Theater der Zeit

Protagonisten

Bella Ciao!

Am Theater Konstanz endet nach 14 Jahren die Ära Christoph Nix

von Bodo Blitz

Erschienen in: Theater der Zeit: Rechte Gewalt – Esra Küçük und Milo Rau im Gespräch (04/2020)

Assoziationen: Akteure Theater Konstanz

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Er kam im Jahr 2006 als „Reisender ohne Gepäck“, passend zum Motto seiner ersten Spielzeit: Prof. Dr. Dr. Christoph Nix, Künstler und Jurist. Eine schillernde, ja polarisierende Persönlichkeit trat vor 14 Jahren in Konstanz seine dritte Intendanz an. Als er damals mit nur einer Stimme Mehrheit gewählt wurde, hätte kaum jemand jene Kontinuität erwartet, wie sie dann tatsächlich eintrat. Die aktuelle Spielzeit gestaltet den eigenen Abgang kämpferisch. „Bella Ciao“ lautet das Motto. Ja, das ist selbstreferenziell formuliert. Das trotzige Titelbild des Spielzeitheftes zeigt eine Faust auf rotem Grund. Intendant Nix wäre gerne wenigstens ein Jahr länger in Konstanz geblieben. Theaterfreunde, Zuschauer­gemeinschaften, viele in der Stadt unterstützten seinen Wunsch. Gemeinderat und Kulturbürgermeister waren und blieben anderer Ansicht. Nun beerbt ihn Karin Becker, derzeit noch Künstlerische Betriebsdirektorin am Thalia Theater Hamburg. Was hinterlässt ihr Christoph Nix?

Der Kampf für eine bessere Gesellschaft ist Teil von Nix’ Persönlichkeit. Herrschaft und Macht gilt es zu hinterfragen. Schweigen ist zwar als inszenatorisches Mittel erlaubt, nicht aber im öffentlichen Diskurs. Den führt Nix hörbar laut, wenn es ­darum geht, Ungerechtigkeit anzuprangern. Das hat Folgen für die Spielplangestaltung. Ohne Brecht geht es nicht am Theater Konstanz. Martin Nimz eröffnete 2006 die Spielzeit mit Brechts „Der kaukasische Kreidekreis“. Regisseur und Inszenierung be­saßen damals durchaus programmatischen Charakter. Aufmerksamkeit für die Krusches dieser Welt, für die Schwachen ent­wickelt Nimz auch in seiner aktuellen Uraufführung von „Zwei Tage, eine Nacht“ nach dem Film der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne. Diese verhandeln darin die Härte des modernen Kapitalismus: 16 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Firma entscheiden sich mehrheitlich für die Auszahlung einer Prämie und damit gegen die Weiterbeschäftigung von Sandra. Sie hatte wegen Depressionen länger bei der Arbeit gefehlt. Ein Wochenende bleibt Sandra, um die Kollegen vielleicht doch noch umzustimmen. Wie schon beim „Kreidekreis“ leuchtet im Mikrokosmos der Bühne der Makrokosmos der Gesellschaft: Was gelten Solidarität und Menschlichkeit, wenn sie von individuellen Egoismen bedroht werden? Nimz mutet dem Konstanzer Publikum viel zu, damals wie heute. In „Zwei Tage, eine Nacht“ nimmt er etwa die Indirektheit moderner Handy-Kommunikation ins Visier. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis sich erlebbare Dialoge überhaupt entwickeln. Der Überlebenswille im Hamsterrad der Produktivität treibt Sandra an. Johanna Link verkörpert diese Figur ungeschminkt und in aller Ambivalenz. Wenn sie sich als seelisch verwundetes Individuum aufrichtet, zieht sie von Tür zu Tür, konfrontiert ihre Kolleginnen und Kollegen mit der Konsequenz der mehrheitlich beschlossenen Kündigung – eben mit der Gefährdung ihrer eigenen Existenz. Links Spiel unterschlägt das Erniedrigende des Bittens nicht. Letztlich bleibt Sandras atemloser Kampf gegen ihre Entlassung mit der Brutalität des kapitalistischen Broterwerbs vergleichbar. Individuelle Schwäche spielt in beiden Bereichen keine Rolle. Es ist eine Inszenierung, die begeistert.

