Thema
Das Spiel mit stehen gebliebener Flüssigkeit
Über den Einsatz von Marionetten aus Glas bei Wael Shawky und dem Puppentheater Ljubljana
Figurentheater mit Glasmarionetten? Eine Seltenheit. Warum entscheiden sich Künstler*innen, mit diesem Material zu arbeiten und welche Herausforderungen gibt es beim Spiel? Für double sprach Annika Gloystein mit Tobias Weishaupt, der 2014 am Film „The Secrets of Karbala“, dem dritten Teil von Wael Shawkys „Cabaret Crusades“, als Puppenspieler mitwirkte sowie mit Martina Mauric Lazar vom Puppentheater Ljubljana, die 2019 für die Theaterproduktion „Moc / The Power“ ebenfalls mit Glasmarionetten arbeitete.
von Annika Gloystein
Erschienen in: double 45: An die Substanz – Material im Figurentheater (04/2022)
Assoziationen: Europa Puppen-, Figuren- & Objekttheater Dossier: Material im Figurentheater
Die Vereinten Nationen haben 2022 zum „Internationalen Jahr des Glases“ ausgerufen. Dieses Material ist so omnipräsent, dass es vielleicht gerade deshalb ein besonderes Bewusstsein braucht, um dessen Bedeutung im täglichen Leben zu schärfen. Der Glaschemiker Lothar Wondraczek, Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und deutscher Vertreter im internationalen Lenkungskreis für das UN-Jahr des Glases, beschreibt Glas aufgrund seiner atomaren Struktur als „Unordnung“: „Wir nehmen Glas als feste Struktur wahr und trotzdem hat Glas ganz viele Eigenschaften einer Flüssigkeit.“ So könne man Glas auch als „stehen gebliebene Flüssigkeit“ verstehen, da die Atome die Anordnung einer Flüssigkeit, nicht die eines normalen Feststoffes hätten.1
Auch ohne chemische Kenntnisse macht diese schon fast poetische Beschreibung deutlich, dass es sich um ein besonderes Material handelt, bei dem man vermutlich eher nicht an Marionetten denkt. Vielleicht kommt einem aber Venedig mit seinem berühmten Murano-Glas in den Sinn; und aus eben jenem wurden die Marionetten für den Film „The Secrets of Karbala“ angefertigt.
SCHWER UND FRAGIL
Der ägyptische Künstler Wael Shawky hat in seiner „Cabaret Crusades“-Trilogie die Geschichte der Kreuzzüge aus arabischer Sicht als verfilmtes Marionettentheater dargestellt. Der erste Teil („The Horror Show File“, 2010) entstand mit historischen Holzmarionetten in Italien, der zweite Teil („The Path to Cairo“, 2012) in Frankreich mit Marionetten aus Keramik, die Glasaugen hatten. Shawky war von dem Glas so fasziniert, dass er den dritten Teil unbedingt mit Glasmarionetten machen wollte. Nach weltweiten Recherchen ließ er im venezianischen Murano die Figuren nach seinen Vorlagen anfertigen. Schließlich wurden sie in Frankreich zusammengebaut und kamen im Oktober 2014 im Düsseldorfer Museum K20 der Kunstsammlung NRW zum Einsatz. Als Teil der Ausstellung
„Wael Shawky: Cabaret Crusades“ wurde ein Bereich des Museums zum Filmstudio und die Besucher*innen konnten die fünfwöchige Produktion durch eine Glasscheibe verfolgen. 13 Puppenspieler*innen waren an der Produktion beteiligt; einer von ihnen war Tobias Weishaupt, damals freischaffend und neugierig auf dieses ungewöhnliche Projekt. Die erste Begegnung mit den Marionetten „war total faszinierend. Von der Gestaltung her fand ich sie sehr ansprechend, weil sie wie aus einem Fantasyfilm kamen: teilweise nichts Menschliches, teilweise ins Tierische gezogen. Die Glasmarionetten waren wahnsinnig schwer, teilweise bis zu 50 Zentimeter hoch und dadurch, dass sie an langen Fäden hingen, war das schon eine sehr harte körperliche Arbeit. Man musste aufpassen, trotz des langen Pendelwegs, ein Aufeinanderstoßen zu vermeiden. Das empfand ich schon als großen Kontrast: auf der einen Seite das Schwere, auf der anderen Seite das Fragile.“
