Theater der Zeit

Festivals

Fernbeziehung zum Theater

Das Impulse Festival in NRW arbeitet engagiert die Checkliste gesellschaftspolitischer Themen ab – im digitalen Raum wird daraus jedoch leicht konsumierbare Kritik

von Lara Wenzel

Erschienen in: Theater der Zeit: Es ist ein Kreuz – Ein Schwerpunkt zur Bundestagswahl mit Luna Ali, Annekatrin Klepsch und Aladin El-Mafaalani (09/2021)

Assoziationen: Impulse Theater Festival

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Wie sieht eine nichtnormative Beziehung aus? Muss Liebe immer romantisch sein? Und welche Rolle spielt Sex im Durch­einander der Beziehungsweisen?“, fragen die drei Jugendlichen aus Singapur und Australien. Ganz nah wirken ihre Stimmen am Telefon, während sie Zweifel, Ängste und Hoffnungen des ­Erwachsenwerdens teilen. Die bekannte und zugleich imperfekte mediale Vermittlung versetzt jedes geschilderte Problem mit den authentischen und authentisierenden Geräuschen in der Leitung. Leises Rascheln, Atmen oder ein Räuspern zersetzen die fiktionalen Elemente in den Erzählungen. Zwischen der Anonymität der Gesichtslosigkeit und der Eindringlichkeit der abgelösten Stimme gehen die banalen Antworten verloren. Schnell verlagert sich das Gespräch auf eine sehr persönliche Ebene, während die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Vereinzelung verharren. Auflegen wäre das Mittel zur Distanznahme, sonst bleibt nur, die Intimität auszuhalten, um dem Verlauf der Performance zu folgen.

Telefongespräche zwischen Jugendlichen und Erwachsenen bildeten bereits in der Präsenzvariante von „Body of Knowledge“ den partizipativen Kern. Dass die Zuschauerinnen und Zuschauer sich beim diesjährigen Impulse Festival nun allein im eigenen Wohnzimmer und nicht gemeinsam im Theaterraum an die Tele­fone begeben, an denen sie mit Teenagern aus der ganzen Welt ­verbunden werden, gibt für Theatermacherin Samara Hersch den Themen eine neue Dringlichkeit. Die Angst vor körperlichem Kontakt in Pandemiezeiten und das verordnete Ertragen von Beziehungen auf Distanz verstärkten nicht nur bei den Jugendlichen das Gefühl der Entfremdung. Zwischen Risiko und Vereinsamung mussten Möglichkeiten, Nähe und Zärtlichkeit zu erfahren, neu ausgehandelt werden. In den drei Telefonaten, die je eine Performerin oder ein Performer mit zwei Zuhörenden führte, trat die geteilte Unsicherheit zutage. Dabei blieb kaum Raum für ratloses Schweigen.

Die australische Regisseurin und Künstlerin entwickelte in Kollaboration mit der Künstlerin Lara Thoms bereits mit „We All Know What’s Happening“, einer von Kindern für Erwachsene ­gehaltenen Geschichtsstunde, eine Produktion, die Machtmechanismen im intergenerationellen Gespräch verkehrt. Während man in „Body of Knowledge“ Anekdoten über schlechten Sexualkundeunterricht austauscht, werden zugleich Fragen nach Herrschafts- und Wissensdispositiven verhandelt. Welches Wissen ist es wert, weitergegeben zu werden, und durch wen geschieht dies? Die Souveränität der Jugendlichen fordert heraus, werden doch ihre Erfahrungswerte im Theater und anderswo meist von der vermeintlichen Weisheit des Alters negiert.

