I. Grundlagen von Ausbildung und Beruf
Wege zum Kostüm
Erschienen in: Lektionen 6: Kostümbild (06/2016)
Assoziationen: Kostüm und Bühne Schaubühne am Lehniner Platz

Die folgenden Notizen erläutern einführend einige der Grundbegriffe des Kostümbilds und in der anschließenden Bildstrecke wird anhand der Inszenierung von Richard III ein möglicher Weg der Realisation gezeigt.
Kostümkonzept
Am Anfang jeder Theaterarbeit steht der inhaltlich-konzeptionelle Austausch eines künstlerischen Leitungsteams (Regie, Bühnenbild, Dramaturgie etc.). Des Weiteren ist für die Entstehung einer Kostümkonzeption die vorbereitende Textarbeit (Primär- und Sekundärliteratur) Voraussetzung, die die ersten Grundlagen für die Entwurfsarbeit liefert.
Mind-Map
Bei der analytischen Erarbeitung eines Textes helfen bildlich-visuell gestaltete Übersichten in Form von Mind-Maps, Assoziationsblättern, Vorgangsbeschreibungen, Arrangementskizzen, Szenarien etc. Damit lassen sich aus der Textvorlage alle wichtigen Informationen u. a. zu Vorgängen, Figuren, Ort, Raum, Stimmungen, Situationen, Zeit herausfiltern. So entstehen erste Erkenntnisse und Phantasien zu den Figuren und deren Kontext. Es wird eine Art Partitur entwickelt: Der Kostümbildner verschafft sich damit einen Überblick über das szenische Geschehen und hält erste Ideen fest.
Recherche und Sammlung
Die Recherche und Sammlung von kunst- und kulturgeschichtlichem Text- und Bildmaterial ist eine dramaturgische Vorarbeit des Kostümbildners, die die Annäherung an den Stoff ermöglicht und die Kenntnisse vertieft, die in den Entwurfsprozess einfließen. Aus der Recherche themenbezogener Bilderwelten entsteht eine Materialsammlung, ein reichhaltiger Ideen- und Wissensfundus, aus dem eine visuelle Bildersprache entwickelt wird, die den gemeinsamen Probenprozess einer Theaterproduktion speist.
Der Assistent ist ein persönlicher Mitarbeiter des Kostümbildners, der die künstlerischen und organisatorischen Prozesse begleitet. Die Zusammenarbeit beginnt zumeist schon in der frühen Entwurfsphase. Die Assistententätigkeit kann sich durchaus auch zu einem eigenen Beruf entwickeln, sodass Kostümbildner und Assistent oft über einen langjährigen Zeitraum miteinander arbeiten. Viele angehende Kostümbildner nutzen die Assistenz, um Erfahrungen zu sammeln, bevor sie in die eigenständige künstlerische Arbeit einsteigen. Häufig gibt es in den größeren Häusern zusätzlich Produktionsassistenten, deren Aufgaben im organisatorischen Bereich liegen, etwa der Terminplanung von Anproben, Bestellungen etc.
Teamarbeit
Theaterschaffen ist eine kollektive Kunstform. Je nach Arbeitsweise und Werk setzt sich das künstlerische Leitungsteam aus Regie, Dramaturgie, Bühnenbild, Kostümbild, Choreografie, Komposition, Dirigat, Lichtdesign, Darstellung, Tanz etc. zusammen. Hinzu kommen die Assistenten für alle Bereiche. Vor Probenbeginn finden regelmäßige Arbeitstreffen innerhalb des künstlerischen Teams statt, um das Konzept weiterzuentwickeln und zu konkretisieren. Dazu bedient man sich eines maßstäblichen Bühnenbildmodells, um Regie-, Raum- und Figurenideen durchzuspielen. Es reift ein großer Plan – das Regiekonzept.
Entwurfsarbeit
Der Kostümbildner beginnt nun, innerhalb des reichen Spektrums seiner gestalterischen Möglichkeiten die gesuchte Figurenwelt auszuloten. Er stellt sich dabei viele Fragen, um den Figuren auf die Spur zu kommen: Wie verhalten sich die Figuren zum Bühnenbild/Raum? Befinden sie sich außen, innen; ist es kalt, heiß, Tag, Nacht, hell, dunkel? Was wird sichtbar: Welche Farben, Silhouetten, viel Haut, wenig Haut, viele Schichten, ist die Kleidung abgenutzt, neu? Eine der grundlegenden Fragen ist die zeitliche und kulturelle Verortung (Epoche) der Figuren und die damit verbundene Kleidersprache. Mit all diesen Überlegungen reifen konkrete Vorschläge zum Kostümentwurf. Sie führen zu einer Festlegung bezüglich des stilistischen Ausdrucks, der sich z. B. in Form von Abstraktion, Realismus, Naturalismus, Überhöhung oder Groteske zeigt. Ein mögliches Stilmittel ist das collagenartige, eklektizistische Zitieren verschiedener Epochen.
