Theater der Zeit

Protagonisten

Liebe und Protest

Das Theater Aachen überzeugt mit einem klugen und vielfältigen Spielplan – ein Hausporträt

von Martin Krumbholz

Erschienen in: Theater der Zeit: Playtime! – Der Theatermacher Herbert Fritsch (05/2017)

Assoziationen: Akteure Theater Aachen

Sie purzeln, rutschen, fallen, sausen über blassblaue Gummitreppenstufen hinunter, gewissermaßen der kleinen Stehlampe mit ihrer extralangen Strippe hinterher ins Off beziehungsweise in Richtung Abgrund. Mit der Lampenschnur hatte einer der scheinbar verrückten Physiker in Friedrich Dürrenmatts Parabel eine Krankenschwester erdrosselt, um seine Identität als Agent einer Supermacht zu tarnen. Doch regelmäßig kurz nach dem furiosen Absturz tauchen sie alle, ob Patient, ob Personal, keuchend, aber mit heilen Knochen oben auf der Treppe wieder auf. Und das Spiel beginnt von vorn. Es ist ein umgekehrter Sisyphus-Effekt, den Christian von Treskows Inszenierung der „Physiker“ am Aachener Theater erzielt, die Welt ist ein Irrenhaus und tanzt dem Abgrund entgegen, aber noch gelingt es ihr nicht, endgültig in ihm zu verschwinden. Er habe sich eher von Dürrenmatts grotesken Zeichnungen als vom Timbre des Textes inspirieren lassen, erklärt von Treskow im Programmheft, die Dialoge seien ja doch ein wenig betulich. Die Thesen des Stücks – die ihr Autor übrigens gar nicht als solche verstanden wissen wollte – sind zweifellos nach wie vor aktuell, nur die ästhetischen Mittel wecken, mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Entstehung, gewisse Zweifel. Die Theatermacher, das betont Generalintendant Michael Schmitz-Aufterbeck im Gespräch, sehen keinen Grund, auf politisch brisante Stoffe wie Dürrenmatts „Physiker“ – die Verantwortung des Einzelnen in einem ausweglos erscheinenden globalen Konflikt – zu verzichten, aber gleichzeitig unterziehen sie die Methoden, wie eben die der Parabel, einer Art Inventur. Nichts ist eindeutiger als eine Parabel, die man eins zu eins mit der jeweiligen Realität verrechnen kann. Daher eignen sich „Die Physiker“ so glänzend als Schulstoff – was wiederum glänzend verkaufte Vorstellungen garantiert. Kann man einen Gedanken, der einmal gedacht wurde, wieder zurücknehmen? Nein! Kann ein Einzelner, sei er noch so guten Willens, den Lauf der Welt ändern? Wiederum nein!

Mit solchen fatalistischen Lektionen mag sich ein Theater, das auf der Höhe der Zeit sein will, nicht mehr begnügen. Auch dann nicht, wenn die Lehrpläne aus didaktischen Gründen womöglich eine Konservierung des Altbekannten bevorzugen würden. Aber was ist die Alternative? Christian von Treskow setzt rigoros auf das Physische in den „Physikern“. Entfesseltes Körpertheater. Überzeichnete, grell geschminkte Figuren mit hochtoupierten Frisuren überschlagen sich buchstäblich in ihrem (vorgespiegelten) Irrsinn. Das ist spektakulär, doch am Ende ermüdet diese Fritschianisierung des Stoffs ein wenig. Und inwiefern die noch relevanten Botschaften des Textes den Filter der Ästhetik überstehen und bei den Schülern ankommen, wäre zu überprüfen.

Akrobatik und Emotion

Was bietet der Aachener Spielplan noch? Wer psychologischrealistisches Theater bevorzugt, ist mit Michael Helles Inszenierung des Arthur-Miller-Stücks „Alle meine Söhne“ gut bedient, gleich zwei Texte des Engländers David Greig („Monster“ und „Die Ereignisse“) liefern Diskussionsstoff, einen „Kirschgarten“ inklusive einer Patenschaftsaktion für bedrohtes Holz gibt es auch. Schmitz-Aufterbeck ist seit 2005 im Amt, nach einer jahrelangen Periode der Renovierung steht das Zweispartenhaus mit einem Budget von rund 20 Millionen Euro solide da. 160 000 Besucher kamen in der letzten Saison. Schmitz-Aufterbeck spricht kaum Nichtverlängerungen aus, trotzdem gelang es, das Ensemble, bestehend aus 18 Schauspielern, zu verjüngen. Besonders stolz sind der Intendant und die Chefdramaturgin Inge Zeppenfeld auf den Abend „Nicht mit uns!“, einen Streifzug durch eineinhalb Jahrhunderte „abendländischer Protestsonggeschichte“ – aus gegebenem Anlass. Ein solches Event lockt junges Publikum an, das aus freien Stücken kommt. Der Abend findet auf der großen Bühne statt, während eine „Iphigenie“ auch schon mal in den – der Konzentration dienlichen – Studio-Rahmen gesteckt wird.