Während des Impulse Theater Festivals wagt die Telefon­performance den intensivsten partizipativen Ansatz, was sie in ihrer Intimität an den Rand der Übergriffigkeit führt. Acht der dreizehn ausgewählten Produktionen aus der freien Szene wurden, mehr oder minder den medialen Gegebenheiten angepasst, in den digitalen Raum verlagert oder hybrid gezeigt. Theater­macherinnen und Theatermacher, deren Arbeiten sich unter den gegebenen Hygienebedingungen nicht realisieren ließen, er­hielten ein Preisgeld, um der Planungsunsicherheit entgegenzuwirken. Doch bereits im Juni zeichnete sich die Hoffnung auf einen mit Präsenzkunst gefüllten Sommer ab. Ein kleines Publikum durfte während einiger Aufführungen anwesend sein, die digital Zugeschalteten mussten sich mit einem Stream begnügen.

Wie „Body of Knowledge“ arbeitete „Unterscheidet euch“ konsequent an der virtuellen Reziprozität. In einer Arbeit nicht von, sondern für Kinder und Jugendliche spielte die Performancegruppe Turbo Pascal mit den hierarchisierenden Mechanismen, die in digitalen Konferenzen am Werk sind. Im Gitternetz der Bildkacheln ordnen sie den Zuschauerinnen und Zuschauern Attribute zu. Welche Merkmale sind aus den Gesichtern ablesbar? Alter, Coolness, Schulbildung? Letztere lässt sich höchstens über die Fülle der Bücher im Hintergrund bestimmen. Wer vom Land oder aus der Stadt, aus West- oder Ostdeutschland kommt, kann nur erraten werden. Weil die Identitätszuschreibungen an ihre Grenzen gelangen, beginnt nun die Selbstpositionierung. Nacheinander offenbaren sich die Zuschauerinnen und Zuschauer als Fußball- oder Pferdefans, Zocker oder Demonstrantinnen. Dann wird es kompliziert. Nach welchen Kriterien lassen sich Armut und Reichtum bestimmen? Und was ist eigentlich mit der ominösen schrumpfenden Mitte?

An dieser Stelle ändert die Aufführung nun abermals ihre Strategie. Jeder und jede erhält eine per Los bestimmte fiktive ­soziale Identität. Ein Satz weist auf die finanzielle Situation hin, welche die Jugendlichen im Folgenden kategorisieren sollen. Wer keine Ersparnisse für Notfälle hat und beengt wohnt, ist arm. Teilnehmende mit eigenem Ferienhaus ordnen sich den Reichen zu.

Doch herrscht zuweilen auch wenig Klarheit in der Kategorisierung. Die „Angst, wenn ein Küchengerät kaputtgeht“, weil man es nicht bezahlen kann, wird zur Sorge der Mittelschicht, trotz der sich darin ausdrückenden prekären Lage.

Das Theaterspiel belehrt über „unsichtbare Klasse“, ohne Klassenbewusstsein in die Aufführungssituation zu injizieren und so das Publikum als aktives und fachkundiges zu adressieren. Kinder- und Jugendtheater, das einen politischen Möglichkeitsraum eröffnen will, sollte die Vorstellungskraft mit dem konkreten Gegenstand verbinden. „Unterscheidet euch“ scheitert daran. Nicht nur versäumt Turbo Pascal, die Armut und Reichtum produzierenden Verhältnisse anzusprechen – Lichtblick bleibt die Feststellung, dass viele arbeitenden Menschen wenig Geld haben –, auch schneidet ihr vermeintlich partizipatives Leitsystem das kindliche Verständnis von den Zuständen ab. Die Zwischenrufe der Jugend zeugen von mehr Klarheit und Haltung als der inszenierte Protest gegen Klassismus und für Chancengleichheit. Statt den Einwurf eines Kindes aufzunehmen, dass Superreiche enteignet werden sollten, wird er übergangen. In der Inszenierung von Turbo Pascal stellt sich Scham ein, weil die erwachsenen Performerinnen und Performer der Gruppe in ihrer leitenden Position den Zuschauenden immer überlegen bleiben. Hier wird das symbolische Bekennen gelehrt, nicht die Auseinandersetzung. Analog zum kurzlebigen Bilder-Aktivismus in sozialen Medien reicht es, in der Inszenierung zum richtigen Slogan das Gesicht zu zeigen. Die vermeintlich ebenfalls unsichtbare Unterscheidung zwischen Ost und West greift Tanja Krone in „Mit Echten singen“ auf. 300 Seiten Material sammelte sie im Gespräch mit Familie sowie Freundinnen und Freunden in der sächsischen Provinz. In der daraus entstandenen Pop-Performance kreisen die lustigen wie traurigen Schilderungen um das Jahr 89/90. Über die fluffigen Discobeats von Friedrich Greiling legen sich Sätze, die in ihrer Abgegriffenheit auf das Ringen nach Worten verweisen.

