Thema
Der absolute Anfang wäre unbekannt
Wie die Volksbühne mit René Pollesch und Florentina Holzinger den Vorhang hochzieht und zum Zirkus einlädt
von Thomas Irmer
Erschienen in: Theater der Zeit: Volksbühne Neu (11/2021)
Assoziationen: Volksbühne Berlin
Der Rosa-Luxemburg-Platz mit dem wieder aufgestellten Räuberrad wurde mit Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen immer wieder zum Platz der Unruhe in Berlin, und er war es auch am Eröffnungsabend. Unter das erwartungsfroh gestimmte Volk mischten sich einige Gestalten, die zunächst ein seltsames Straßentheater unter dem Motto „Impft euch doch ins Knie“ aufführten. Eine gewisse Aufmerksamkeit war garantiert, aber Notausgänge mit Fahrradschlössern zu verriegeln, das ist kriminelle Sabotage und kein Ausdruck von Protest. Der Vorplatz sollte die gelassene Atmosphäre eines kleinen Zirkusbetriebs verbreiten, mit einem Zelt aus den guten, alten Zeiten des Wanderzirkus, in dem für den Herbst das Jugendtheater P14 eine Spielstätte hat und Alexander Karschnia ein Podium für Diskurs und Diskussionen kuratiert – bevor man dann wieder in den Roten und Grünen Salon einkehrt. Das Zirkusmotiv, dazu auch die zwei Wagen, die einst als Bert Neumanns Rolling-Road-Show in die Berliner Außenbezirke und bis ins Ruhrgebiet zogen, findet sich nicht nur als Dekor (das sich an den mit Spiegelfolie beklebten Eingängen fortsetzt), es soll wohl auch signalisieren: Hier geht es eher bodenständig los, erwartet mal nicht zu viel, jedenfalls erst mal nicht. Andererseits: War dies nicht auch der Ort, wo vor fünfzig Jahren Benno Besson seine Spektakel erfand und damit die Türen und Fenster des Theaters öffnete, um Luft reinzulassen?
Auf der großen Bühne erläutert gleich zu Beginn der Eröffnungspremiere die hinreißende Kathrin Angerer ihrem Gegenüber Martin Wuttke ein Schießkunststück: „Wir sind hier im Zirkus, Sie müssen schon danebenschießen, sonst ist es keine Kunst.“ René Pollesch hat mit „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen“ das Eröffnungsstück geschrieben und inszeniert, und alle horchten gespannt hinein, wie viel Programmatik darin wohl verkündet würde. Aber auch da war man ein bisschen auf dem Holzweg, wenn auch in der richtigen Richtung. Der von Leonard Neumann entworfene und in immer wieder neue Formen gezogene seidig-orange Vorhang löst in seiner famosen Wandelbarkeit das Titel-Protagonistische ein – bis hin zu den Spitzen eines Zirkuszeltdachs. Aber dass sein Leben nun beschrieben würde, das müsste man sich dazudenken. Stattdessen ein munteres Quartett, das neben Angerer und Wuttke aus Margarita Breitkreiz und der früheren Schlingensief-Mitstreiterin Susanne Bredehöft besteht. Man spricht von einer geheimnisvollen neuen Kunstrichtung, die irgendwo im Verborgenen des Hauses im Entstehen sein soll (da waren nun nicht die Fahrradschlösser gemeint), und erörtert Positionen des Schriftstellers Tolstoi. Martin Wuttke tritt mit einem Marionetten-Skelett auf dem Rücken auf (das sich vielleicht erst eine Woche später bei der Premiere von Florentina Holzinger genauer erklärt), und an den Bühnenseiten stehen zwei großformatig fotografierte Zirkusartisten, die manchmal wie Mitspieler angesprochen werden. Mit dem Zirkus anfangen? Das war ja schon draußen Thema. Gegen Ende des durchaus unterhaltsamen Gedankenaustauschs heißt es dann nicht ohne Hintersinn: „Der absolute Anfang, der große Sprung, damit kann man ja nicht unbedingt etwas anfangen. Der absolute Anfang wäre einem ja völlig unbekannt. Wenn der Vorhang fällt, das ist eigentlich seine Geburt.“
