Theater der Zeit

Reportage

Fair bezahlt und arbeitslos?

Honoraruntergrenzen sollen auch in freien Produktionen gelten. Das führt zu Problemen an anderer Stelle

von Stefan Keim

Erschienen in: Theater der Zeit: Tarife & Theater – Warum wir das Theater brauchen (02/2023)

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Dossier: Tarife & Theater Comedia Theater

„GETTING UNSTUCK“ in der Regie von Manuel Moser am Comedia Theater Köln
„GETTING UNSTUCK“ in der Regie von Manuel Moser am Comedia Theater KölnFoto: Christopher Horne

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1.000 Euro Probengage, 110 Euro pro gespielte Vorstellung. Das ist kein ungewöhnlicher Verdienst in der freien Szene. Natürlich kann davon niemand leben. Also werden die Proben flexibel gehandhabt, damit die Schauspieler:innen noch andere Jobs machen können. Klassenzimmerstücke, Synchronarbeiten, vielleicht auch Kellnern oder Taxifahren, was immer den Kühlschrank füllt und die Miete bezahlt. Das soll sich nun ändern. Analog zur starken Erhöhung der Einstiegsgehälter an den Stadt- und Staatstheatern sollen auch die Verdienste in der freien Szene steigen. Der Bundesverband der freien darstellenden Künste fordert eine Honoraruntergrenze, die das Dreifache der oben genannten ­Gagen bedeuten würde. Niemand stellt infrage, dass diese Forderung gerecht ist. Und so entsteht ein Dilemma.

Das Kölner Comedia Theater besteht nun seit 40 Jahren, gerade ist die Förderung durch das Land Nordrhein-Westfalen verdoppelt und das Haus zum „Zentrum der Kultur für junges Publikum“ ernannt worden, für Köln und NRW. Dennoch feiert die Bühne ihr Jubiläum unter dem Titel „40 Jahre Niedriglohn“. Manuel Moser, der stellvertretende künstlerische Leiter, erläutert, dass es nicht nur um die Schauspieler:innen geht: „Ein großer Anteil unserer Mitarbeiter:innen steht kurz vor der Rente. Wer nach 40 Jahren Arbeit in der Comedia 1000 Euro im Monat bekommt, liegt schon im besseren Bereich.“

Von der Verdopplung der Zuschüsse kann Moser nicht einfach die Gagen und Gehälter erhöhen. Denn sie ist geknüpft an die Bedingung, mehr Theater für Kinder und Jugendliche zu zeigen. Für niedrige Eintrittspreise. Bisher gab es im Haus viel mehr Kabarettveranstaltungen, die Gewinne erzielt haben. Deren Anzahl musste nun halbiert werden, um mehr für junges Publikum zu spielen. „Wir suchen Drittmittel, machen Zusatzprojekte“, erläutert Moser. Immerhin gibt es eine positive Entwicklung. „Als ich 2019 als Schauspieler an der Comedia angefangen habe, gab es 80 Euro pro Vorstellung. Heute sind es 130 Euro.“ Von den Berechnungen des Bundesverbands der freien darstellenden Künste ist das immer noch weit entfernt.

Das sind die Zahlen, die erreicht werden sollen: Bei Festanstellungen – oder ähnlichen Beschäftigungen – soll eine Honoraruntergrenze von 3100 Euro im Monat gelten, für Leute, die nicht in der Künstlersozialkasse (KSK) versichert sind, 3600 Euro. Die Differenz ergibt sich daraus, dass die KSK einen großen Teil der Sozialabgaben übernimmt, die bei Fest­angestellten der Arbeitgeber trägt. Und insgesamt liegt die Untergrenze höher im Vergleich zu Anfänger:innen am Stadt­theater, weil freie Künstler:innen ein größeres Risiko haben, zwischendurch arbeitslos zu sein. Die Abendgagen lägen bei 310 oder 360 Euro (ohne KSK), das Probenhonorar bei 145 oder 160 Euro pro Tag.

Pure Fantasie? „Nein“, sagt Ulrike Seybold, die Geschäftsführerin des Verbands in NRW. „Natürlich kann das nur funktionieren, wenn Fördergeber bereit sind, mehr Geld zu bezahlen.“ Sie rechnet vor, dass die Kulturförderung um rund ein Drittel steigen müsste. „Für uns mögen 30 Prozent mehr viel klingen. Aber es ist immer noch sehr wenig im Vergleich zu den astronomischen Summen, die in andere Bereiche fließen. Da sollten wir selbstbewusst auftreten.“

Unterstützung bekommt sie von Gonca Türkeli-Dehnert, Staatssekretärin im NRW-Kulturministerium. Die Landesregierung hat angekündigt, den Kulturetat um die Hälfte zu erhöhen. Türkeli-Dehnert dämpft allerdings zu hohe Erwartungen: „Vielleicht hatte man damals andere Ideen, was man mit dem Geld machen könnte. Jetzt werden wir das Geld für die neuen Krisen verwenden müssen.“ Es gilt aber bereits jetzt: Wer vom Land Fördermittel bekommt, muss alle Mitarbeitenden anständig bezahlen. Die seit vielen Jahren praktizierte Selbstausbeutung ist zumindest in diesem Bereich Geschichte. „Das ist in NRW so“, bestätigt die Staatssekretärin. „Wir haben ein Kulturgesetzbuch, in dem das konkret drinsteht. Wir haben während der Pandemie gesehen, wie schlecht es vielen Künstlerinnen und Künstlern geht. Sie haben ein Einkommen, von dem sie nichts zurücklegen können. Also müssen wir Honoraruntergrenzen festlegen. Das können wir allerdings nur anregen und als Land mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn wir Projekte fördern, soll das gesamte Personal von dem Geld leben können. Das ist eine Selbstverpflichtung.“

