thema II: theaterland baden-württemberg
Vernetzte Kulturen
Aalen, Baden-Baden, Ulm, Heilbronn – Eine Reise durch die baden-württembergische Theaterlandschaft
von Elisabeth Maier
Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)
Assoziationen: Baden-Württemberg Theater der Stadt Aalen Theater Ulm Theater Baden-Baden Theater Heilbronn
Die rote Regionalbahn hält selbst in den kleinsten Dörfern. Dann rollt der Zug durch beschauliche Landschaften mit Weinreben, Wald und historischen Burgen. Nach Aalen, Baden-Baden, Ulm und Heilbronn führt die Theaterreise. Also eine Tour durch die badenwürttembergische Provinz? Schon der Blick in die Spielpläne der vier so unterschiedlichen Häuser verrät, dass diese Kategorie reichlich verfehlt ist. Denn was die Stadttheater ihrem Publikum bieten, lässt auf einen weiten Horizont schließen. Und auf ein vielschichtiges, begeistertes Publikum, das hungrig ist auf eine lebendige Kultur, die künstlerische Debatten entfacht und politische Diskurse anstachelt.
Theater auf der Straße gehört in Aalen auf der Ostalb zum ästhetischen Konzept. Aus der Not, sich mit provisorischen Spielstätten begnügen zu müssen, macht eines der kleinsten Stadttheater Deutschlands eine Tugend. Beim soziokulturellen Projekt „Boulevard Ulmer Straße“ mischt die Bühne in Kooperation mit anderen Institutionen mit. In der „Gerücheküche“, einem ausgemusterten Bauwagen, servieren die Theatermacher Suppe zur Schauspielkunst. Anwohner des Gewerbegebiets, in dem das Theater im Bürogebäude WIZ seine Hauptspielstätte hat, kommen mittags um zwölf Uhr ebenso zum Essen wie Flüchtlinge oder Menschen, die in den Firmen arbeiten. Kurze Szenen, Lesungen und Lieder regen zum Austausch an. Sprachbarrieren überwinden die Künstler mit ästhetischen Formaten, die Menschen unterschiedlicher Kulturen verbinden.
Künstlerisch fordern Intendant Tonio Kleinknecht und seine Dramaturgin Tina Brüggemann ihr Publikum heraus. Ganz ohne verbale Sprache kommt die Stückentwicklung „Sprich oder stirb – Scheherazade ohne Worte“ aus. Doch die Körper der Schauspieler brennen und berichten vom Spiel um Macht zwischen Mann und Frau. Stark zeigt Bernd Tauber, wie die Macht des Mannes Zug um Zug bröckelt; während die Figur der jungen Frau, gespielt von Alice Katharina Schmidt, pausenlos „erzählt“, um ihr Leben zu retten. In Ruth Messings kluger Regie, deren Triebfeder quälende Langsamkeit ist, bleibt sie gefesselt in ein schreckliches Schweigen. Die Zuschauer halten den Drahtseilakt aus, den die Künstler da auf der Bühne wagen. Ein Theater ganz ohne Worte? „So was habe ich noch nicht erlebt“, schwärmt eine Zuschauerin im Hinausgehen. Der Abend hat sie sichtlich verblüfft.
Tonio Kleinknecht und sein Leitungsteam wollen auch wenig theatererfahrene Zuschauer vertraut machen mit neuen Sehweisen. Theater ohne Worte verstehen die Schwaben ebenso wie die Flüchtlinge aus aller Welt, die vor Krieg und Terror fliehen und jetzt in der Kreisstadt auf der Ostalb ihren Platz finden müssen. Neue Publikumsschichten für das Theater zu gewinnen, ist Kleinknechts großes Ziel. Und das Konzept des kommunikativen Intendanten, ganz nah dran zu sein am Publikum, geht auf. Um Senioren fürs Theater zu begeistern, setzt er sich auch selbst ans Steuer des theatereigenen Kleinbusses und holt Bewohner eines Seniorenheims vor der Vorstellung ab. Diese Nähe zur Stadt und zu ihren Menschen macht den Reiz des Hauses aus. Und auch ästhetisch weist die Strahlkraft der kleinen Bühne weit über Aalen hinaus – gerade mit dem Kinder- und Jugendtheater, das Winfried Tobias leitet. „Himmel und Hände“ von Carsten Brandau hat er zur Uraufführung gebracht. Damit gewann der Autor den renommierten Mülheimer Kinderstückepreis.
