Theater der Zeit

Auftritt

Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau: Long Island, Görlitz Süd

„Gatsby!“ von Daniel Morgenroth nach F. Scott Fitzgerald – Übersetzung, Fassung und Regie Daniel Morgenroth, Bühne Damian Hitz, André Winkelmann, Daniel Morgenroth, Kostüm Nadine Baske, Christina Sieber, Choreografie Massimo Gerardi, Komposition Albert Seidl

von Lina Wölfel

Assoziationen: Theaterkritiken Sachsen Daniel Morgenroth Gerhart-Hauptmann-Theater Zittau

„Gatsby!“ von Daniel Morgenroth nach F. Scott Fitzgerald am Gehart-Hauptmann-Theater Görlitz–Zittau. Foto Pawel Sosnowski
„Gatsby!“ von Daniel Morgenroth nach F. Scott Fitzgerald am Gehart-Hauptmann-Theater Görlitz–ZittauFoto: Pawel Sosnowski

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Nervös sitzt sie vor ihrem Schminkspiegel. Tuscht sich noch einmal die Wimpern, legt Rouge auf. Der Blick wandert immer wieder nach draußen, sie steht auf, schaut durch das staubige Fenster in die Werkstatt, in der ihr Mann an einem Auto schraubt. Eine Kundin kommt herein, endlich, er ist abgelenkt, die Luft ist rein. Ein schneller Gang zum Telefon: „Hey, na, was machst du? ... Ok, bis gleich!“ Wenige Minuten später kommt er in die Werkstatt, selbstbestimmt mit perfekt sitzendem Anzug. Es riecht nach Metall und Schmieröl, es ist dreckig. Jeder Schritt hallt laut durch die hohe Halle. „Ich geh nochmal in die Stadt“, sagt sie freudig erregt, zieht den Lippenstift nach und geht davon. Vorbei an der aprilfrisch duftenden Wäscherei, mehrere Treppen hinauf in einen eichenvertäfelten Raum des Plaza Hotel. Dort wird wild geknutscht und ein Sekt nach dem anderen aus teuren Gläsern mit Kristallschliff getrunken. Die Outfits sind nobel: maßgeschneiderte Zweireiher, paillettenverzierte Hüte, seidene Feinstrumpfhosen (Kostüme Nadine Baske, Christina Sieber). Es ist Sommer, es ist eine riesengroße Party und wir sind mittendrin.

Vor einhundert Jahren, also 1925, erschien F. Scott Fitzgeralds berühmter Roman über die Welt der Reichen und Schönen, vor allem aber Mächtigen und Intriganten, des Glamours und Überflusses und der düsteren Vorahnung, dass sich der American Dream nicht für alle einlöst. Im Zentrum aller Sogkraft: Jay Gatsby (Philip Heimke), der sich seinen Gästen als galant, großzügig und vor allem geheimnisvoll verkauft. Ihm gegenüber Nick Carraway (Jonte Volkmann): bodenständig, im besten Sinne harmlos, aber dennoch auf naive Weise fasziniert von der Glitzerwelt. Hinzu kommt: Nicks Cousine Daisy (Martha Pohla) – sie und Jay Gatsby verbindet eine alte Liebesgeschichte. Nun könnten die drei einfach eine gute Zeit haben, wären da nicht die Seitensprünge und Verstrickungen der High-Society, die das Ausmaß moralischer Verkommenheit einer gegen die Leere anfeiernden Gesellschaft auf Long Island entblößen. Tom (Paul Maximilian Pira), Daisys Ehemann, hat eine Affäre mit Myrtle Wilson (Xenia Ytterstedt), die ihrerseits wiederum nach einem besseren Leben strebt, während ihr Ehemann George (Benjamin Petschke), ein ärmlicher Tankstellenwart, zunehmend der rücksichtslosen Lebensweise und Arroganz der Reichen verzweifelt.

Ähnlich wie Nick Carraway werden auch wir, die Besucher:innen, in Görlitz in diese Welt gesogen, können uns dem Rausch, dem Exzess, dem Glamour hingeben, können ignorieren, welche Risse sich in den Leben der Figuren auftun, oder aktiv nachforschen. Denn das Gerhard-Hauptmann-Theater präsentiert auf dem KEMA-Gelände in der Görlitzer Südstadt ein immersives 1920er-Jahre-Theatererlebnis auf 4000 Quadratmetern, mit gut zweidutzend Räumen auf mehreren Etagen und über 50 Beteiligten. Ein schillerndes und sündiges Babylon, begehbar, erlebbar, zum Anfassen.