Die andere Pollesch-Produktion war schon vor diesem Anfang fertig und wurde bei den Wiener Festwochen uraufgeführt. „Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer“ ist verglichen mit dem „Vorhang“ von ganz anderer Art und leuchtet weit in die Theater- und Filmgeschichte hinein, nachdem Martin Wuttke als Filmproduzent und Impresario in Hollywood zusammen mit Thomas Schmauser erst mal einen Stolper- und Sturz-Slapstick aufführt, der sich, ja, auch im Zirkus sehen lassen könnte. Aber eigentlich geht es um Erklärungen zu einem Tanzfilm, dessen Genre um 1938 dank neuer Technik in bildbewegten Schwung kommt und der offenbar statt der Verfilmung von Bertolt Brechts „Die Gewehre der Frau Carrar“ gedreht wird, der ein Beitrag zum noch offenen Ausgang des spanischen Bürgerkriegs gewesen wäre. Dieser noch nicht entschiedenen Geschichte in Europa wird die Enthüllung gegenübergestellt, dass in Amerika Wrestling-Kämpfe gescriptet werden, also mit ihren Helden für das Publikum in emotionaler Anteilnahme nach Gut und Böse durchgeplant sind. Hier greift das Pollesch-Theater nach den schönsten Gegensätzen: Wie die Kulturindustrie sich diesen Brecht zwar nicht einverleibt, ihn dann aber doch irgendwie durch Nichtrealisierung mitnimmt, das tippt Pollesch im Nebenbei mit an. Stattdessen Tanz mit großer Technik. Die eigentlichen Helden dieser Inszenierung sind ein von Hand bewegter Kamerakran (mit Live-Bildern von Jan Speckenbach und Marlene Blumert) und ein sogenannter spinning room, eine imposante Röhre, die sich um die eigene Achse drehen kann und mit der sich als Bar ‚Fame or Shame‘ Bildeffekte fast schon wie in einer Raumstation erzeugen lassen (Bühne Nina von Mechow), wo Gläser und Flaschen von der Decke gezogen werden und Schauspieler (noch eine Form von Slapstick) die Wände hoch balancieren. Auf der Textebene werden unter anderem die Biografiewertigkeiten von Stars und Nichtstars verhandelt, wozu ein leicht pikierter Auftritt von Kathrin Angerer (ohne Gewehre) immer passt. Wo früher bei Pollesch Turnerriegen den Chor darstellten, gibt es hier eine siebenköpfige Chorusline mit echten Revue-Moves – und das alles macht vor allem staunen und ungeheuren Spaß.
Am 26. September, Bundestagswahl und in Berlin zugleich auch Abgeordnetenhauswahl mit teilweise chaotischen Zuständen in den Wahllokalen, fand abends auf der großen Bühne eine weitere bemerkenswerte Inszenierung statt. Jürgen Kuttner, auch er bald mit seinen kultigen Ost-West-Videoschnipseln ein Rückkehrer, stellte zusammen mit Schau- und Puppenspielern die „Berliner Runde“ mit den Vorsitzenden aller an der Bundestagswahl beteiligten Parteien aus dem Fernsehen nach. Als Live-Reenactment, d. h. was oben auf der Leinwand als ARD-Fernsehbild ohne Ton zu sehen war, wurde auf vier Sofas darunter in Instant-Verfremdung mit Knopfkopfhörern im Ohr gesprochen und nachgestellt. Hellsichtig dieses TV-Ritual zur Kenntlichkeit verzerrend. Die Linke war auf der rechten Seite ein verdruckster Gartenzwerg, die AfD in Gestalt von Alice Weidel am linken Ende ein bellender Heavy-Metal-Freak mit Gitarre, während Inga Busch, Christine Groß und Margarita Breitkreiz die Herren Olaf Scholz, Markus Söder, Christian Lindner und deren von ihnen schnell zu erfassende Textbausteine ohne Puppen sprachen und somit zwei anderen Protagonisten den Raum für ausgelassene Komik ließen. Suse Wächter, die zusammen mit Kuttner dieses Format geschaffen hat, führte eine aufgekratzte Annalena-Baerbock-Puppe, die mit ihrem lächelnden Puppengesicht aus einem Horror-Film zu kommen schien und sich – statt Beinen die Flosse einer kleinen Meerjungfrau zurechtrückend – im hysterischen O-Ton immer wieder an Olaf Scholz anschmiegte. Während Armin Laschet als Frauenleiche im Nachthemd der Gründerzeit samt Kopfhaube sich schon in seinen bald real folgenden Untergang hineinmoderierte. Das war Polittheater vom Feinsten, schnell, wirkungsvoll, überraschend respektlos – und wahrscheinlich so nur in der Volksbühne möglich.
