Theater der Zeit

Diskurs

Wende und Wandel

Forschungsfragen zum Kinder- und Jugendtheater im Osten Deutschlands, am Beispiel Eisenach

Wissenschaftlerin und Politikerin Juliane Stückrad und Dramaturg Christoph Macha schauen in Eisenach genauer hin und beschreiben, wo es Forschungsbedarf zur Nachwendezeit gibt und welche Rolle Theater für junges Publikum spielt, um eine Sprache für Erlebtes, Erinnertes, Verändertes zu finden.

von Judith Sünderhauf, Christoph Macha und Juliane Stückrad

Erschienen in: IXYPSILONZETT Jahrbuch 2023: laut & denken (01/2023)

Assoziationen: Kinder- & Jugendtheater Debatte Thüringen Dossier: Zukunft des Kinder- und Jugendtheaters Meininger Staatstheater Landestheater Eisenach

Die Verdunkelung II – Coronaleuchten, Piccolo Theater Cottbus, 2021
Die Verdunkelung II – Coronaleuchten, Piccolo Theater Cottbus, 2021Foto: Michael Helbig

Anzeige

Anzeige

STÜCKRAD: Wie bekommt man überhaupt Publikum beschrieben oder erfasst? Es gibt in der Stadtforschung den Begriff des Habitus der Stadt. Das heißt, wir müssten uns unsere Städte genau anschauen. Welchen Habitus haben diese Städte und wie passt da Theater rein? Wie beeinflusst Theater diesen Habitus? Das sind für die Spielplangestaltung wichtige Grundkenntnisse. Der Habitus von Eisenach ist durchaus kompliziert. Diese Stadt ist sehr heterogen. Es gibt eine große Spanne zwischen Arm und Reich. Die Brüche in der Stadtgeschichte gehören mit dazu: große Entwicklungsvisionen, aber auch große Rückfälle und Enttäuschungen. So reiht sich auch die Theatergeschichte in die Stadtgeschichte mit ein und beide beeinflussen einander.

Wenn wir Floskeln wie „Kultur im Wandel“ beschwören, dann tun wir so, als wenn es eine „statische Kultur“ gäbe, dabei wandelt sich (Stadt-)Kultur eigentlich immer.

MACHA: Ich habe das Gefühl, dass es in Förderstrukturen einen starken Fokus auf Wandel- und Transformationsprozesse im Osten gibt. Das ist einerseits gut, denn es führt zu mehr Sichtbarkeit der Herausforderungen im Osten. Es führt auch zu einer Neubewertung, einem anderen Blick auf Veränderungen. Aber sind die Begriffe des Wandels und der Transformation nicht oft „schönfärbend“?

STÜCKRAD: Ja, die Begriffe kaschieren viel, worüber man eigentlich differenzierter nachdenken müsste. Wir erleben aktuell viele Veränderungen. Wir sind in einer Zeit des Wandels groß geworden. Und trotzdem dürfen wir nicht vergessen, dass es natürlich auch Kontinuitäten in der Stadtkultur und in der Gesellschaft im Osten gibt. Damit geht eine Reflexion über Strategien einher: Welche Sichtweisen bleiben erhalten? Welche Traditionen sind wichtig, um im Wandel zu bestehen?

Wandel braucht eine Zielrichtung und Kontinuitäten. Theater ist Kontinuität. Trotz der vielen personellen Wechsel am Landestheater Eisenach ist die Verlässlichkeit der Institution wichtig. Wenn ich z. B. als Kind das Weihnachtsmärchen im Theater gesehen habe und diese Erinnerung positiv besetzt ist, möchte ich die Chance haben, auch jetzt mit meinen eigenen Kindern ins Weihnachtsmärchen zu gehen.