Der Ehrgeiz von Nix, auch überregional wahrgenommen zu werden, war und ist groß. Einige Regisseurinnen und Regisseure, die inzwischen an größeren Häusern arbeiten, haben in Konstanz ihre Visitenkarte abgegeben: Bettina Bruinier oder die Faust-Preisträgerin Johanna Wehner. Nix hat ein Händchen für die Förderung von Talenten. Er weiß allerdings: ­Anspruchsvolles und forderndes Theater jenseits der Metropolen bedarf der Absicherung. „Wenn du nicht auch kritisches Volks­theater machst, verreckst du“, so formuliert Nix im Gespräch überdeutlich. Der scheidende Konstanzer Intendant ist stolz auf die massive und dauerhafte Steigerung der Zuschauerzahlen über die magische Grenze von 100 000. Das hat auch mit besonderen Formaten zu tun. Die Freilichtspiele auf dem Konstanzer Münsterplatz wären hier zu nennen, kein Ort für vorrangig leise und subtile Töne, dafür aber mit beeindruckender Zuschauerkapazität. Nix etablierte zudem das Musical. Ihm ist es mit seinem Team gelungen, das Theater als Ort großer Identifikation bei den regional so stolzen Konstanzern fest zu verankern – neben ihrem Münster und ihrem See. Das ist nicht nur, aber auch Inszenierungen geschuldet, bei denen der Unterhaltungseffekt mit im Vordergrund stehen darf. Nix ist es allerdings wichtig, dass er dadurch keinen „Kaufhausstil“ etabliert habe, im Sinne eines Gemischtwarenladens für jedermann. Stückentwicklungen, zahlreiche Uraufführungen oder auch Wiederentdeckungen wie gerade Gaston Salvatores „Stalin“ sorgen für die künstlerische Balance.

Herausragende Arbeit leistet das Theater Konstanz im kontinuierlich verankerten Afrika-Schwerpunkt. Die Konstanzer Uraufführung „Ngunza – Der Prophet“ in der aktuellen Spielzeit zeigt auf exemplarische Weise, wie eine Begegnung des europäischen und afrikanischen Kontinents auf Augenhöhe funktionieren kann. Die Auftragsarbeit von Rafael David Kohn fokussiert die belgische Kolonialherrschaft im Kongo der 1920er Jahre. Der Protagonist Charles (Jubril Sulaimon) hat als Kongolese an der Seite der Belgier auf europäischem Boden im Ersten Weltkrieg gekämpft. Nach seiner Rückkehr überschreitet Charles beinahe die Grenze zum gewaltsamen Widerstand gegen die Kolonialherren. Es entspinnt sich ein spannungsreiches Gewissensdrama um ­Radikalität und Pazifismus. Wie verführerisch ist es, die in kolonialer Unterdrückung gelernten Wege der Gewalt selbst zu beschreiten? Und wie kann die Befreiung vom eingetrichterten Bild des Kämpfers gelingen? Erst in der Abkehr von Gewalt manifestiert sich die Autonomie der Unterdrückten, das ist die tröstliche Botschaft des Stückes. Allein Besetzung und Regie lassen sich als Ausdruck kultureller Autonomie verstehen. Zwei Schauspieler vom Theater Konstanz (Odo Jergitsch, Peter Cieslinski) bilden zusammen mit sechs afrikanischen Schauspielern und Musikern (Jubril Sulaimon, Joseph Koffi Bessan, Julien Yao Mensah, Pierette Essohounam Somdebelo Takara, Eustache Bowokabati Kamouna, Mbene Mbunga Mwambene) ein gemischtes Ensemble. Die Inszenierung erhält allein über die Mehrzahl von Künstlerinnen und Künstlern aus Togo, Nigeria und Malawi eine starke emanzipatorische Stimme. Die Mehrsprachigkeit des Ensembles garantiert gelebte Vielfalt. Regie führt Ramsès Alfa, der seit 2009 dem Theater Freiburg als Schauspieler wie als Regisseur fest verbunden ist. Expressivität, Körperlichkeit und Musikalität seiner Inszenierung beeindrucken. Ramses Alfa gelingt es, den emotionalen Kern des Stückes freizulegen: Wie existenziell wirkt das Gift der Unterdrückung? Die Kooperation des Theaters Konstanz mit Künstlerinnen und Künstlern aus Togo und Malawi festigt dauerhafte Entwicklungsmöglichkeiten nicht nur auf der Ebene von Strukturen. Nix spricht dabei von „Partizipation“ und dem Brechen von „Hegemonie“. Afrikanische Schauspieler werden als wiederkehrende Ensemblemitglieder wertgeschätzt. Das ist weit mehr als ein punktueller Gaststatus.