Lust auf Neues
Das Theater in Baden-Baden liegt alles andere als in einem Gewerbegebiet. Im 19. Jahrhundert ließ der Spielbankpächter Oskar Eduard Bénazet das Theater bauen – und zwar nach dem Vorbild der Pariser Oper. Ins mondäne Kur- und Kulturviertel der Stadt fügt sich der 1862 errichtete Theaterbau mit seiner Säulenarchitektur bestens ein. Eigens für die Eröffnung hat der große Komponist Hector Berlioz seine Oper „Béatrice et Bénédict“ komponiert. Die Lust, Neues zu wagen, treibt auch Intendantin Nicola May um. Obwohl die Bühne eigentlich ein reines Schauspieltheater ist, macht die erfahrene Kulturmanagerin in Kooperation mit dem benachbarten Festspielhaus auch innovative Opernprojekte möglich. Ein riesengroßes, blutrot pulsierendes Herz sprengt den Bühnenraum in „La tragédie de Carmen“. Komponist Marius Constant, Autor Jean-Claude Carrière und Theater-Altmeister Peter Brook lesen Georges Bizets Oper aus dem 19. Jahrhundert in dieser 1981 entstandenen Fassung vor dem Hintergrund heutiger Zeiterfahrung neu.
Carmen, die Außenseiterin, ist in der Interpretation von Regisseurin Sofia Simitzis eine Revolutionärin, die um Liebe kämpft. Das Nachwuchsensemble der Berliner Philharmoniker, ebenso leicht wie souverän dirigiert von Simon Rössler, erfasst den Geist der modernen Komposition, die virtuos mit Motiven der Oper spielt. „Jungen Künstlern ein Forum bieten, sie die Möglichkeiten des Theaters entdecken lassen“, will May in der Kurstadt, die bis heute Besucher aus aller Welt anzieht. Die Kooperation mit der Akademie Musiktheater heute der Deutsche Bank Stiftung macht solche Höhenflüge möglich. Das eher konservativ geprägte Publikum ist gefordert, sich auf neue, ungewohnte Sehweisen einzulassen. Heta Multanens Videokonzept für diese Inszenierung trifft ins Herz, zerrt starke Gefühle ins Brennglas der Kamera. Nach der Vorstellung wird heftig diskutiert, manche Zuschauer machen ihrem Ärger Luft. Darf man einen Klassiker so gegen den Strich bürsten? Debatten wie diese wünscht sich die Intendantin noch mehr.
Dennoch ist ihr Ansatz weit davon entfernt, das Publikum zu schocken. Sie will Jung und Alt neugierig machen, sich auf innovative Ästhetiken einzulassen. Doch das braucht Zeit und Geduld. Im klug ausbalancierten Spielplan sind neben dem Klassiker-Kanon auch Ur- und Erstaufführungen zu finden. Da wird die ebenso leidenschaftliche wie bestens vernetzte Dramaturgin May immer wieder fündig. Es liegt ihr am Herzen, das junge Publikum für Klassiker zu begeistern. Deshalb hat sie vor neun Jahren das Festivalformat „Fit fürs Abi in fünf Tagen“ kreiert. In Gastspielen zeigen Ensembles, wie sie literarische Abiturstoffe auf die Bühne bringen. Jungen Besuchern soll so Lust aufs Theater gemacht werden, sagt die Theaterchefin. Wild und laut soll es während der Festivaltage in dem Theatergebäude zugehen, das als eines der schönsten in Europa gilt. „Da geben die Schüler den Ton an, wir lassen uns mitreißen“, sagt May und lacht. Große Literatur, Workshops und Poetry Slam ziehen Jugendliche aus der ganzen Region an.