MACHA: Beim Weihnachtsmärchen frage ich mich immer: Wo kommen die Rituale her, die die Kinder einfordern? Die Forderung nach dem roten Vorhang oder Rufe nach Zugabe, ohne dass es ihnen jemensch beigebracht hat? Wie setzen sich gesellschaftliche und kulturelle Normen in der DNA fest? Das ist spannend, wenn die Kinder zwischen 4 und 6 Jahren zum ersten Mal das Theater betreten, wissen sie eigentlich schon, was sie erwarten. Es ist als würden das Haus und die Geschichten, die hier erzählt werden, ständig auch ‚performen‘. Das Haus scheint Theatertraditionen reproduzieren, verstetigt eine Idee davon, wie eben Theater für Kinder zu sein hat.

Das erklärt sich für mich aus deiner Argumentation: Wenn das Theater eine verlässliche Institution ist, ein Haltepunkt in einer Gesellschaft im Wandel, dann wird es dieser Erwartung nur gerecht, wenn es Kontinuität gewährleistet.

STÜCKRAD: Wir brauchen Ritualisierungen. Und da spielt Theater eine ganz wichtige Rolle. Genauso wie die Kirche auf dem Markt, Museen …

MACHA: Mich interessiert die Wende von 1989/90 als Marker in der Geschichte. Sie hat gesellschaftliche Kontinuitäten abgebrochen. Für das Landestheater Eisenach bedeutete sie einen Systemwechsel, einen massiven Personalabbau, viele Veränderungen in der Belegschaft und eine langanhaltende Phase, in der Wandel ausschließlich Abbau bedeutete.

STÜCKRAD: Hier wurde oft der Begriff der Transformation verwendet. Dahinter stand, dass er einen Weg von A nach B, hin zu einem Ziel, zu einer neuen Form suggerierte. Eigentlich hat uns der Begriff sehr viel vorgegaukelt. Wir wissen nämlich nicht, in welche Form wir übertragen werden, wir müssen das offen halten. Insofern ist der Transformationsbegriff für mich auch tückisch. Man sollte immer kritisch damit umgehen und diskutieren, was genau mit Transformation gemeint ist. Die Ergründung der Nachwendezeit ist somit ein riesiges Thema für die Forschung. Die hat die Ostdeutschen und das Leben in Ostdeutschland genauso stark geprägt, wie das Leben in der DDR.

MACHA: Gerade für Kinder und Jugendliche müssen wir diese Geschichten der DDR und Nachwendezeit erzählen. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass wir heute auch oft auch von einer rückwärtsgewandten Bewegung sprechen, die nur das Schöne der DDR wiedergibt.

STÜCKRAD: Das hat mit Entfremdungsprozessen zu tun. Viele Menschen haben sich fremd im eigenen Land gefühlt, weil z. B. wesentliche Alltagsroutinen weggefallen sind. Das kippt dann oft in Nostalgie um. Aber wenn man mit den Menschen über Früher redet, kommen oft auch sehr schlimme Geschichten zum Vorschein. Viele Leute haben dabei keine Sprache, um ihre Verunsicherung zu kommunizieren. Wenn wir die Nachwendezeit intensiv künstlerisch und wissenschaftlich erkunden, dann kommt die Vielheit der Geschichten und Perspektiven zu Wort und auf die Bühne.

MACHA: Gibt es einen anderen Begriff, wenn wir nicht über Transformation sprechen möchten? Mir ist auch die Bezeichnung der ‚Vulnerabilität‘ in Bezug auf die Pandemielage aufgefallen. Was sagen Sie dazu, können wir den nutzen?

STÜCKRAD: Auch eher ein Modebegriff. Ich war schon in der Situation, dass Politiker*innen das Eisenacher Theater als vulnerabel bezeichnet haben. Da gehen bei mir alle Alarmglocken an, weil ich denke: Erstens ist das Theater nicht krank, zweitens: vulnerabel sind dabei vielleicht die Strukturen, die nicht zuverlässig funktionieren. Hier muss man aufpassen, ob man solche Begriffe weitläufig auf eine Gesellschaft übertragen kann.