Die Spieler*innen führten die Figuren, die auf zwei Meter Länge geschnürt waren, von der Marionettenbrücke aus. Über einen Monitor konnten sie sehen, ob die Mechanik über den langen Zug funktionierte. Der vorproduzierte Ton – der Film ist auf Arabisch mit englischen Untertiteln – kam während des Drehs aus einem Lautsprecher, um bei den vielen Sprech- und Gesangsszenen die Klappmäuler der Marionetten exakt zu bewegen. Zur Vorbereitung gehörten inhaltliche Einführungen in die Handlung durch Wael Shawky, damit die Spieler*innen wussten, worum es im nächsten Dialog ging. Die Hauptcharaktere waren mit Mechanik für Mund und Augen ausgestattet. Gerade bei den Nahaufnahmen wurde sehr präzise gearbeitet, um ein synchrones Ergebnis zu erreichen. „Es wurde viel gefeilt, das war viel Fleiß und Kleinarbeit. Wie ein Erholungsmoment war es, wenn es dann hieß: Heute wird das Fest gedreht oder es gibt eine Szene mit Musik. Da haben sich immer alle drauf gefreut, weil man die Figuren auch mal in der Improvisation führen konnte. Es musste nicht so naturalistisch sein. Wir konnten mehr mit dem Pendel der Figur spielen und es war nicht so schlimm, wenn sie mal kurz abgehoben sind im Tanz. Da hat sich dann auch noch mal mehr Spielfreude hergestellt.“
Das Gehen der Marionetten gestaltete sich schwieriger: der Kopf schwer durch die Mechanik, der Hals dünn, im unteren Bereich fehlte Gewicht. Den kopflastigen Marionetten waren damit nur Trippelschritte möglich. Doch es brauchte nicht unbedingt Bewegung, um sie lebendig wirken zu lassen. „Durch die Spiegelungen des Lichts sind sie lebendig geworden. Ich fand es spannend zu beobachten, wie sie richtig raumgreifend wurden.“
Während ein Teil der Spieler*innen drehte, konnten die anderen auf einer weiteren Brücke proben und sich mit den Figuren vertraut machen – es waren immerhin 180 verschiedene. Natürlich gab es auch Favoriten: „Es gab ein Kamel, das zu zweit gespielt werden musste. Einer, der den Körper führte, und der andere den Kopf. Es gab kleine Glieder am Hals, damit es den Kopf in alle Richtungen schwenken konnten. Das wollten immer alle spielen. Durch die Vielzahl an Figuren gab es jeden Tag was Neues.“
Gingen bei Zusammenstößen Teile kaputt, wurden sie gleich vor Ort repariert. Für die Hauptcharaktere waren aus Murano mehrere Ersatzteile der feingliedrigen Arme und Beine mitgeliefert worden. Laut Weishaupt erhöhte sich die Konzentration des Spiels nochmals, wenn das letzte verbliebene Teil zum Einsatz kam. Durften die Marionetten während der Filmproduktion noch Gebrauchsspuren davontragen, wandelte sich danach ihr Wert: „Als wir sie bespielt haben, wurden sie nur als Requisiten versichert und nachdem es abgespielt war, wurden sie verpackt und es wurden Kunstwerke.“ Nach ihrem Düsseldorfer Einsatz gingen die Marionetten direkt zur Ausstellung ins New Yorker MoMA, 2016 ins Kunsthaus Bregenz. Einige erzielten auf dem Kunstmarkt mittlere fünfstellige Beträge. Das Glasmarionetten-Ensemble in seiner Gänze gibt es nur im zweistündigen Film zu bewundern.
