Das Publikum als kurzsichtiges Insekt
Das Ausnahmetheater von Julien Gosselin
von Eberhard Spreng
Erschienen in: Arbeitsbuch 2024: Werk-Stück II – Die neue Regie-Generation (07/2024)
Assoziationen: Akteure Julien Gosselin Volksbühne Berlin
Die durchschnittliche Aufführungsdauer der Inszenierungen, von denen in diesem Text die Rede ist, beträgt etwa fünf Stunden und 20 Minuten: Gesamtkunstwerke, Bildergewitter, opulente Soundscapes, Schauspiel zwischen klassischer Filmästhetik und realer Theaterpräsenz. Der Regisseur will allen postdramatischen, postheroischen und postmodernen Dekompositionsmoden zum Trotz noch einmal ins epische Erlebnis ausgreifen, das große Ganze historischer Epochen in den Blick rücken. Versuchen wir den Zugang vom Rand her, einer kleineren Arbeit und mit 105 Minuten die kürzeste in dieser Reihung. Sie kam beim Festival de Marseille im Frühsommer 2017 heraus.
Ausgehend von einem zeit- und zivilisationskritischen Essay von Aurélien Bellanger entwickelte der Regisseur, von dem hier die Rede sein wird, sein Europatriptychon mit dem Titel „1993“. Es geißelt ein technokratisches, neoliberales Europa, das Freiheiten in umfassenden Reglementierungen und administrativen Verhaltensdirektiven erstickt. Leitmetapher sind zwei Tunnelgebäude: Der Teilchenbeschleuniger CERN und der Eurotunnel unter dem Ärmelkanal, Beispiele für ein technologisches Fortschrittsdenken im Europa der 1990er Jahre. Die Worte kommen zunächst aus dem Off, dazu blitzen Lichter auf wie auf einer nächtlichen Autobahn oder wie Elementarteilchen in Teilchenbeschleunigern, pures Lichtspiel vor schwarzer Bühne.
Im „Erasmus“ genannten Finale zeigte sich dann das große Talent des Nachwuchsregisseurs Julien Gosselin: Eine Horde EU-Stipendiat:innen ist zu einer kokainbefeuerten Party zusammengekommen. Die...