Buchrezension
Eine Fundgrube
Zum 125. Geburtstag erscheinen erstmals die gesammelten Interviews mit Bertolt Brecht
von Thomas Irmer
Erschienen in: Theater der Zeit: Tarife & Theater – Warum wir das Theater brauchen (02/2023)
Assoziationen: Buchrezensionen Dossier: Bertolt Brecht
Mit diesem Band wird eine bemerkenswerte Lücke geschlossen, denn – man sollte es kaum glauben – eine systematische und mit Kommentaren aufbereitete Ausgabe der Interviews und Gespräche mit Brecht gab es bislang nicht, sieht man einmal von der von Werner Hecht herausgegebenen schmalen Auswahl „Brecht im Gespräch“ ab (Suhrkamp 1975, Henschelverlag 1977).
Dass dies zu „den Rätseln seiner Rezeptionsgeschichte“ gehört, darüber stellt der Herausgeber Noah Willumsen einige interessante Vermutungen an. Die insgesamt 91 Gespräche erschienen in 15 Ländern in elf verschiedenen Sprachen, also mit einer ungeheuer großen Streuung. Zum Zweiten galt Brecht als wenig auskunftsfreudig und keinesfalls jeder Art von Presse und Rundfunk zugewandt, sodass der Eindruck einer eher dürftigen Materiallage entstand. Maßgebliche Rundfunkgespräche der späten 1920er Jahre (mit Herbert Ihering) und die Gruppendiskussionen am Berliner Ensemble der 1950er waren indes, wie in „Brecht im Gespräch“, längst fester Bestandteil der theoretischen Erörterungen in entsprechenden Publikationen.
Noah Willumsen hat sich im Rahmen seiner Dissertation zu den Interviews mit Heiner Müller ausgiebig mit deren Strategien von Öffentlichkeit beschäftigt, und diese Kenntnisse bringt er bei der medienhistorischen Einordnung und Kommentierung der Interviews mit Gewinn ein. Stets wird der/die Gesprächspartner:in mit ihrem Schaffen und der Positionierung des jeweiligen Mediums vorgestellt, Fußnoten erläutern dazu zeit- und werkgeschichtliche Zusammenhänge. Ein großer Teil der im nicht-deutschsprachigen Ausland erschienenen Artikel wurde ins Deutsche übersetzt, da sie zwar Brechts Äußerungen wiedergeben, sich diese aber nur in den seltensten Fällen erhalten haben, auch wenn die Gespräche meist auf Deutsch geführt wurden.
Und so kommt noch etwas Drittes zur Bedeutung dieser Interviews ins Spiel. Denn weder in der Form noch in der Art ihrer Entstehung gleichen sie dem, was man heute unter einem Print-Interview versteht und meist aus einer Tonaufzeichnung mit anschließender Verschriftlichung und Autorisierung oder Nachbearbeitung entsteht. Streng genommen sind die meisten dieser Brecht-Interviews Berichte von einer Begegnung mit ihm und darin enthaltenen, freilich kaum überprüfbaren Äußerungen. Insofern ähneln viele, insbesondere die frühen und die fürs Ausland entstandenen Texte mit O-Tönen erweiterten Porträts. Was das Phänomen nicht weniger interessant macht.
Brecht verband diese Interviewbegegnungen mit verschiedenen Absichten. Zum einen ist klar, dass jeder Artikel für ihn eine Art Botenfunktion für seine Ansichten hat, manchmal sogar für seine Absichten, wie etwa das Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki 1952, das er ganz strategisch für Gastspiele in Polen einsetzte. Andererseits stellte er zum Problem des Interviews auch fest: „… merkwürdig, was man da so alles über sich erfährt“.
Viele Gespräche waren politisch brisant für Brecht als Emigrant, vor allem während des Krieges und auch noch danach, in der Schweiz und der frühen BRD. Das kurioseste „Interview“ fand leider nicht mehr statt. FBI-Chef Hoover gab die Anweisung, Brecht zu interviewen, um Material für seine Ausweisung zu sammeln. Doch Brecht hatte die USA schon verlassen, wovon diese Behörde für Sonderermittlungen offenbar nichts mitgekriegt hatte.
Bertolt Brecht: „Unsere Hoffnung heute ist die Krise“. Interviews 1926–56, hrsg. von Noah Willumsen, Suhrkamp, Berlin 2023, 754 S., € 35