Theater der Zeit

5 Soziale Emotionen in den Probenprozessen

5.4 Zur Forschungsmethode der Emotionen im Regietheater der Gegenwart an Beispielen der drei besuchten Berliner Theaterhäuser

von Viktoria Volkova

Erschienen in: Recherchen 152: Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen – Probenarbeit von Dimiter Gotscheff, Thomas Langhoff und Thomas Ostermeier (12/2019)

Assoziationen: Regie Schaubühne am Lehniner Platz Deutsches Theater (Berlin) Berliner Ensemble

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Jeder Regisseur gibt den Schauspielern seine Vorschriften und Anweisungen, und die Akteure sollen dazu imstande sein, diese Regieanweisungen dank ihrer langjährigen Ausbildung, ihrer erworbenen Kunstfertigkeit, ihrer eingeübten Anpassungsfähigkeit und natürlich dank ihrer persönlichen Begabung professionell einzusetzen. Ob sie dabei ihre persönlichen Gefühle und Empfindungen einsetzen oder diese in Form von »emotionalen Erinnerungen« bzw. unmittelbar im Prozess der Handlung verwenden, bleibt grundsätzlich im Ermessen jedes einzelnen Schauspielers: Jeder entscheidet für sich selbst, was für ihn günstiger ist. (Auch die Geschichte der Schauspielmethoden und -praktiken ist, wie ich schon gezeigt habe, reich genug an verschiedensten Beispielen.)

Das, wovon die Probenprozesse an drei der führenden Berliner Theater sowie die Interviews mit den daran beteiligten Schauspielern zeugen, lässt mich eher über das eingeübte Vermögen der deutschen Schauspieler sprechen, ihre ganze Kraft – sowohl physisch als auch mental und emotional – auf die Zusammenarbeit268 an jeder winzigen Bewegung und Geste, an jeder kleinsten mise-en-scène zu konzentrieren und diese mächtige Kraft – verglichen mit einem abisolierten Draht, der nur vorsichtig anzufassen und gekonnt von einem Spezialisten zu behandeln ist – im gemeinsamen Entdeckungs- bzw. Auslotungsprozess der Szene, der Figur und des Raums einzusetzen. An dieser Kraft sparen die Schauspieler nicht, sie schonen sich nicht und öffnen in den Proben alle ihre Kanäle, die diese innere Kraft ausstrahlen. Meines Erachtens war es gerade diese innere Kraft, die Erika Summers-Effler als emotionale Energie – »a positive feeling of enthusiasm, confidence, and a willingness to initiate interaction«269 – bezeichnete. Das, was sich mir in allen drei Probenprozessen offenbart hat, sind nicht (nur) die individuellen Gefühle der Schauspieler, die die szenischen Emotionen auslösten, sondern es war die emotionale Energie – dieser Enthusiasmus, dieses erhabene positive Gefühl der Bereitschaft, sich körperlich, geistig und emotional dem Geschehenen zu öffnen –, die zur Freisetzung der szenischen Emotionen beitrug. Und war das, was ich am Deutschen Theater, Berliner Ensemble und der Schaubühne gesehen und miterlebt habe, in der Terminologie von Stanislawski, ein »Handwerk« statt ein »Prozess des Erlebens«? Vielleicht. Aber angesichts der Probenbedingungen des zeitgenössischen Regietheaters ist es eher als eine positive Antwort zu betrachten. Denn in der manchmal äußerst knappen Probenzeit, bei der zeitlichen und oft auch physischen Überlastung der Schauspieler, ihrer Beteiligung an mehreren Projekten zugleich etc., ist eine solche »handwerkliche« Herangehensweise oft der einzige Weg für sie, ihre berufliche Tätigkeit qualitativ auszuführen. Außerdem fordert dieses »Handwerk« (in der Ausdrucksweise von Stanislawski) einen enormen Energieaufwand, und diese emotionale Energie investieren die Schauspieler in die Entfaltung ihrer Kunstfiguren in vollem Maß.