„Du musst jetzt lernen, die Ellenbogen auszufahren“, ist eine Formel, die sich im Gedächtnis der damals 13-jährigen Performerin festgesetzt hat. Schon in ihrer Produktion „Mit Echten reden: Das Ellenbogen-Prinzip“, in der sich Krone ebenfalls dem Bruch in ­ihrem Leben annäherte, betrachtete sie diese spröde Geste. Mit den ausgefahrenen Ellenbogen macht man sich Platz, schiebt die Konkurrenz weg, um im neuen System aufzusteigen. Zugleich bildet sich ein kleiner Schutzraum, in den man sich zurückziehen kann. Die gesammelten Zitate, die sie akzentgetreu wiederholt, stehen zwischen Selbstbehauptung und verletzter Ratlosigkeit. Während der einwöchigen Residenz im Zentrum für Darstellende Künste Chemnitz entstand eine Vertonung, die für die ausgesprochenen Sorgen Partei ergreift, ohne sie sich unkommentiert anzueignen. Es ist eine Suche nach der Poesie im Alltäglichen, die in Sprach­formeln mitteilt, was die Menschen nicht aussprechen können. „Ansonsten ist die DDR Geschichte. Das kommt eigentlich kaum vor.“

Rassismus in der Popindustrie

Auch von verdachtsunabhängigen Personenkontrollen lässt sich besser singen als sprechen. Mit „The History of the Federal Republic of Germany as Told by Fehler Kutti und Die Polizei“ entwickelte Julian Warner eine Bühnenshow, die in einer Mischung aus Groove und Kapitalismuskritik eine antirassistische Geschichtsstunde gibt. Joana Tischkau arbeitet sich ebenfalls musikalisch an rassistischer Diskriminierung ab und wendet sich dabei gegen die Popindustrie. In der „Mini Playback Show“, die in den neunziger Jahren im Privatfernsehen lief, verkleideten sich Kinder, um zu Playback Popsongs zu performen. Blackfacing war in dieser Show keine seltene Praxis. Tischkau greift in der von ihr konzipierten Inszenierung „Playblack“ das Format auf. Vorgeführt wird die Aneignung der Musik Schwarzer Menschen in der weißen Unterhaltungsindustrie. Die Interviewausschnitte und Lieder, die Tischkau, Dori Antrie und Clara Reiner auf der Bühne in wechselndem Kostüm nachstellen, benötigen keine weitere Kontextualisierung. Exotisierung einer „black culture“ und rassistische Abwertung sprechen für sich und aus den als Playback eingespielten Tonspuren.

Im musikalischen Vorführen der Zustände betonen die Gesangsperformances ihren Showcharakter, der erst vor Ort seine Wirkung entfaltet. Da blickt das digitale Publikum neidvoll ins besetzte Parkett. Das deutliche Bestreben, zum Präsenztheater zurückzukehren, wird in der Auswahl des seit 2018 von Haiko Pfost geleiteten Festivals spürbar, denn diese richtet sich mit wenigen Ausnahmen an die Zuschauenden vor Ort. Brav haken dabei die Inszenierungen auf der wichtigsten Plattform der freien Szene die Checkliste der gesellschaftspolitischen Themen ab. Wie bei einer woken Netflix-Serie ist das meist in gut verträgliche Unterhaltung verpackt, deren Spannungsverhältnis zum Beispiel zwischen der Musik, die zum Mitwippen einlädt, und den Leben gefährdenden Strukturen nur in Präsenz Entfaltung findet. Im digitalen Raum bleibt es leicht konsumierbare Kritik. //

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