Thema
Haus der tausend Probebühnen
Das niederländisch-flämische Theaterkollektiv Wunderbaum entert das Theaterhaus Jena – „Thüringen? Kein Problem!“ lautet ihr Motto
von Paula Perschke
Erschienen in: Theater der Zeit: Feier des Absurden – Nürnbergs neuer Schauspielchef Jan Philipp Gloger (12/2018)
Assoziationen: Akteure Thüringen Wunderbaum Theaterhaus Jena

Seit seiner Gründung 1991 ist das Theaterhaus Jena ein einzigartiges Haus. Es zeichnet sich durch die Förderung unberechenbarer und polarisierender Künste aus und das von Anfang an unter kollektiven Leitungsstrukturen. Man könnte das Theater auch poetisch als Haus der tausend Probebühnen bezeichnen. Als 2016 eine neue künstlerische Leitung ausgeschrieben wurde, war der Andrang groß. Die Gesellschafter entschieden sich 2017 für das niederländischflämische Theaterkollektiv Wunderbaum.
Kollektive, wie sie sich üblicherweise in der freien Szene abseits eines Stadttheaters aufhalten, sind dafür bekannt, nicht nur kritische Fragen an einen Theatertext zu stellen, sondern auch, die Struktur der Theaterinstitutionen zu hinterfragen und an alten Traditionen zu rütteln. Das Theaterhaus Jena, welches das ständige Hinterfragen zur Methode gemacht hat, ist möglicherweise der richtige Ort für Wunderbaum. Denn auch sie kommen aus einer Region mit einer besonderen Theatergeschichte. Durch Künstler wie Johan Simons und Luk Perceval hat sich das Theater in Flandern und den Niederlanden zu einer modernen und vor allem lebendigen Szene entwickelt. Eine neue Generation junger Theatermacher wie Ilay den Boer, Dries Verhoeven, Boukje Schweigman und die Gruppe Tristero erwuchs und behauptete sich in einer Zeit, in der besonders in den Niederlanden Künstler unter radikalen Sparmaßnahmen zu leiden hatten. „Wenn die Regierung versagt, dann müssen wir es selbst machen!“, weiß Walter Bart, Schauspieler und neuer künstlerischer Leiter des Theaterhauses Jena. Und das ist auch die Grundidee der Inszenierung „Jena macht es selbst“, einer von zwei Eröffnungspremieren der neuen Spielzeit. Doch wer ist „wir“? Und in welcher Form wollen wir miteinander umgehen?
Um diesen Fragen nachzugehen, haben die Performer Walter Bart, Marleen Scholten, Matijs Jansen und der Musiker Jens Bouttery Bürger und Bürgerinnen aus Jena auf die Bühne geladen, damit sie davon berichten können, was sie alles selbst machen. Aber auch Anna, der heimliche Star des Abends, ist dabei. Anna ist körperlich beeinträchtigt, hat Konzentrationsschwierigkeiten und kann daher viele Dinge nicht allein. An diesem Abend gehört die Bühne ihr, in immer wiederkehrenden Solomomenten erzählt sie von sich selbst. Es ist berührend, ihr zuzuhören.
Bart, Jansen, Scholten und der Musiker Bouttery performen im Gegensatz zu diesen Experten des Alltags als überdrehte Moderatoren im Einheitslook: schwarze Fracks, weiße Hemden, verzottelte Perücken und übergroße Fake-Zähne. Sie erinnern an die Vermenschlichung von Bugs Bunny und seinen Looney Tunes, die ins Haus eingefallen sind und von nun an Blödsinn veranstalten. Auf der Bühne (Maarten van Otterdijk) stehen Instrumente und ein Glücksrad, ja, hier kann regelrecht am Rad gedreht werden. So entscheidet sich, welche Szene gespielt wird. Die Spannung steigt!
Gleich zu Beginn wird dem Publikum der „Tanz der Demokratie“ präsentiert. „In einer Choreografie von Sahra Wagenknecht!“, ruft Walter Bart – Lacher sind garantiert. Die Bürgerinnen und Bürger formieren sich und arbeiten sich an simplen Bewegungen ab. Dazu Live-Musik. Bein nach links, Bein nach rechts, Arm nach oben, einmal um sich selbst drehen und so weiter. Dann werden sie einzeln vorgestellt: Name und Beruf. Tosender Applaus, man kennt sich in der Kleinstadt, möglichweise sitzt der ganze Fanclub der Darsteller im Publikum. Schließlich werden zwei Personen scheinbar willkürlich aus den Zuschauerreihen gewählt. Einzige Kriterien: Wer hat einen festen Job, wer meistert das Leben in der Ich-AG? Die Auserwählten (Spoiler: Nur eine Person, eine Beamtin, ist zufällig da, die andere Person, ein Homepagedesigner und Musiker, ist Teil der Crew) dürfen nun durch den Abend führen und das Glücksrad (oder Schicksalsrad?) in Schwung bringen. Klingt chaotisch, ist es auch. Gut, dass schon zu Beginn der Show rohe Eier an das Publikum ausgeteilt wurden. „Dann wissen wir gleich, woran wir sind!“, freut sich Marleen Scholten – eine Schauspielerin mit beeindruckender Bühnenpräsenz. Es fällt schwer, den Blick von ihr abzuwenden, doch es passiert zu vieles gleichzeitig an diesem Abend.