Florentina Holzinger passt auf ihre ganz eigene Weise in diese neue Volksbühne. Ihre Dante-Performance „A Divine Comedy“ wurde zwar bei der Ruhrtriennale uraufgeführt, aber richtig lesbar oder ästhetisch entzifferbar wird sie vielleicht erst im Kontext der Volksbühne, zumindest was den Umgang mit Zitaten aus dem Wiener Aktionismus der 1960er Jahre angeht, der für die Wiener Choreografin einen anschlussfähigen Herkunftsraum darstellen dürfte. Hier ist durchaus eine Parallele zu manchen Arbeiten Christoph Schlingensiefs zu erkennen, in denen er kontroverse Akte der Kunst- und Performance-Geschichte (nicht nur die von Beuys) reenactete.
Es geht mit einer überlangen Hypnose-Nummer los, bei der Miranda van Kuilenburg vorgeblich aus dem Publikum rekrutierte Kandidaten mit einem Fingerschnipsen in Tiefschlaf versetzt, bis dann endlich eine von ihnen als Rotkäppchen mit Dante-Kappe in die eigentliche Show geschickt wird, wo diese auf Beatrice Cordua trifft. Cordua hat nun nicht nur den passenden Vornamen, sondern war auch das Zentrum der vorhergehenden Arbeit „TANZ. Eine sylphidische Träumerei in Stunts“, ausgestattet mit der Biografie einer gefeierten John-Neumeier-Solistin, die später das Konzept ‚Nacktheit als Kostüm‘ zum Begriff machte und noch mit über 80 offensiv auf der Bühne vertritt. Auch für Cordua ist es, man sollte es kaum glauben, eine Rückkehr, denn sie arbeitete hier schon mit Johann Kresnik, als Castorfs Volksbühne dessen Tanztheater im Programm hatte. Das Inferno, das Holzinger zwei Stunden lang mit zwanzig nackten Performerinnen um diese so beziehungsreich wie geheimnisvoll auftretende Frau bis zu deren Orgasmus-Paradies inszeniert, ist wie bei Dante eine Abfolge einzelner Nummern mit hohem zirzensischen Schauwert aus dem Extrembereich. Baumstämme werden mit größter körperlicher Anstrengung zersägt und zerhackt, Cellos mit Skeletten auf dem Rücken gespielt – was man auf Wuttkes Skelett-Double rückbeziehen kann. Aus der Sphäre der Stunts, in die Holzinger den Tanz erweitert hat, werden meterhohe Absprung- und halsbrecherische Treppensturz-Choreografien zu einer riskant die Szene durchpflügenden Bikerin geboten, alles unter den von Nikola Knežević im Bühnenbild aufgehängten zwei Autos. Als Gegenstück zu diesen eher mechanisch ausgeführten Totentanz-Belastungsfiguren folgt ein kollektives Body- und Action-Painting, bei dem Körper, Farbe und Leinwand fast schon ineinander zu fließen scheinen. Eine fluide Orgie auf dem Weg ins Paradies, zumindest in den Holzinger-Himmel.
Die angekündigte Produktion von Vegard Vinge und Ida Müller, die zudem Ausstattungsleiterin werden sollte, fehlt. Sie hätte eine dritte Säule werden können, als Fortsetzung von deren legendären Arbeiten im Prater und gleichsam Erweiterung dieser performativen Palette. Für eine erste Bilanz ist es freilich noch zu früh, auch was das Arbeitsmodell einer Leitung aus René Pollesch und Künstlern bedeuten soll, mit dem tendenziell der Machtknotenpunkt von Regie und Dramaturgie absichtsvoll aufgelöst wird. Aber die Wiederherstellung einer Volksbühne mit ihrem besonderen Klima, das aus jetzt mitleitenden Schauspieler-Persönlichkeiten, Diskursen und vibrierenden Schauwerten entsteht, das ist zweifellos gelungen. //