Theater der Zeit

Magazin

Sternenstaub und Atomisierung

BAM! Berliner Festival für aktuelles Musiktheater 2022

von Irene Lehmann

Erschienen in: Theater der Zeit: Frank Castorf – „Wallenstein“ in Dresden (06/2022)

Assoziationen: Musiktheater Theaterkritiken Berlin

Experimenteller Umgang mit Konventionen: „Dream Machine“ beim BAM!.
Experimenteller Umgang mit Konventionen: „Dream Machine“ beim BAM!.Foto: Thomas Rabsch

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Zersplitterte Discokugeln funkeln durch den Theaternebel in Anke Retzlaffs „Dream Machine“. Eine computerartig verzerrte Stimme versichert einer im Weltall verlorenen Performerin der Paranormal Φeer Group: „I’m sorry for your loss of signal.“

Das BAM!-Festival, das während der Pandemie selbst um seine Existenz fürchten musste, zeigt eine Momentaufnahme des noch-nicht-post-pandemischen Musiktheaters der freien Szene. Wie in den vorhergegangenen Ausgaben fängt es Tendenzen dieses vielgestaltigen Genres ein, in dem sich ein experimenteller Umgang mit Konventionen von Oper, Theater und Musik begegnen, die Neue Musik und Performancekunst einschließen. Um den Austausch europäischer Szenen zu fördern, waren dieses Jahr Künstler und Künstlerinnen aus der Schweiz zu Gast.

Die Wiederbegegnung mit dem Publikum wurde in einigen Produktionen wie in der des Ensembles Trisolde (einem Spin-­ Off des Musiktheaterkollektivs Hauen und ­Stechen) so intensiv wie immersiv zelebriert. Ein Ensemble, das jedes in Dämmerschlaf verfallene Theaterhaus (oder in diesem Fall das Kino Babylon) wieder mit vibrierender Energie füllen kann. Die überbordenden spielerischen Einfälle, die Opern- und popkulturelles Material mit tradierten Figuren des Schauspiels verbinden, darf dabei skizzenhaft bleiben, weil es innerhalb kürzester Zeit gelingt, die Sympathien des Publikums zu gewinnen.

Eine herausragende Entdeckung war in dieser Hinsicht das Ensemble von Anke Retzlaff, die mit einem Team von drei Musikern sich durch emotionale Extremzustände und den albtraumhaften Charakter der Pandemie spielte, sang und rappte. Ausgehend von der Situation eines erkrankten Elternteils und unterbrochener Reisemöglichkeiten erreichen die Hauptfigur des Stücks nur noch Anrufe mit schlechter werdenden Nachrichten. Die Isolation gebiert Albträume ohne Ausweg, Telefone, die sich durch das Auf­legen und Nichtantworten nicht zum Schweigen bringen lassen, unterdrückte und übersteigerte Angst- und Wutgefühle, die sich in dieser explosiven Bühnenperformance schließ­lich Bahn brechen. Dabei gelingt es, in einem polyrhythmischen Zusammenspiel von Sprache und Musik eines jener Gelenkstücke des experimentellen Musiktheaters zu finden, an dem Strukturen zwischen den Künsten übertragen werden, hin- und herspringen und oszillieren, und so eine Gleichzeitigkeit des Verschiedenartigen in der Schwebe gehalten wird.

Neben den überragenden Perfor­mer:in­nen des Festivals, denen dies gelingt (genannt sei hier unbedingt die lustige, beeindruckende Chloé Bieri), löste das Schweizer Collektif ­barbare die lange Zeit der Nichtbegegnung zwischen Performern und Publikum, indem es in seinem Stück „Revox. A Tale of Phantoms“ mittels binauraler Kopfhörer eine gespenstische Atmosphäre erzeugte. Durch räumlich-akustische Täuschungseffekte vermeinte ich mehrmals, tatsächlich die Erzählerin schnell hinter der liebevoll eingerichteten Bühne entlangstöckeln zu hören, um noch hier oder da eine Maschine in Gang zu setzen, oder tatsächlich jemanden im Publikum rascheln oder lachen zu hören. Auch hier gelang die Beziehung zwischen technischer Form und Erzählung, da sich das Gespensterhafte fortsetzte in der Suche eines fiktiven Filmgeräusche-Komponisten nach Momenten der Stille inmitten chaotischer Filmszenen, aber auch nach der Stimme seiner mysteriös verschwundenen Frau in seiner ungeheuren Tonbandsammlung. Die Tradition von geisterhaften Stimmen und Geräuschen aufgreifend, die in Phasen der Pandemie, als alle in einem stillen Zuhause saßen und auf die Geräusche und Nachrichten lauschten, selbst eine neue Blüte erlebten.

Erneut war ein großer Teil des Festivals an der Berliner Volksbühne verortet und hatte dieses Mal mit Herbert Fritsch auch eine der prägenden Figuren des postdramatischen (Musik-)Theaters an Bord. Auf ganz eigene Weise stand die Produktion „Une mystification“ („Les satyres sont mors“) des Berliner Kanadiers Glen Sheppard in Bezug zu dieser Tradition, sei es zu den verfallenden Atmosphären aus manchen Stücken Christoph Marthalers, oder den dandyhaft aus der Zeit gefallenen Figuren von Martin Wuttke oder Sophie Rois. Eine ähnliche, doch anders verortete Atmosphäre schuf Sheppard, in dessen Stück sich Claude Debussys Musik und Lyrik von Pierre Louÿs und anderen begegneten. Mit minimalen Gesten und umso intensiverem Ausdruck kreist das Stück um ein den Figuren selbst rätselhaftes Begehren, das zwischen den Geschlechtern umherirrt und sich nur seiner eigenen Sehnsucht gewiss ist.

Trotz der vielfältigen Weise, wie Künstler:innen des Festivals mit akustischen wie digitalen Mitteln experimentierten, neue Geräuschmaschinen entwickelten oder Ausflüge ins Filmische unternahmen, können sich entscheidende ästhetische Momente des experimentellen Musiktheaters nur in einem Raum mit Publikum verwirklichen. Die gute Nachricht ist, dass trotz manch (erzwungener) Tendenz zur Atomisierung das Signal noch nicht abgebrochen ist. //

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