Theater, das Geschichten erzählt
Nur wenige Schritte vom Bahnhof entfernt liegt das Theater Ulm. In dem markanten Bau aus dem Jahr 1969 setzt der Theaterprinzipal Andreas von Studnitz mit seinem Team auf Neues und Bewährtes. Der Schauspieler und Regisseur versteht sich als Coach für sein junges Team, das ein feines Gespür für die Bedürfnisse des Publikums in der schwäbisch-behäbigen Münsterstadt mitbringt. Städtebaulich ist vieles im Wandel in Ulm, das am Ende der geplanten Schnellbahnstrecke für das Projekt Stuttgart 21 liegt. Überall wird gebaut und gegraben. Doch die Erwartungen des Publikums sind nach Ansicht der Theatermacher eher traditionell. „Die Zuschauer behutsam an Stoffe und Regiestile heranführen“, will die Chefdramaturgin Nilufar K. Münzing. Sie hat in München an der Bayerischen Theaterakademie studiert, lernt nun in Ulm die Arbeit jenseits der Zentren kennen. Die junge, temperamentvolle Künstlerin mit dem langen, schwarzen Haar liebt den Austausch mit dem Publikum. Im März hatte ihre erste Opernregie Premiere, Mozarts Spätwerk „La Clemenza di Tito“. Mit großen Bildern und feinem Gespür für die Psyche des altersmilden Herrschers ist der 35-Jährigen ein starker Abend geglückt. Die Opernsparte ist das Aushängeschild des Ulmer Theaters, das mehr als 800 Plätze fasst. Bei 120 000 Einwohnern und einem überschaubaren Einzugsgebiet rund um die Schwäbische Alb ist das viel. Dennoch: Die Zuschauerzahlen haben sich bei 70 Prozent eingependelt, was den Intendanten freut.
Der hochgewachsene Künstler Andreas von Studnitz mischt sich gern unters Publikum, hört genau zu, was die Menschen bewegt, was sie sich von der Kunst wünschen. Seine Vision ist „ein Theater, das Geschichten erzählt“. Da beweisen er und sein Team immer wieder Mut, etwa mit der deutschsprachigen Erstaufführung von Saphia Azzeddines Stück „Zorngebete“. Dramaturg Daniel Grünauer hat das Stück beim Theaterfestival in Avignon entdeckt. Die französische Autorin erzählt darin von einer Frau, die sich in der Männergesellschaft der Berber behaupten muss. Vergewaltigung und Prostitution gehören zum Alltag. Der Regisseurin Ute Rauwald gelingt ein Abend, der unter die Haut geht. Die junge Schauspielerin Sidonie von Krosigk schafft hier den Spagat zwischen einem inneren Monolog, der berührt, und dem unverstellten Blick auf eine Gesellschaft, die Frauen bewusst unterdrückt. In der schicken Theaterbar der Nebenspielstätte Podium diskutieren die Zuschauer im Anschluss noch lange mit den Theatermachern. Solche Gespräche liegen dem Ulmer Leitungsteam am Herzen. Sie wollen vermitteln, die Besucher nicht mit ihren Gedanken alleine lassen. „Das ist kein Stück über den IS“, sieht ein älterer Mann seine Erwartung nicht erfüllt. Doch der Abend helfe ihm, die Menschen aus muslimischen Ländern besser zu verstehen. Auch für Sidonie von Krosigk war es nicht einfach, sich in die Rolle der Frau hineinzudenken, die ihr Leben vor Allah zu rechtfertigen sucht. Die kluge Distanz, mit der sie auf das Leben der starken Frau blickt, macht die Faszination der Regiearbeit aus.