Modell
Da Raum und Figur in einem starken Bezugsverhältnis zueinander stehen, ist die enge Zusammenarbeit des Kostümbildners mit dem Bühnenbildner grundlegend. Oft wird schon frühzeitig bei den Arbeitstreffen in einem maßstäblichen (1:20, 1:50, 1:25, 1:33, 1:100) Bühnenbildmodell und mit Modellfiguren das Regiekonzept überprüft und damit die visuelle Bildsprache von Raum und Figur entwickelt.
Bauprobe
Bei der Bauprobe wird der Bühnenbildentwurf simuliert und auf Proportion, Funktionalität, Wirkung und Sichtlinien des Zuschauers überprüft. Mittels Probenkostümen werden Statisten eingekleidet, um Farben, Formen und Silhouetten im Raum auszuprobieren. Mit dieser intensiven Vorarbeit und dem Austausch im Team kann der Kostümbildner nun seine Ideen bildnerisch weiterentwickeln und konkretisieren.
Drapieren
Das Drapieren auf der Schneiderpuppe ist wie in der Mode eine elementare Arbeit zur Findung und Entwicklung von Schnittlinien. Die Schneiderpuppe in den Körpermaßen des Darstellers ermöglicht es, den Fall des Stoffes und seine plastische Oberflächenwirkung im Raum und die Silhouetten und Farbigkeit mittels eines Bühnenscheinwerfers auszuprobieren. Auch mit fertigen Kleidungsstücken kann entsprechend gearbeitet werden.
Figurine
Die Figurine ist ein individuelles Ausdrucks- und Kommunikationsmittel des Kostümbildners. Sie dient den Beteiligten der Produktion und den Werkstätten als Medium, um die gesuchte Erscheinungsform einer Figur zu vermitteln. Im Entstehungsprozess einer Figurine findet eine intensive Auseinandersetzung mit der Figur statt. Der Kostümbildner verhandelt damit seine eigenen Überlegungen, überprüft seine Ideen und trifft konkrete Entscheidungen. Er wählt seine Darstellungsform: Eine Figurine kann gemalt, gezeichnet, fotografiert, collagiert, modelliert oder mit Stoffen und Kleidung an der Schneiderpuppe bzw. direkt am Körper gearbeitet sein. Kleine Stoff- und Farbproben, Erläuterungen und schnitttechnische Skizzen ergänzen die Figurine bei der Werkstattabgabe, d. h. der Übergabe des Entwurfs an die Kostümwerkstätten des Theaters.
Ausmusterung
Die Ausmusterung einer Figurine ist der erste Schritt zur Realisierung eines Kostümentwurfs und bedarf einer frühzeitigen Materialrecherche etwa im Stofffundus, in Stoffläden oder bei Herstellern. Die Ausmusterung braucht viel Erfahrung und Materialkenntnis, denn schon die Zusammensetzung des Stoffes und dessen Charakter haben Konsequenzen auf die Verarbeitung und Wirkung. Mit Stoffproben kann man die Qualität und Materialeigenschaften durch unterschiedliche Experimente wie Waschen, Färben, Kochen, Bemalen etc. herausfinden und beeinflussen. Mit künstlichem Licht werden die Oberfläche und Stoffqualität auf Bühnenwirksamkeit überprüft, denn durch die speziellen Lichtverhältnisse und die Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum können sich unerwartete Wirkungen ergeben.
Kostümleitung
Mit der Kostümleitung wird der Entwurf auf seine Machbarkeit überprüft und die Kapazität der Werkstätten festgelegt. Sie ist eine wichtige Schnittstelle zwischen Kostümbildner, Werkstätten und Fundus und während des gesamten Probenprozesses ein wichtiger Ansprechpartner.
Gewandmeister
Für die Realisierung des Kostümentwurfs arbeitet der Kostümbildner eng mit dem Gewandmeister zusammen. Dieser macht Vorschläge zu Material, Schnitt und Verarbeitung und setzt mittels Schnitttechnik den Entwurf praktisch um. Die Figurine wird dreidimensional auf den menschlichen Körper übersetzt und oft wird ein Prototyp (Nesselschnitt) entwickelt.