In der Machart hat sich Intendant und Regisseur Daniel Morgenroth ordentlich beim britischen Theaterkollektiv Punchdrunk bedient. Mit einer weißen Ballmaske ausgestattet, stehen wir auf dem Innenhof des Geländes, in der Hand ein bunter Jeton – unsere Eintrittskarte in die pulsierende 20er-Jahre-Welt. Uns werden die Figuren vorgestellt, die wir an diesem Abend treffen werden, denen wir folgen können und deren Lebensgeschichte sich vor uns ausbreitet. Dann endlich rein ins Getümmel. Erstmal orientieren, ausloten, welche Räume sich vor einem öffnen. Die sind pure Baukunst und Theatermagie in einem – sechs Monate, drei Bühnenbilder (neben Morgenroth selbst, Damian Hitz und André Winkelmann), 5000 Arbeitsstunden, 400 Liter Wandfarbe und 74.000 Schrauben. Durch einen quietschenden Metallzaun gelangt man aus der mit rostigem Oldtimer und schlichtem Büroraum ausgestatteten Werkstatt George Wilsons über einen hölzernen Steg, kann kurz in die Ferne des schier unendlich erscheinenden Meeres schauen, das unter den Füßen plätschert und kommt von dort in den pompösen Außenbereich der Villa von Jay Gatsby. Und da ist doch tatsächlich ein riesiger Pool, vollgelaufen mit Wasser, daneben Liegestühle im Sand. Im Stockwerk darüber befindet sich eine riesige Bar mit Tanzfläche und sechsköpfiger Big-Band, die den ganzen Abend über Jazz und Swing spielt. Nebenan zunächst das Foyer der Villa Gatsby mit schwarzglänzendem Flügel, im ganzen Raum duftet es nach Orangenblüte. Dann ins Wohnzimmer der Buchanans, samt teuer aussehender Sofas, riesigem Barschrank und Terrasse mit Sonnenuntergangs-Blick. Es ist explizit erwünscht, sich umzusehen, Schubladen zu öffnen, Dokumente zu durchstöbern – da lassen sich vielleicht Beweise für die zwielichtigen Machenschaften und Verstrickungen der Hausherr:innen finden.

Wie auch bei den Arbeiten von Punchdrunk erlebt man keine kohärente Story. Blitzlichtartig wird man in die Handlung hineingeworfen, schaut den Figuren einige Minuten ihres Lebens zu, bevor sie weiterhuschen. Die Entscheidung, ob man gezielt versucht, einer:m Protagonist:in zu folgen, in einem bestimmten Raum zu bleiben und zu warten, wer vorbeikommt, oder sich von den Massen zu lösen und konsequent dahin zu gehen, wo nichts passiert, rumzustöbern und für sich zu sein, bleibt jeder:m Zuschauer:in am Ende selbst überlassen. Oft lohnt es sich, insbesondere beim Aufeinandertreffen vieler Figuren, nicht dem Hauptgeschehen zu folgen, sondern den Blick auf Beifälligkeiten, Abseitiges und Nebenhandlungen zu werfen. Etwa als die Tanzcompanie im großen Ballsaal eine Riesenshow mit wilden Jazz-Choreografien liefert und man Nick und Tom an der Bar lauschen kann, während Jay und Daisy in einer Ecke heimlich knutschen. Im Theater passiert normalerweise, was auf der Bühne gezeigt wird. Wie es mit den Figuren weitergeht, wenn sie das Scheinwerferlicht verlassen, können wir uns zwar ausmalen, nie aber wissen. In Görlitz wird genau das erzählt – und das ist, hat man einmal die Schwelle der eigenen Frustration überwunden, überaus reizvoll. Welches Buch liest Daisy, während Tom sich im Salon mal wieder betrinkt? Worüber unterhalten sich die Golfspielerin Jordan Baker (Maria Weber) und Nick Carraway bei ihren zarten Anbandelungsversuchen? Welche Schallplatte legt Gatsby auf, wenn er allein ist? Und was hat der Geschäftsmann Meyer-Wolfsheim (Robert Rosenkranz) eigentlich hinter dieser einen Tür im zweiten Stock versteckt?

Das Görlitzer Publikum schmeißt sich mit Vergnügen in diese Welt, wenn auch mit spürbarer Überforderung. Logistisch hat der Abend noch einige Schwächen: zu eng sind die Gänge zwischen den einzelnen Räumen, zu schlecht kann man den Figuren tatsächlich folgen. Oft kommt es zum Gedränge und nicht immer nehmen die Zuschauer:innen die nötige Rücksicht aufeinander. Trotzdem strahlt am Ende noch etwas ganz Anderes mit. Das diese Produktion in Görlitz stattfindet, einer Stadt von deren Wirtschaftseuphorie nur noch die glattpolierten Kulissen übriggeblieben sind, die Umbruchserfahrungen kennt, gibt dem Ganzen einen bitteren Beigeschmack, spielt für den Abend aber keine weitere Rolle. Vielmehr zeigt „GATSBY!“, was ein Mehrspartenhaus leisten kann, wenn alle zusammenarbeiten. Welche überregionale Strahlkraft darin liegt. Besonders zu erleben ist das in der großen Schlussszene am Pool, dem Showdown, wenn 400 Besucher:innen und alle Beteiligten zu einem getanzten Feuerwerk zusammenkommen. Das ist magisch, das ist einnehmend, das ist eine gigantische Leistung. „Wer hier lebt, muss an die Zukunft glauben“ – von wegen Provinz: das ist eine riesengroße Party.

Erschienen am 15.5.2025

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