MACHA: Ich versuche es mal konkret: Das Landestheater Eisenach hatte früher 350 Mitarbeiter*innen. Heute sind es 80. Und diese 80 Mitarbeiter*innen haben vor der Pandemie Theater für 55.000 bis 60.000 Zuschauer*innen gemacht. Viel Theater für wenig Geld.

Es ist wichtig, Lobby-Arbeit für den Osten zu leisten. Das können wir erreichen, indem wir vorleben, wie Stadtgesellschaften funktionieren können.

STÜCKRAD: Richtig. Viel Geld ist noch keine Garantie für große Kunst. Aber mit wenig Geld richtig gutes Theater zu machen, das ist eine Kunst. Dass Not erfinderisch macht, glaube ich dennoch nicht. Strukturen brauchen eine tragfähige Finanzierung, um als Arbeitsplätze und Institutionen zu funktionieren und die oben angesprochene Kontinuität für eine Stadtgesellschaft zu gewährleisten.

MACHA: Es geht ja nicht nur um Kontinuität, sondern auch um eine positive Idee von Veränderung: Durch die Einführung des Theaters für die Allerkleinsten gibt es jetzt eine große Hinwendung zu einer neuen Zielgruppe. Wir merken alle zusammen, dass da Vertrauen entsteht zwischen dem Theater und einem Publikum, das wir in einer vielfältigen Stadtgesellschaft bisher nicht so erreicht haben.

Junges Publikum und die Familien sind im Theateralltag wieder sehr präsent anwesend. Für das Theater für die Allerkleinsten waren viele zugezogene Familien da, die auch als Erwachsene zum ersten Mal im Landestheater waren. Da können wir auch noch Aufbauarbeit leisten und müssen Kontinuität erarbeiten Wir müssen auch für uns und unser Publikum beschreiben: Was heißt Junges Schauspiel hier in Eisenach?

STÜCKRAD: Zum Vergleich: Das Staatstheater Meiningen hat in der Nachwendezeit eine große Kontinuität erlebt. Die hatten zu Beginn 12 Jahre lang denselben Intendanten, der hinter dem Theater stand und es vorangebracht hat. In Eisenach gab es dagegen viele Leitungswechsel in den 1990er Jahren. So hat das Theater seit den 1990ern ein schwieriges Image als Einspartheater entwickelt. Diese Bilder müssen wir jetzt in den Köpfen wieder zurechtzurücken. Sonst werden wir immer wieder im Krisenmodus wahrgenommen. Das ist nicht nur ein Problem des Theaters, sondern ein ostdeutsches Problem. Der Bedarf nach Forschung führt auch zum Bedarf für neue Erzählungen und Bilder.

Die Chance liegt darin, ein echtes Stadttheater zu sein. Die Menschen sind da. Und auch, wenn sie vielleicht nicht so oft ins Theater gehen, wie man sich das wünscht, sind sie stolz auf ihr Theater. Diesen Stolz dürfen wir nicht enttäuschen. Wir brauchen Qualität. Das Publikum hat es verdient, absolut ernst genommen werden. Theater für junges Publikum kann wunderbar von Brüchen in Biografi en erzählen und Veränderung zum Thema machen.

MACHA: Es ist wichtig, Lobby-Arbeit für den Osten zu leisten. Das können wir erreichen, indem wir vorleben, wie Stadtgesellschaften funktionieren können. Ich finde z. B. wichtig, über den sogenannten Osten so zu erzählen, dass man erfährt, dass hier Gesellschaften entstehen, die miteinander ringen und streiten. Das fällt mir auch an Eisenach auf, dass es immer wieder Beispiele gibt, dass diese Stadt miteinander redet. Und auch die jungen Menschen sind hier extrem politisch interessiert, das ist ein gutes Feld für die Arbeit für sie. Kinder- und Jugendtheater kann mit seinem Publikum Fragen an die Zukunft stellen: Wie soll unsere Gesellschaft aus Alt und Jung, aus von Hier und von Da aussehen? Wie wollen wir miteinander leben? Was braucht es, dass es sich lohnt zu bleiben?

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Theater unser"
"Pledge and Play"