In der Kammer, der kleineren Bühne im Haupthaus (160 Plätze), hat jüngst Jan Langenheim – wie von Treskow regelmäßiger Regiegast in Aachen – „Frühstück bei Tiffany“ inszeniert. Hier zeigt sich, wie gut das Ensemble tatsächlich funktioniert. Fünf Spieler, einige davon mit mehreren Rollen – und jede(r) in Hochform. Das meiste Gewicht liegt naturgemäß auf der weiblichen Hauptfigur Holly Golightly, der Audrey-Hepburn-Rolle: Anders als die Ikone der Verfilmung ist Lara Beckmann keine grazile und fragile Erscheinung, eher der handfest-burschikose Typ, aber an Charme fehlt es ihr nicht. Und darauf kommt es ja an. Besonders im Zusammenspiel mit dem männlichen Ich-Erzähler, den Benedikt Voellmy sensibel, hellwach und ohne irgendeinen faulen Zauber interpretiert.

Es geht in der Vorlage von Truman Capote ja ausgiebig um die Frage, welche der auftretenden Figuren nur ein „Fake“ ist und welche „echt“. Holly ist, wenn man so will, das Fake eines Filmstars und in Wahrheit eine (Gelegenheits-)Prostituierte, vielleicht aber auch das Fake einer Dirne und tatsächlich ein zukünftiger Star. Auch wenn es diese Zukunft im Buch, das kein Happy End hat, nicht geben wird. Vieles bleibt hier uneindeutig. Auch deswegen ist „Frühstück bei Tiffany“ ein so großartiges Buch, vor allem aber, weil es eine wunderbare Liebesgeschichte erzählt – Liebe ohne Sex. Auch so eine Liebe, heißt es, erzeuge Eifersucht. Daher die Konfliktlinien des Stoffs. Am Ende kann man von „Frühstück bei Tiffany“ mehr lernen als von den „Physikern“.

Jan Langenheim hat mit Anja Jungheinrich auch die Bühne entworfen: ein variables System aus verschiebbaren Fassaden, Wänden mit Fenstern, wenigen Möbeln – sie wirken wie die Fragmente eines Filmsets. Mit dem gleichnamigen Film von Blake Edwards hat der Abend ansonsten wenig zu tun, er hält sich präzise an das Buch (Capote fand den Film „zum Kotzen“). Langenheim gelingt es, epische Passagen, neben den Dialogen, zu verwenden, ohne dass dieser Aspekt überbetont wird. An Romanadaptionen nervt ja oft dieser epische (und zugleich didaktische) Gestus, als wohnte man einer Märchenstunde mit verteilten Rollen bei. Davon ist an diesem Abend in der Aachener Kammer nichts zu spüren. Die vielen Szenenwechsel geschehen reibungslos und beiläufig. Die Musik (Malcolm Kemp) spielt eine stützende Rolle.

Michael Schmitz-Aufterbeck und Inge Zeppenfeld haben recht: Zu einer klugen Spielplanpolitik gehört auch, zu wissen, welcher Stoff in welchem Rahmen, welcher Spielstätte am besten wirkt. Der intime Rahmen, die physische Nähe zu den Schauspielern, entspricht „Frühstück bei Tiffany“ ebenso wie die kühle Distanz der großen Bühne den Dürrenmatt‘schen „Physikern“. Der Nachteil der Letzteren ist, dass der emotionale Gehalt immer der nämliche bleibt. Die Zuschauer bestaunen gern die auf der Bühne exerzierte Akrobatik und Körperbeherrschung und versuchen am Ende (vielleicht), die politische Lehre herauszufiltern. „Tiffany“ dagegen ist pure Emotion und Sinnlichkeit.

Das signalisiert übrigens, versteckt, schon der Geniestreich des Titels. Selbstverständlich gibt es bei Tiffany kein Frühstück, es handelt sich ja um ein Juweliergeschäft. Der Besuch bei Tiffany & Co. ist Hollys Antidepressivum: ein Mittel gegen das „rote Elend“, das, wie sie erklärt, viel mehr ist als ein gewöhnlicher „Blues“. Die Geschichte, nicht zu vergessen, spielt mitten im Zweiten Weltkrieg; Hollys geliebter Bruder Fred wird fallen. Der junge Ich-Erzähler, ein angehender Schriftsteller, begreift das sofort. Und so, wie Lara Beckmann und Benedikt Voellmy das Paar – das kein „Paar“ ist – in Aachen spielen, versteht es der Zuschauer auch, ohne sich im Mindesten belehrt zu fühlen. //

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