Vor der Fertigstellung eines Kostüms finden mehrere Kostümanproben mit dem Darsteller und dem Gewandmeister statt. Vor dem Spiegel wird die gesuchte Wirkung und Passform des unfertigen Kostüms überprüft, weiterentwickelt und festgelegt. In dieser Zusammenarbeit können durchaus ganz neue Ideen entstehen, die nicht mehr den ursprünglichen Vorgaben der Figurine entsprechen. Die Arbeit am Körper ist für den Kostümbildner elementar.
Schneiderei
Die Verarbeitung des zugeschnittenen Kostüms übernimmt die Schneiderei. Durch die unterschiedlichen Schnitt- und Verarbeitungstechniken sind die Damen- und Herrenschneiderei getrennt. Sie passen auch Funduskostüme, gekaufte oder getrödelte Kleidungsstücke an. Für Körperverformungen fertigen sie sogenannte Wattons (Fatsuit) an. Spezielle Unterbauten wie Mieder, Unterröcke etc. verlangen besondere schneidertechnische Fähigkeiten. Die Ausfertigung nach der 2. Anprobe beinhaltet u. a. die Verarbeitung von Futter, Polstern, Verschlüssen, Knöpfen, Revers, Borten, Paspeln, Taschen, Säumen. Bei einer letzten Anprobe werden das Gesamtbild und die Funktion des fertig verarbeiteten Kostüms überprüft, nur die Längen werden erst bei den Endproben festgelegt.
Kostümmalerei
Nach der Fertigstellung in der Schneiderei werden je nach Kostümkonzeption die Kostüme in der Kostümmalerei im Spritzraum bearbeitet (Altersspuren, Oberflächen- und Farbbearbeitung).
Maskenabteilung/Maskenbildner
Der Kontakt des Kostümbildners zur Maskenabteilung findet in einer frühen Entwurfsphase statt. Der Maskenbildner übersetzt die Figurine und fertigt Perücken, Bärte, Körperbehaarung, Make-up, Gesichtsdetails (z. B. Nase, Kinn, Stirn) und auch Vollmasken an.
Vor der Leseprobe präsentiert der Kostümbildner dem Produktionsteam die Kostümkonzeption. Mittels einer Bilderwand werden die Figurinen und dazugehörigen Materialsammlungen gezeigt. Für den Probenprozess werden Probenkostüme vorbereitet, welche in Funktion und Wirkung dem Originalkostüm entsprechen sollten. Die Probenkostüme stammen aus dem theatereigenen Fundus, Second-Hand-Läden oder werden in der Kostümwerkstatt angefertigt.
Die Proben werden vom Kostümbildner und Assistenten betreut. Sie beobachten die Probenentwicklung mit Stift und Kamera und reagieren auf Veränderungen. Sobald das szenische Gerüst steht, werden Kostümlisten angefertigt, die festlegen, welche Kostümteile wann zum Einsatz kommen, um den Ablauf mit Garderobieren, Requisite und Maske abzustimmen. Notwendige schnelle Umzüge sind dabei ein wesentlicher Aspekt.
Das Originalkostüm und Maskenbild kommen in den Endproben (Haupt, Foto-, Generalprobe) zum Einsatz.
MINDMAP KOSTÜMBILD | Das Theater | Text | 1. Gespräch Regisseur | Vertrag | Kalkulation Budget | Team | Assistent | Darsteller | Bühnenbildner | Modell | Regiekonzept | Bauprobe | Szenarium | Recherche | Textanalyse | Arrangement skizzen | 1. Ideen | Kostümskizzen | Kostümentwürfe | Figurine | Kostümfundus | Second-Hand-Laden | Stoffrecherche | Drapieren auf der Schneiderpuppe | Experimente | Proben: Konzeptionsvorstellung | Bilderwand | Probenkostüme | Probenbetreuung | Probenprozess | Beobachten | Foto grafieren | Zeichnen | Stoffeinkäufe | Bestellungen | Werkstätten | Damen- und Herrenschneiderei | Gewandmeister | Werkstattabgabe | Schnitt | 1. und 2. Anprobe | Verarbeitung | Maske | Maskenbildner | Requisite | Kostümlisten | Endproben | Garderobieren | 1. Kostümproben | Hauptprobe | Generalprobe | Premiere | laufende Vorstellungen |
SKIZZENBLÄTTER zu den einzelnen Darstellern und ihren Figuren nach der ersten Lektüre und den Konzeptionsgesprächen. Blaue Punkte: Regieanweisungen, Handlung, Szenen- und Ortsangaben, Auftritte der Figuren; rote Punkte: Ideen zu Körper, Kleidung und Requisiten.
linke Seite: Lars Eidinger, Sebastian Schwarz, rechte Seite: Jenny König, Thomas Bading
FIGURINEN Wie übersetzt man die Erscheinungsweise einer höfischen Kultur in heutige Kleidung einer Oberschicht? Die Kostüme sollen den Schauspielern durch eine klare, körperbetonte Silhouette und feste Stoffe Haltung geben, um in die Figur zu finden. Richard III als Außenseiter: Buckel, Korsett, Halskrause, Klumpschuh, Klebeband sind Hilfsmittel, um den körperlich Deformierten zu spielen, und werden zugleich als Theatermittel ausgestellt. Farbe: Schwarzweiß-Konzept zur Konturierung der Figuren und Reduzierung auf die Silhouette und auf das Gestische: Das Kostüm als Fläche, in die sich der ockergelbe Staub des Bühnenbildes einschreibt.