Warum dieser Austausch so gut funktioniert? Vielleicht stellt die Liebe zum elementaren Erzählen ein verbindendes interkultu­relles Band dar. In Büro der Intendanz hängt ein Foto: Christoph Nix auf einer Reise des Ensembles nach Malawi. Umringt von jungen Malawiern, die ihm gebannt dabei zuhören, wie er ein Märchen erzählt. Sein Gesicht ist kaum zu sehen, weil Nix den Kopf gesenkt hält, völlig vertieft in die narrative Situation. Demut drückt dieses Bild aus, und die Unmittelbarkeit einer respektvollen Begegnung. Die Kunst des Erzählens – sie erlaubt auch den Brückenschlag zum Dramatiker Neil LaBute. Der amerikanische Meister des Story­tellings, hart an der Klippe des Unerwarteten, arbeitete häufig in Konstanz. Nach einer Autorenwerkstatt im Jahre 2014 blieb LaBute vom „Spirit“ des dortigen festen Ensembles fasziniert. Er fand am Theater Konstanz vieles, was ihm am Broadway fehlt, etwa kollektives Arbeiten jenseits des Starkults. 2016 inszenierte er selbst, Tschechows „Onkel Wanja“. Seine Regie folgte der eigenen, provokanten Erzählkunst. Das Konstanzer Theater ­etablierte sich mit kontinuierlichen Inszenierungen fast zur Werkstattbühne für kurze und besonders unberechenbare Dramen LaButes – „We Have a Situation Here“ im Jahr 2017, zuletzt 2018 „Eine Art Liebeserklärung“. Leider fiel die Wiederbegegnung in dieser Spielzeit aus: Ein Netflix-Drehtermin verhinderte Harold Pinters „Betrogen“ in der Regie Neil LaButes.

Die Saisoneröffnung seiner letzten Spielzeit verantwortete der Intendant persönlich, gemeinsam mit der Choreografin Zenta Haerter. Nix hatte sich mit Regiearbeiten in den 14 Jahren durchaus zurückgehalten. Horváths „Kasimir und Karoline“ lässt sich als seine Abschiedsinszenierung deuten. Darin schwingt viel ­Melancholie, verstärkt durch die Doppelbesetzung Kasimirs: Julian Härtner gibt den jungen Kasimir. Odo Jergitsch als von der Regie gesetzter, alter Kasimir wirkt in einem Autoscooter am Bühnenrand wie eine Stimme aus dem Off. Er spricht vor allem gesellschaftskritische Textpassagen. Klagen über zementierte Klassenunterschiede oder die Inhumanität des Kapitalismus erhalten den Charakter unumstößlicher Lebensweisheiten, wenn sie solchermaßen rückblickend formuliert werden. Mehreres an dieser Horváth-Produktion verweist auf durchaus Typisches der Ära Nix. Der Verfremdungsstil in der Setzung einer doppelten Kasimir-Figur betont das Klassenkämpferische. Die Inszenierung wirkt dadurch recht männlich dominiert, da Karoline (Antonia Jungwirth) als junge Frau ohne älteres Pendant auftritt. Das Bühnenbild schließlich, ebenfalls von Christoph Nix, bezaubert durch Poesie. Anklänge an den Jahrmarkt sind vorhanden, werden aber keineswegs überstrapaziert. Die Stadt Konstanz hat als überschaubares Gemeinwesen durchaus Berührungspunkte zur Manege. Der Impresario und sein Team gehen, das treue Publikum bleibt. Es ist bestens vertraut mit dem Zauber einer Bühne, die das Staunen wie das Nachdenken gleichermaßen beförderte. //

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