Wer sich mit Realismus als einer künstlerischen Haltung beschäftigt, handhabt einen Begriff von beträchtlicher Tiefendimension. Diese reicht bis zu dem Realienstreit des frühen Mittelalters, als die Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zu dem Allgemeinen zu einem philosophischen Prinzipienstreit wurde. Das Kuriose daran war, dass die Realisten Nominalisten hießen und die Abstraktionisten sich Realisten nannten. Die, welche auf dem Vorrang des einzelnen Gegenstands bestanden, wurden als Nominalisten bezeichnet und die, welche an die Wirklichkeit von Gattungsbegriffen glaubten, als Realisten; die Bedeutung dieser Termini hat sich, wenn wir vom sozialistischen Realismus einmal absehen, im Lauf der Jahrhunderte umgekehrt.
Noch nicht lange ist Realismus ein ästhetischer Begriff; er ist als solcher ein relativ neues Phänomen. Das hat zu Zeiten der Weimarer Klassik eingesetzt, als ein Romantiker, Friedrich Schlegel, Realismus zum ersten Mal als ästhetischen Begriff verwendete; Schiller ist ihm darin gefolgt. Durch den europäischen Roman hat sich dieser ästhetische Realismusbegriff um die Mitte des 19. Jahrhunderts eingebürgert, daneben war und ist Realismus ein erkenntnistheoretischer Begriff; als solches bezeichnet er eine Position, die die Wirklichkeit der Dinge um uns und außer uns voraussetzt, eine Wirklichkeit, die dem erkenntnistheoretischen Idealismus als fraglich, jedenfalls unergründlich erscheint. Das ist eine Frage, die auch den ästhetischen Realismusbegriff...