen, dass substanzielle Förderung zu grundlegenderer Befragung der Mittel und größerer Reife und Souveränität der Produktionen führen kann

von Tom Mustroph

Assoziationen: Berlin Theaterkritiken Schaubude Berlin

„The Truth about Helga“ ist eine der Arbeiten, die im Rahmen der von Förderung von Neustart Kultur zur Verfügung gestellten Residenz- und Rechercheförderungen entstanden. Foto Christian Marquardt
„The Truth about Helga“ ist eine der Arbeiten, die im Rahmen der von Förderung von Neustart Kultur zur Verfügung gestellten Residenz- und Rechercheförderungen entstandenFoto: Christian Marquardt

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Gleich um das Schicksal der gesamten Menschheit ging es im Online-Game „Der erste Kontakt“. Auf der noch recht jungen Spieleplattform Gather – erst im Jahren 2020, also zum Höhepunkt der pandemischen Einschränkungen online gestellt – lud die Berlin-Bochumer Gruppe Anna Kpok Teilnehmer:innen dazu ein, sich durch kurze Spielsequenzen und das Lösen kleinerer Aufgaben dazu zu qualifizieren, als exemplarische Vertreter:innen der Menschheit den Erstkontakt mit außerirdischen Zivilisationen herzustellen. Damit einher ging natürlich eine Auseinandersetzung mit der (Selbst-)Zerstörungskraft der eigenen Spezies. Interessant war das Bewegen des eigenen Avatars – sowie das Beobachten der Bewegungen der Avatare der Mitspieler:innen – im gemeinsam bevölkerten Raum.

Einen frischen Zugang zur Partnergattung Popmusik lieferte das szenische Konzert „Superhelden in Krisen“ der Brandenburger Compagnie Flunkerproduktionen. Die Puppenspieler:innen Claudia Engel und Matthias Ludwig traten zunächst als verschüchterte eigene Vorband auf, bevor sie dann als Kultgruppe im Zeichen des geheimnisvollen Orakelwesens Miaulina mit gediegenem Elektropop die Alltagsprobleme von Superheld:innen besangen.

Nicht ganz so geglückt war der Versuch der jungen Leipziger Formation Schroffke!, im Projekt „Undin“ mit Hilfe eines Klangobjekts aus Fäden das Schicksal der Meerjungfrau aus queerfeministischer Perspektive zu erzählen. Die Idee, ein eher weiblich konnotiertes Musikinstrument zu benutzen – die Installation erinnerte an eine Harfe – war aus genderkritischer Perspektive nicht ganz glücklich. Und aus den Tiefen der Klänge wurden auch keine großen neuen Erkenntnisse hervorgeholt. Der Ansatz immerhin war interessant. Und hätte man „Undin“ als Tryout programmiert und nicht als Höhepunkt im Abendspielplan, wäre dem Projekt vielleicht auch mehr Anteilnahme zuteil geworden.

Das überraschte. Denn gerade dem Unfertigen, dem Neuen und imWachsen-Begriffenen wurde im Rahmen dieses Jubiläumsfestivals der Schaubude dreißig Jahre nach der Neugründung als Gastspielhaus viel Raum gegeben. So nahm Schaubuden-Intendant Tim Sandweg die schöne – und durch die Pandemiebeschränkungen leider für längere Zeit unterbrochene – Tradition der Salons auf. Im mehrstündigen Salon für Künstlerische Forschung wurden neue Projekte und Ansätze vorgestellt. Es gab Knetfilme und Stop-Motion-Filme als ganz selbstverständliche Subgenres der Puppenspielkunst. Den größten Eindruck hinterließen, interessanterweise auch bei der Gründer:innengeneration der Schaubude, die drei unterschiedlichen Avatare, mit denen Teilnehmer:innen während der VR-Performance „Me, Myself and My Avatars“ von Lena Biresch, Tore Nobiling und Nico Parisius experimentieren durften. Einer der Avatare erlaubte sogar, mit eigenen Körperbewegungen ganze Landschaften zu verändern. Da scheint Potential für eine ganz neue Form von Objekttheater zu stecken: Das Animieren von ganzen geografischen Formationen.