NATÜRLICH ZERBRECHLICH
Martina Mauric Lazar vom Puppentheater Ljubljana kannte Shawkys Arbeit nicht, als sie 2019, zusammen mit ihrem Kollegen Jirí Zeman, die einstündige Theaterproduktion „Moc / The Power“ kreierte. Beide zeichneten gemeinsam für Autorschaft, Regie und Spiel verantwortlich. Lazar und Zeman hatten zwar noch nicht mit Glas gearbeitet, doch die Faszination dafür war groß und schließlich ergab sich die Materialauswahl aus dem titelgebenden Thema: Sie interessierten sich für das Verhältnis von Macht und Schwäche bei Personen in Entscheidungsfunktionen und landeten schnell bei Glas. „Stark und doch fragil, faszinierend aber zerbrechlich und vor allem lichtdurchlässig“, beschreibt es Lazar. „Durch Glas schauen, etwas von außen aus einer anderen Perspektive sehen als von innen, etwas vergrößert und verkleinert sehen. All dies deckte sich mit unseren Überlegungen zum Thema.“
Die Marionetten und alle anderen Glasobjekte wurden vom slowenischen Puppenbauer und Bühnenbildner Gregor Lorenci hergestellt, der auch keine Erfahrung mit Glas hatte, aber dafür großen Spaß am Experimentieren. Viele Informationen kamen aus der Tschechischen Republik, wo Jirí Zeman herstammt und es eine große Tradition der Glasherstellung gibt. Lazar und Zeman agieren auf der Bühne in offener Spielweise mit den Glasobjekten – Marionetten, Schmuck, Spiegel. Es gibt Musik, aber keine Sprache. Als „ein sehr emotionales Material“ bezeichnet Lazar das Glas. „Prächtig und doch widersprüchlich in seiner Anziehungskraft. Wir bewundern es und wir wollen es, auch wenn es uns abkühlt, uns frösteln lässt. Wir nehmen es mit Respekt, mit Angst in die Hand, und dann fühlen wir uns mit ihm feierlicher, erhabener, in Kontakt mit etwas Wichtigerem und Besonderem, Exquisitem. All diese Emotionen sind bei der Belebung unserer Glasfiguren vorhanden. Jede Aufführung ist ein Fest des intimen Theaters zwischen Jirí, mir und dem Publikum. Es besteht immer die Gefahr, dass eines der Stücke zerbricht. Wir alle wissen und spüren das; das macht unser Theatererlebnis sehr präsent.“
Die Fragilität schärft nicht nur die Sinne der Beteiligten, sie schreibt sich auch in die Aufführungen ein. Zu wissen, dass das Glas zerbrechen kann, ist das eine, der Umgang mit dem tatsächlich Zerbrochenen das andere. Auch bei „Moc / The Power“ gingen schon Objekte kaputt. Zwar nie so wesentlich, dass nicht zu Ende gespielt werden konnte, „aber es war anders, und es gab der ganzen Show eine neue Bedeutung. Wir mussten einige Stücke im Nachhinein reparieren, aber wir haben auch mit anderen so weitergespielt.“ Da die Inszenierung noch zum Repertoire des Theaters gehört, muss sich das Kaputtgehen natürlich in Grenzen halten.
Tobias Weishaupt und Martina Mauric Lazar betonen die Einzigartigkeit ihrer Erfahrungen mit dem Material. Es waren ihre bisher einzigen Begegnungen mit Glas im Figurentheater. Ob im Jahr des Glases das Figurentheater das Material nun mehr für sich entdeckt, bleibt abzuwarten.
www.tobiasweishaupt.de
www.kunstsammlung.de
www.lgl.si/en
1 Sendung von Deutschlandfunk Kultur vom 22.01.2022: Internationales Jahr der (sic!) Glases – Eine stehen gebliebene Flüssigkeit. Online unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-glaeserne-welt-2022-wird-der-werkstoff-glas-gefeiert-dlf-kultur-9e127dce-100.html [zuletzt abgerufen am 13.02.2022].