Magazin
Karneval des Denkens
Zum Tod des Berliner Theaterwissenschaftlers Helmar Schramm
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Theater der Zeit: Tilmann Köhler und Miriam Tscholl: Montagswirklichkeit Dresden (11/2015)
Ende September ist der Theaterwissenschaftler Helmar Schramm nach langwierigem Ringen mit einem bösartigen Tumor verstorben. Helmar hat sich als einer der ersten, und bedeutendsten, Theaterforscher im deutschsprachigen Raum mit den theatralen Dimensionen soziokultureller Realitäten höchst kreativ auseinandergesetzt. Als Hochschullehrer ermutigte er mit seinem forscherischfragenden, innovativ be-zweifelnden Engagement mehrere Studentengenerationen zum produktiven kritischen Denken und Handeln, seit 1998 an der Freien Universität Berlin.
Ausgangspunkt war seine maßgebliche Beteiligung in einer kleinen Arbeitsgruppe der Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, die seit Ende der 1970er, von der dialektisch-materialistischen Beschäftigung mit Theaterkunst ausgehend, die Theatralität gesellschaftlicher Prozesse kritisch zu mustern suchte. Einer der nicht wenigen Gründe/Anstöße/Phänomene, der zu diesem Forschungsinteresse geführt hatte, war des Sozialund Kulturhistorikers E. P. Thompsons Deutung des wesentlich theatralen Charakters der Auseinandersetzungen zwischen der Gentry und den Unterschichten und des Zurückdrängens der traditionellen „moralischen Ökonomie“ durch die sich entfaltende kapitalistische freie Marktwirtschaft im England des 18. Jahrhunderts. Helmars spezifisches Interesse an dem Phänomen „gesellschaftliche Theatralität“ richtete sich zunächst auf Prozesse im frühen neuzeitlichen Europa. Seine umfangreiche und gleichsam systematische Lektüre der modernen Philosophen und Naturwissenschaftler mit dem Fokus auf das produktive Begreifen und zugleich das praktische Meistern der sich seit dem 16. Jahrhundert verändernden Welt führte zu seinen ersten...