Das Thema Künstlerische Forschung im Kontext Puppen-, Figuren- und Objekttheater wurde schließlich sogar im Rahmen eines kleinen Symposiums tiefer untersucht. Einen guten Einstieg dazu bot ein Vortrag der Theaterpädagogie-Professorin an der der UdK Berlin, Melanie Hinz. Sie leitete den Vortrag mit der Aufforderung ein, erst einmal mit einem weißen Blatt Papier Materialforschung zu betreiben. Geräusche von Reißen und Rascheln waren plötzlich zu hören. Töne wie bei einem Blasorchester erklangen, wenn das Papier wie eine Membran genutzt wurde, die durch das Ausatmen zum Vibrieren gebracht wurde. Andere stellten Faltobjekte oder Masken aus Papier her.

Das kleine Experiment lieferte zwar keine weltumstürzend neuen Erkenntnisse. Es zeigte aber das kreative Potential einer tieferen Auseinandersetzung mit ganz einfachen Materialien auf. Deutlich wurde beim Symposium allerdings auch die begriffliche Unschärfe von Künstlerischer Forschung. In der Diskussion um eine Definition wetteiferten Vorstellungen von Künstlerischer Forschung, die sich nicht großartig von der klassischen Recherche zu Themen und Materialien unterschieden mit solchen, die einen eher experimenteller Umgang mit den physischen Eigenschaften von Grundmaterialien voraussetzten oder solchen, die sich der Entwicklung neuer künstlerische Methoden widmeten. Und nicht zuletzt kann Künstlerische Forschung auch die Erforschung von Themen und Problemstellungen mit künstlerischen Mitteln – anstelle von Experimenten wie in der Naturwissenschaft – bedeuten.

Trotz aller Unschärfe wurde aber auch die Forderung nach mehr Räumen und Infrastrukturen für Künstlerische Forschung auch im Puppen-, Figuren- und Objekttheater laut.

Als Weg dorthin lassen sich die im Rahmen von Neustart Kultur zur Verfügung gestellten Residenz- und Rechercheförderungen werten. Aus der Menge der in diesem Kontext entstandenen und beim Festival gezeigten Arbeiten ragten die Produktionen „Fünf Exponate“ und „The Truth About Helga“ heraus. Letztere, eine Produktion der Berliner Compagnie Lovefuckers, setzte einen protofeministischen Text des weithin unbekannt gebliebenen tschechischen Philsophen Ladislav Klima in ein mit Großfiguren aufwändig animiertes Schauerstück über eine Männer mordende Frau um. In Diese begriffliche Unschärfe kann, so zeigte auch das Symposium, sowohl inspirierend als auch verwirrend sein. In „Fünf Exponate“ kontrastiert die aus El Salvador stammende Performerin Laia Rica Migrationswege ihrer Familie mit dem klassischen Kulturgutraub durch westliche Forschungsreisene. Sie operiert dabei – in methodischer Fortführung ihrer aufregenden Materialtheaterperformance „Kaffee mit Zucker“ – mit so simplen  Materialien wie Kartoffeln und Gips.

„Figure It Out“ war zugleich die zweite Ausgabe eines Festivals der Allianz Internationaler Produktionszentren für Figurentheater, zu dem sich die Produktionsorte und Spielstätten Schaubude Berlin, Westflügel Leipzig und FITZ Stuttgart zusammengeschlossen haben, um den eigenen Genre sowohl national wie international mehr Gewicht zu verleihen. Die erste Ausgabe fand im letzten Jahr in Leipzig statt, die nächste ist für Stuttgart geplant.

 

Erschienen am 16.6.2023

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