Theater der Zeit

Auftritt

Theater Oberhausen: Frauenschicksale und ein Massaker

„Kazimira“ von Svenja Leiber in einer Fassung von Krystyn Tuschhoff und Saskia Zinnser-Krys – Regie Krystyn Tuschhoff, Bühne und Kostüme Anike Sedello, Musikalische Leitung, Musik und Sound Clemens Giebel, Choreografie Alessandra Corti

von Stefan Keim

Assoziationen: Theaterkritiken Nordrhein-Westfalen Theater Oberhausen

Anke Fonferek in „Kazimira“ in der Regie von Krystyn Tuschhoff, Bühne und Kostüme Anike Sedello. Foto Lukas Diller
Anke Fonferek in „Kazimira“ in der Regie von Krystyn Tuschhoff, Bühne und Kostüme Anike SedelloFoto: Lukas Diller

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Hinweis: Der Text beschreibt (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen und Hinrichtungen im Holocaust als Teil der Inszenierung

Kazimira hat keine Familie, nur ihren Mann Antas, einen begabten Bernsteinschnitzer. Sie will kein Kind, wird aber schwanger. Antas entdeckt, dass es Bernstein im Boden gibt. Er macht den jüdischen Unternehmer Hirschberg darauf aufmerksam. Damit beginnt in den 1870er-Jahren eine große wirtschaftliche Erfolgsgeschichte in der Abgeschiedenheit am Baltischen Meer.

Doch darum geht es Svenja Leiber nicht. Sie hat einen Roman über selbstbewusste Frauen geschrieben. Als der Bernstein-Bergbau kommt, will Kazimira in der Grube arbeiten wie ein Mann, nicht nur Hausfrau und Mutter sein. Später schneidet sie sich die Haare ab und verliebt sich in eine andere Frau. Doch der Ehemann ihrer Geliebten erwischt die beiden, verprügelt und vergewaltigt seine Gattin. Der Weg zur Gleichberechtigung ist extrem hart, zumal auch noch ein schwelender Antisemitismus dazu kommt. Der führt dazu, dass das Ehepaar Hirschberg nach einigen Jahren die Grube verkauft.

Die Geschichte geht über 150 Jahre hinweg und erzählt von fünf Generationen. Kazimira erlebt zwei Weltkriege und die letzte Massenhinrichtung des Zweiten Weltkriegs. Ende Januar 1945 zwingt die SS 3000 jüdische Frauen und Kinder ins eiskalte Meer zu gehen. Wer nicht ertrinkt, wird erschossen. Ein harter und komplexer Stoff, für den Autorin Svenja Leiber eine klare und wuchtige Sprache findet.

Die Regisseurin Krystyn Tuschhoff lässt es ruhig angehen, obwohl sie eine Menge zu erzählen hat. Mit Musik und kurzen Choreografien schafft sie Atmosphäre. Anike Sedellos Bühne zeigt einen riesigen abgestürzten Kronleuchter, der überraschende Metamorphosen durchmacht. Je nachdem wie er bespielt wird, sieht er wie ein Bohrer oder eine Maschine aus, das Ensemble klettert auf ihn, dann wirkt er wie eine Behausung.  Dennoch wird es auch ein wenig mühsam, wenn in dreieinhalb Stunden die ganze komplizierte Generationengeschichte aufgefächert wird. Krystyn Tuschhoff scheint ein großes Gesellschaftspanorama im Sinn zu haben und will zumindest jeder Frauenfigur Vielschichtigkeit verleihen. Vor allem Anke Fonferek gelingt eine überzeugende Leistung als schroffe und kämpferische Kazimira. Die Männer werden eher grob skizziert und bleiben meist Klischees. Die vielen, auf das gesamte Ensemble verteilten Erzähltexte ermöglichen eine Menge Perspektivwechsel, bremsen aber auch das Spiel und die Emotionalität.

An dieser Premiere wird das Problem vieler der gerade extrem beliebten Literaturbearbeitungen auf der Bühne sichtbar. Bei aller Mühe erreichen sie selten die Komplexität des Romans. Wenn die Regisseurinnen und Regisseure mit dem Material nicht frei umgehen und ihre eigenen Erzählungen schaffen, wirken Inszenierungen schnell ein bisschen hölzern, brav und nachbuchstabiert. Vor allem, wenn die Vorlagen so reichhaltig sind wie „Kazimira“. Es ist ohne Frage eine große Leistung des Theaters Oberhausen, diesen Roman überhaupt bewältigt zu haben. Aber vielleicht wäre es dennoch eine gute Idee, aus Theatern – wie es gerade vielerorts passiert – keine Bibliotheken zu machen. Und Dramatikerinnen und Dramatiker zu ermutigen, auch mal wieder Theaterstücke mit epischen Stoffen zu wagen.

Erschienen am 21.1.2025

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