STOFFE auswählen, die „Körper“ haben: Innerhalb des schwarzen Farbkonzepts werden individuelle Abstufungen im Material und in der Farbtiefe gefunden: fließend, fest, glänzend, stumpf, meliert, gerippt, gewirkt, gefilzt, gewebt, elastisch.
VERARBEITUNG durch die Maßanfertigung in den Kostümwerkstätten: Der Gewandmeister entwickelt einen Schnitt, der auf den individuellen Körper gearbeitet ist. Bei der Anprobe wird mit den Schnittlinien und Proportionen auf den Körper modelliert. Die Detailverarbeitung als Mittel der Distinktion: Paspel, Knöpfe, verdeckte Knopfleiste, Reversform, Aufsätze, Blende, Naht, Innenfutter, Polster, Rosshaareinlage, Kanteneinfass, Falte, Patte, Saum.
WERKSTATTEXPERIMENTE Der Makel als Handlungsmotiv: Die Deformation des Richard III herstellen und sichtbar machen, um den Außenstehenden zu markieren, der seinen Makel als Auszeichnung trägt. Der Dandy im weißen Anzug. Wie schlägt sich die körperliche Verformung noch durch die Kleidung durch? Der „Makelbausatz“: Experimente mit verschiedenen Elementen gemeinsam mit dem Darsteller vor dem Spiegel, um Verformungen und Ausstülpungen in unterschiedlichen Extremitäten auf ihre Wirkung zu beobachten.
THEATERMITTEL Ein ungleiches Paar Schuhe – ein feiner Schnürstiefel und ein schwerer Militärstiefel – bringt den Körper aus der Balance. Der Teufelsfuß des Richard III wird wie ein Clownsschuh zum ausgestellten Zeichen, er vergrößert, betont, verdeutlicht die Deformation. Er wird im Verlauf der Probenarbeit zum originalen Requisit des Darstellers, das dieser für sein Spiel adaptiert und weiter modelliert.
PROBEN Robert Beyer als Margaret und Catesby: Männer spielen Männer und Frauen, ohne dass die Figur als Clownerie entwertet wird. Ein Austarieren zwischen einer Darstellung, die als Behauptung erkennbar ist, und dem Ernstnehmen einer Figur, die in ihrer individuellen Physiognomie sichtbar bleiben soll. Familienzugehörigkeiten werden durch das Farbkonzept optisch getrennt: Schwarzweiß für das Haus York, Schwarz für das Haus Lancaster, Richard wechselt die Farben.
KOSTÜMKONZEPT In der heutigen Kleidersprache, welche die Darstellung zeitlich an uns heranrückt, wird zugleich ein Grad von Abstraktion gesucht, die die Erinnerung an höfisches Leben assoziieren lässt. Dagegen steht die Figur des Richard III in ihrer ausgestellten Nacktheit.
RICHARD III.
von William Shakespeare
Premiere am 7.2.2015
Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin
Übersetzung und Fassung von
Marius von Mayenburg
Regie: Thomas Ostermeier | Bühne: Jan Pappelbaum | Kostüme: Florence von Gerkan | Mitarbeit Kostüme: Ralf Tristan Sczesny | Musik: Nils Ostendorf | Video: Sébastien Dupouey | Dramaturgie: Florian Borchmeyer | Licht: Erich Schneider | Puppenbau: Ingo Mewes, Karin Tiefensee | Puppentraining: Susanne Claus, Dorothee Metz | Kampfchoreographie: René Lay
Richard III: Lars Eidinger | Buckingham: Moritz Gottwald | Elizabeth: Eva Meckbach | Lady Anne: Jenny König | Hastings, Brakenbury, Ratcliff:
Sebastian Schwarz | Catesby, Margaret, Erster Mörder: Robert Beyer | Edward, Bürgermeister, Zweiter Mörder: Thomas Bading | Clarence, Dorset, Stanley, Prinz v. Wales (als Puppe): Christoph Gawenda | Rivers, York (als Puppe): Laurenz Laufenberg / Bernardo Arias Porras | Schlagzeuger: Thomas Witte