Im Aufbruch
Menschen aus mehr als 120 Nationen leben in Heilbronn, wie Ulm eine Stadt mit etwa 120 000 Einwohnern. Die will Intendant Axel Vornam mit seinem klug ausbalancierten Spielplan ins Theater locken. Dass das gelingt, zeigt sich in ständig wachsenden Zuschauerzahlen. Die multikulturelle Gesellschaft will Vornam spiegeln. „Politisches Theater prägt mein Konzept“, sagt der Intendant, der die Bühne seit 2007 leitet und seitdem in der Industriestadt Erfolgsgeschichten schreibt.
Mit Blick auf den gesellschaftlichen Wandel setzt der Theaterchef mit seinem Team auf Stoffe, die gerade die Migranten bewegen. Sinan Ünels großes Drama „Pera Palas“ ist eine Familiensaga, die türkische Geschichte wie in einem Brennglas detailgenau und anhand menschlicher Schicksale zeigt. Das Stück hat der türkische Autor 1995 geschrieben. Er spannt einen weiten Bogen von den Reformen Kemal Atatürks bis zum Erstarken eines neuen Nationalismus, der Erdogan immer mehr Macht verschafft. Jens Kerbels Regie ist auf die Menschen fokussiert, die ihre eigenen Geschichten erzählen. Diese Porträts berühren. Und sie geben auch dem deutschen Publikum Einblicke in den gewaltigen Umbruch, der sich gerade in der Türkei vollzieht.
Mit der Boxx in einem Nebengebäude des modernen Theaterbaus am Berliner Platz hat Intendant Vornam eine eigene Kinderund Jugendtheatersparte aufgebaut, die sich schon nach kurzer Zeit bestens etabliert hat. Mit dem kosovo-albanischen Autor Jeton Neziraj hat die Bühne das Stück „Windmühlen“ entwickelt. Da geht es um eine deutsche Familie, die in der fremden Kultur des Kosovo Fuß fassen will. Der Autor und Theatermacher Neziraj dreht die Perspektive einfach um. Mehrfach war der Künstler auch in Heilbronn zu Gast, um sich mit Kollegen auszutauschen, Theaterstrukturen kennenzulernen. „Unser Ziel ist es, in Prishtina ein Kinderund Jugendtheater zu etablieren“, sagt der Autor. Da hat er aus Heilbronn wichtige Anregungen mitgenommen. Und auch die Heilbronner Bühne profitiert von der internationalen Perspektive.
Axel Vornams politisches Theaterkonzept kommt beim Publikum an, doch die besten Auslastungszahlen, mehr als 90 Prozent, erreicht er im Komödienhaus. „Da machen wir einfach gute Komödienkunst“, sagt Chefregisseurin Uta Koschel. „Und das Publikum strömt.“ Der Regisseurin, die seit Jahren starkes Schauspielertheater in Heilbronn zeigt, erscheint dieser duale Ansatz am sinnvollsten. Mit internationalen Gastspielen aus Tanz- und Musiktheater sowie einem qualitativ starken Kabarettprogramm deckt das Haus quasi drei Sparten ab.
Weil die Besucherzahlen stimmen, sind auch Wagnisse wie jüngst Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ möglich. Das große, politische Drama des russischen Realisten liest Intendant Vornam in seiner Regie zeitlos, schafft aber doch aktuelle Bezüge. Die Ignoranz der Intellektuellen, die Menschen in die Arme des Populismus treibt, tritt da brillant zutage. Gewiss ist der Text sperrig, aber seine Qualität ist unbestritten. Bedeutende Stoffe wie diese setzt der Intendant mit einem lange gewachsenen Ensemble um, das er „wie ein Fußballtrainer“ führt. Die Lust seines Teams, Ungewohntes zu wagen, überträgt sich auch auf das Publikum in der aufstrebenden Stadt, die 2019 die Bundesgartenschau ausrichtet. Der Aufbruch ist überall zu spüren, und hat längst auch das Stadttheater gepackt. //