Als Forschungsmethode der Emotionen im zeitgenössischen Regietheater schlage ich vor, jede im Probenprozess verlaufende Etappe der Gestaltung der Kunstfigur auf emotionale, sich dauernd verändernde Ausprägungen Letzterer zu »scannen«. So hatte ich in Kapitel 5.2 vorweggenommen, dass ich die Mechanismen der Gestaltung einer Kunstfigur im Probenprozess sowie die Art und Weise der Herstellung von emotionalen Beziehungen zwischen den Figuren als soziale Emotionen bezeichnen werde. Dabei habe ich auch angemerkt, dass je nach wissenschaftlicher Ausrichtung zahlreiche Klassifikationen von Emotionen existieren und dass unterschiedliche Forscher je nach Richtung der Untersuchung bis zu 72 Komponenten der Emotionen herausstellen. Heute geht man entsprechend bei einer wissenschaftlichen Untersuchung von einem Mehrkomponentenmodell270 der Emotionen aus. Für die vorliegende Studie sind meines Erachtens sechs Komponenten des Emotionsmodells hervorzuheben, die den sich im Lauf des Probenprozesses ständig ändernden Bedingungen für die Ausprägung von Emotionen gerecht werden:

1.physiologische Veränderungen des Spielers, falls vorhanden (z. B. Schweißausbruch, Errötung, motorische Unruhe etc.);

2.performative Handlungen des Spielers (mimischer, gestischer Ausdruck, Körperhaltung etc.);

3.Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler (es wird empirisch beschrieben, wie sich aus dem ritualisierten Zusammenwirken des Regisseurs und des Spielers die Emotion der Kunstfigur entwickelt);

4.intentionales Objekt – ein jeweiliger Gegenstand, auf den sich die Emotion der Figur bezieht;

5.subjektives Erleben des Darstellers (wie es »ist«, in einem bestimmten emotionalen Zustand zu sein – dies wird aus den Interaktionsprozessen oder aus dem Interview erkennbar);

6.mit diesem Erleben verbundene Gedankeninhalte, die auch aus den Interaktionsprozessen oder Interviews zu erkennen sind.

Wie in Kapitel 5.2 schon erwähnt wurde, geht es in der vorliegenden Studie um die sozialen Emotionen Liebe, Stolz, Eifersucht, Verachtung, die kraft der Interaktionen der Künstler, ihrer Beziehungen, Wechselwirkungen, Behandlung der Textfassungen, Improvisationen usw. in den in Kapitel 5.1.2 beschriebenen Probensituationen betitelt wurden. Im nächsten Kapitel wird die Analyse der genannten sozialen Emotionen in den Probensituationen am DT (2010), BE (2011) und der Schaubühne (2012) präsentiert.

268Um an dieser Stelle wieder an die deutsche Regietradition anzuknüpfen, lässt sich eine Aussage Brechts über die Wichtigkeit des Zusammenspiels im Inszenierungsprozess zitieren: »Die Rolle kann einzeln erarbeitet werden, aber nicht so, daß sie dann endgültig fixiert ist. Die Hauptarbeit geschieht beim Zusammenspiel. Danach hat sich alles wieder zu ändern.« (Bertolt Brecht: Schriften 3, 1942–1956, in: Werke, Bd. 23, Frankfurt/M. 1993, S. 192). Heutzutage beginnt man in den Proben – in der Brecht’schen Terminologie – gleich mit der »Hauptarbeit«, also mit dem Zusammenspiel der Akteure. Auf solche Weise entstehen während des gemeinsamen Probierens Wechselwirkungen und Beziehungen zwischen den Figuren, und die Entwicklung dieser Beziehungen wird von Probe zu Probe immer fortgeschrittener. Gerade in der Beobachtung dieses Fortschritts von Figurenbeziehungen bestand mein Ziel als Probenbeobachterin.

269Erika Summers-Effler: »Ritual Theory«, in: Jan E. Stets, Jonathan H. Turner (Hg.): Handbook of the Sociology of Emotions, New York 2007, S. 135–154, S. 138.

270Vgl. in Albert Newen, Alexandra Zinck: »Wir sind, was wir fühlen«, in: Gehirn und Geist, Nr. 6, 2008, S. 40–45, S. 42.

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