Das Rad wird in Bewegung gesetzt, es folgen chaotische Szenen, punkige Songs werden gespielt, Eier geworfen, heikle Fragen direkt an das Publikum adressiert: „Wer von euch hat Geflüchtete zu Hause aufgenommen?“ Doch es gibt auch ruhige Momente wie jener, in dem das Rad auf dem Feld „Liberal Love“ stehen bleibt. Bart und Scholten halten inne, um einen Dialog (nach einem Text von Ayn Rand aus dem Roman „Atlas Shrugged“) über die Liebe zu führen, die niemals altruistisch sein kann. Spätestens jetzt ist klar, dass die beiden in ihrer übermotivierten Spielfreude schauspielerisch höchst wandelbar sind. Gleichzeitig lässt sich der Abgesang der romantischen Liebe auch als zeitgenössische Antwort auf den künstlerischen Umgang mit Gefühlen im Theater verstehen. Nach eineinhalb Stunden bunten Wirbelns auf der Bühne haben sich alle im Raum zumindest ein bisschen kennengelernt. Ein gemeinsames Schlusslied wird gesungen, die Band verstummt, das Publikum singt weiter und behält damit das letzte Wort. Gänsehaut! Hier wurde die Idee einer regierungsunabhängigen Gemeinschaft vorgestellt. Was können wir eigentlich selbst machen, und wie können wir gemeinsam erreichen, was uns wichtig ist? An diesem Abend geht es um das Kennenlernen und ums Zuhören. Sensibel sein füreinander. In seiner Knalligkeit schließlich ein zarter Abend.
Wunderbaum zeigen sich als Theaterschaffende, die ihr Handwerk verstehen. Sie arbeiten mit klassischen theatralen Effekten wie Täuschung (das Publikum kann sich oft nicht sicher sein, was inszeniert ist und was zufällig passiert), Nähe (Berührungsängste mit dem Publikum sind schlichtweg nicht vorhanden) und Überforderung. Das ist schön postdramatisch – sagenhaft, wie gut das in der Kleinstadt funktioniert. Man unterschätze nie das hochverehrte Publikum! Wunderbaum sind nicht nur virtuose Performer, sondern auch vielseitige Musiker, dabei wirken sie stets gut gelaunt. Ob sich diese Qualitäten auch in der Leitungsarbeit widerspiegeln? Zwischen Jux und Gaudi muss schließlich auch ein Haus geführt werden. Was Wunderbaum auszeichnet, ist die Miteinbeziehung nicht nur des Abendpublikums, sondern auch der Bewohner der Stadt und der Mitarbeiter im Haus. Hier sollen alle teilhaben können. Die Texte entstehen aus Recherchen und Improvisation, inszeniert wird gemeinsam. Aber auch ein neues Schauspielensemble ist dabei. Ein Megamix also zwischen partizipativem Theater und vom Kollektiv produzierten Stücken.
„Thüringen? Kein Problem!“ lautet das provokante Motto der neuen Spielzeit. Thematisch wird es um das Ankommen in einer neuen Heimat gehen, um Sprache, wie in der Produktion „Deutschkurs“, um politische Fragen, wie das Bereuen einer Wahlentscheidung in „Ich bereue“ und auch um Europa natürlich („Biertourist“) – man darf gespannt sein. Die Theaterstrukturen sind dabei möglichst transparent, das zeigt sich etwa, indem die Regieassistentin Susanne Frieling während der zweiten Premiere der Spielzeit, „Hallo Jena“, auf die Bühne kommt und das Publikum darauf hinweist, dass im Leitungsteam längst nicht alles Friede, Freude, Bratwurst ist. In Thüringen leben übrigens nur Walter Bart und Bühnenbildner Maarten Van Otterdijk. Das Theaterhaus versteht sich als eine von drei Zweigen des Wunderbaumes. Es wird zusätzlich Kooperationen mit dem Theater Rotterdam und dem mare culturale urbano in Mailand geben, Orte, an denen die übrigen Teammitglieder leben und arbeiten. Alles, was in Jena gezeigt wird, wird auch dort gespielt. Die Produktionen bis März sind zum Großteil schon vorproduziert. Ein ewiges Gastspielrad? Für die Eröffnungsabende „Jena macht es selbst“ und „Hallo Jena“ gab es jedenfalls mehrfach Standing Ovations. Momentan steht das Rad also auf „Voller Erfolg“. //