Die Mindestgagen

Während der Pandemie hat das Land NRW ein Stipendienprogramm für freie Kulturschaffende aufgelegt. Einmal gab es 7.000 und zweimal 6.000 Euro, um die Krise zu überstehen. Das hat viele davor bewahrt, Hartz IV beantragen zu müssen. Allerdings wird es damit wohl nicht weitergehen. Entsprechenden Nachfragen weicht Gonca Türkeli-Dehnert aus. Die Honoraruntergrenzen bei den geförderten Projekten will sie allerdings bundesweit durchsetzen: „Wir haben jetzt eine Matrix in den Ländergremien vereinbart, die in allen Bundesländern angewendet werden soll.“ Wie hoch die Mindestgagen sein sollen, wird gerade verhandelt. „Wir richten uns nach diesen Empfehlungen.“ Die Politikerin weiß genau, dass die Kulturinstitutionen nicht einfach mehr bezahlen können. „Wir werden die Differenz bezahlen. Anders wird das nicht funktionieren.“ Wer keine Förderung bekommt, hat davon allerdings wenig. „Die müssen schauen, dass sie Geld finden, um das zu finanzieren.“

Droht da eine Zweiklassengesellschaft in der freien Szene? Auf der einen Seite gut geförderte Projekte oder Konzeptionen, von denen alle Beteiligten leben können? Und auf der anderen Seite kämpfen die Überlebensspezialist:innen weiter am Rande des Existenzminimums? Julia-Huda Nahas ist freie Regisseurin und Autorin, außerdem künstlerische Leiterin des Labels „Bitter (Sweet) Home“. Hier werden „neue Narrative mit antirassistischen Inhalten und Haltungen“ entwickelt. In einem „Writers’ Room“ konzipieren zum Beispiel sechs PoC-Autor:innen gemeinsam ein Stück.

„Ich will das nicht wahrhaben“, sagt Julia-Huda Nahas, „aber die Akquise nimmt mehr Zeit ein als die künstlerische Arbeit.“ Das ganze Jahr über stellt sie Anträge, holt viele Einzelförderungen rein, sichert so die Arbeit. Doch das ist keine Qualifikation, die von jedem erwartet werden kann. „Es ist vor allem eine Frage des Zugangs. Projektanträge so zu stellen, wie sie in Jurys erwartet werden, ist eine hoch diffizile Angelegenheit. Eine klassistisch geprägte Geschichte, weil man ja nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch die Antragslyrik beherrschen muss.“ Ein weiterer Aspekt ist die Zusammensetzung der Jurys: „Wer entschiedet denn, welche Qualität etwas hat?“ Gonca Türkeli-Dehnert bestätigt: „Es ist nicht Tagesgeschäft eines Künstlers, Anträge zu stellen. Da geht es um Digitalisierung, Nachhaltigkeit, damit sind kleinere Institutionen komplett überfordert. Dafür brauchen wir eine Struktur, die zentral helfen kann.“ Deshalb will das Land NRW verstärkt Beratungsangebote bereitstellen, um durch den Wust der Fördermöglichkeiten durchzusteigen.

Julia-Huda Nahas kann das gut. Sie zahlt ihren Schauspieler:innen 300 Euro pro Vorstellung und ist damit schon nahe dran an den geforderten Untergrenzen. Allerdings sagt sie: „Wenn ich unter gewissen Grenzen bezahle, wird das anders gewertet als bei anderen Kompagnien. Denn wir haben moralische Ziele. Deshalb ist der point of no return früher erreicht als woanders.“ Und nicht jeder versteht, dass sie die Künstler:innen besser bezahlt als andere Kompagnien: „Ich stehe unter Druck, das zu reduzieren. Manche Leute sind nicht bereit, die Gastspiele zu bezahlen, weil wir teuer sind.“

Die Konkurrenz ist groß, die Gefahr der gegenseitigen Kannibalisierung ebenfalls. Sollten Kunstschaffende Arbeit konsequent ablehnen, die zu schlecht bezahlt wird? „Ich sage regelmäßig Nein“, erklärt Julia-Huda Nahas, „kann mir das aber auch leisten. Ich verurteile absolut nicht solche Kolleg:innen, die das nicht tun. Es gab Zeiten, in denen ich Geld brauchte, um die Miete zu bezahlen. Es ist extrem schwierig, die Verantwortung auf die Künstler:innen abzuwälzen. Wenn wir Nein sagen, sind wir nicht mehr sichtbar. Und dann kriegen wir keine Folgeaufträge.“

Gerechtigkeit und Realität sind in der freien Szene noch weit voneinander entfernt. Das gilt besonders im Kinder- und Jugendtheater. Das Comedia Theater hat in diesem Jahr eine Inszenierung gestrichen, um bessere Gagen zahlen zu können. Das bedeutet aber auch: Das Angebot wird kleiner. „Eine Inszenierung weniger“, rechnet Manuel Moser vor, „bedeutet 5.000 Schü­ler:innen weniger. Das ist eine schlimme Entscheidung. Der Bedarf ist da, es gibt keinen Zuschauerschwund, die Schulen fragen nach Vorstellungen und Workshops. Hier sitzt die gesamte Gesellschaft im ­Theater. Das ist eine riesige Chance. Wir müssen Geld bekommen, um das Angebot zu erweitern. Es gibt so viele junge Menschen, die genau das brauchen.“

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