Theater der Zeit

Weiße Landschaft

von Tobias Rempe

Erschienen in: backstage: HÜBNER (01/2023)

Assoziationen: Sprechtheater Akteure Charly Hübner

Foto: Heike Blenk

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Ihr lacht wohl über den Träumer,
der Blumen im Winter sah?

WILHELM MÜLLER

 

Im Rückblick wenig verwunderlich ging es ganz am Anfang um Mecklenburg, als Charly Hübner im Sommer 2017 überraschend beim Ensemble Resonanz anrief. Es war ein klassischer Cold Call, wir wussten zwar voneinander, aus der engen Verbindung des Ensembles zum Hamburger Schauspielhaus, einen direkten Kontakt aber hatte es noch nicht gegeben. Er habe eine Carte Blanche für die Entwicklung eines Konzertprojektes in Rostock, das die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern dort in den Rahmen der Feierlichkeiten zum Achthundertsten der Stadt setzen wollten. Ob wir dabei seien. Natürlich wollten wir, aber worum solle es denn gehen? „Weißes Blatt Papier, wir können was ganz Eigenes entwickeln“, war die sehr schöne, aber auch ein bisschen gefährlich klingende Antwort.

Gefährlich in meinen Ohren, weil auf einem weißen Blatt Papier nicht immer unbedingt schnell – oder überhaupt – Zusammenhängendes entstehen muss. Aber schön, weil das Ensemble bereits zuvor die Erfahrung gemacht und immer wieder gesucht hatte, wie in so einer offenen und riskanten Arbeitsweise die Chance wächst, etwas zu entdecken. mercy seat – winterreise und die Zusammenarbeit mit Charly wurden in dieser Hinsicht für uns zu einem Signature-Move und stetigen Begleiter, zur – in seinen Worten – „totalen Entwicklung“. Mit inzwischen mehr als zwanzig Vorstellungen, einer Studioproduktion und zahlreichen Seiten- und Folgeprojekten bleibt unsere Zusammenarbeit bis heute in Bewegung und kommt mehr und mehr den organischen Bildern nahe, mit denen Charly sie schon früh beschrieben hat. Als „schöne, garstige Pflanze“, die längst ein Eigenleben entwickelt, oder als rätselhaftes Hybrid-Lebewesen: „Hat zwar vier Augen und achtzehn Beine, aber: geiles Tier“.

Dabei ging es auf den ersten Metern sehr schnell mit der Entwicklung. Unserem Telefonat im Sommer 2017 folgte ein erstes Treffen in einem Salzburger Hotel. Charly erschien im Friesennerz und kam gleich auf Nick Cave zu sprechen und die Streicher, die er sich in dessen schuld- und zweifelbeladenen Songwelten immer vorgestellt hat. Über Schuld und Verzweiflung waren wir dann schnell auch zu Schubert und der Winterreise und der Idee einer Verknüpfung gekommen. Auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, zu singen, kam als Antwort: „Klar. Mal gucken.“

Singen. Die Frage, ob er das kann und wenn ja, wie, hat uns begleitet und wurde wichtig für das, was mercy seat – winterreise geworden ist. Vieles auf seinem Weg zur Aneignung der Lieder war erstaunlich. Etwa mein starkes Gefühl des Vertrauens in ihn, unbegründet eigentlich, ich wusste nichts von Charly Hübner als Sänger. Noch mehr aber erstaunte mich sein eigenes Selbstvertrauen, seine Furchtlosigkeit und die nie nachlassende Neugier, sich aus immer wieder neuen Perspektiven den Schubertschen Melodien zu nähern – und den großartigen Winterreise-Liedtexten von Wilhelm Müller, die schließlich zum Ausgangspunkt seiner Interpretation wurden. Es entstand etwas Einzigartiges. Eine radikal vom Text abgeleitete Direktheit im Ausdruck, eine Ungeschliffenheit, die sicher manchen Puristen herausfordert, aber die Lieder auch von einer gewissen kunstgesanglichen Überspanntheit befreit und sie theatral zugänglich macht. Und die eine ganz eigene, berührende und wiederum äußerst musikalische Schönheit offenbart.

Die Texte der Lieder von Cave und Schubert waren es auch, aus denen Charly in intensiver, immer wieder sich selbst redigierender Auseinandersetzung die Erzählung des Abends herausschnitzte. Aus dem lyrischen Ich der Winterreise und zwei Täterfiguren von Nick Cave lässt er einen neuen Protagonisten entstehen. Etwas selbstmitleidig und mit einem trotzigen Lonely-wolf-Pathos kommt dieser anfangs daher, dann merkt man irgendwann: Nicht ohne Grund hat die Welt sich von ihm abgewendet, er hat etwas Schlimmes getan. Für die Konfrontation mit der eigenen Schuld muss er dann schmerzhafte Umwege gehen. Aus diesem Kampf entwickelt sich der ganze Abend. Erzählt wird die Geschichte fast nur durch die Ausdeutung und Verschränkung der ausgewählten Songs, in fantastisch ausgearbeiteten musikalischen Szenen des Komponisten Tobias Schwencke für Streichorchester und Jazz-Trio. Die Art und Weise, wie dabei die Lieder zu Landschaften werden und deren Bewohner und Atmosphären zum Bühnenbild einer neuen Erzählung, das haben wir irgendwann einmal auch als Séance bezeichnet, als Geisterbeschwörung.

Dabei blieb die Befragung und Entwicklung des Materials stets politisch. Wilhelm Müllers Texte waren einst verboten, das hatte Charly immer im Kopf, und damit natürlich die Fragen: Was erzählte der damals eigentlich wirklich? Und was sagt er uns heute? Diese Haltung ist dem Ensemble Resonanz sehr nahe, das dem Anspruch folgt, Musik als zeitgenössische Kunst zu präsentieren, auch und gerade das ältere Repertoire. Fragen an die Werke sind die Grundlage solch einer Arbeit. Und Charly fragt nonstop, ist immer an.

So erarbeitet er sich seinen eigenen Zugriff, bleibt bei der Sache und findet Worte, Ausdrucksweisen und Projekte ohne die Navigationshilfe etablierter Koordinaten und ästhetischer oder sprachlicher Formeln. Das hat etwas maximal Sympathisches, Uneitles, es spricht und vermittelt sich quer durch jegliches Publikum, vor allem aber gewinnt es Stärke und berührt. Der Ausgang bleibt immer offen bei dieser Arbeitsweise, man ist im Flow oder im Prozess, auf jeden Fall in Bewegung. Wie in Charlys eigenen Worten aus dem Elbphilharmonie-Programmheft von mercy seat – winterreise im Herbst 2018: „Ich hab hier meinen kleinen Werkzeugkoffer mit schauspielerischen Gesten und so, aber der Rest ist weiße Landschaft.“

TOBIAS REMPE, geboren 1971, aufgewachsen in Nürnberg. Violinstudium. Mitbegründer des Ensemble Resonanz, dem er bis 2007 als Geiger angehörte. Seit 2008 Künstlerischer Manager des Ensembles. Entwickelte mit dem Ensemble u. a. dessen Rolle als Residenzensemble an der Elbphilharmonie Hamburg und die Plattform resonanz.digital. Produzierte mit dem Label resonanzraum records u. a. weihnachtsoratorium und mercy seat. Erster Vorsitzender des Vereins Freie Ensembles und Orchester in Deutschland (FREO).

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